Im Telefonbuch des Lebens geblättert
Zu den neuesten Ergebnissen der Genomforschung
Nach dem Vorsokratiker Herakleitos liebt es die Natur, sich zu verbergen. Aber am letzten Montag wurde ihr mit "pomp and circumstances" ein weiterer Schleier weggerissen: Zwischen den alten Rivalen der Genomforschung, der internationalen "Human Genome Organization" (Hugo) unter der Ägide von Francis S. Collins und der US-Firma Celera Genomics mit ihrem Leiter Craig Venter, kam es jetzt zum vorläufigen Showdown bei der Dechiffrierung des menschlichen Genoms. Simultan publizierten die Konkurrenten auf den Internetseiten zweier renommierter Wissenschaftsjournale - Hugo bei Nature und Celera bei Science - einen Teil ihrer Erbgutentschlüsselungen. Der Bauplan des Menschen sei damit angeblich entziffert.
Von der Medienwissenschaft des Biothrillers
Die Konkurrenten leiden seit längerem an einem verwirrenden Annäherungs-Vermeidungs-Verhalten, das sich vor allem auf die unterschiedlichen Interessen öffentlicher und privater Forschung zurückführen lässt. Noch vor zwei Jahren hatte Francis Collins dem "bad guy" des kommerziellen Projekts Venter reichlich "medi-zynisch" vorgeworfen, er würde eine Mad-Magazine-Version des Genoms vorlegen. Collins gilt als erfolgreicher Bedenkenträger, wenn es etwa um die Sauberkeit der Methoden und die Zuverlässigkeit der Ergebnisse bei "Celera" geht. Zwischenzeitlich hatten die Kontrahenten zwar scheinbar das Kriegsbeil begraben, man wollte gar gemeinschaftlich die Genomkarte publizieren, aber dieser Anflug von Harmonie scheiterte an Celeras restriktiven Publikationsbedingungen.
Helmut Blöcker von der Gesellschaft für Biotechnologische Forschung in Braunschweig hat denn auch gleich Celera mit dem Hinweis abgestraft, Craig Venters Schrotflintenverfahren hätte ohne die öffentlich zugänglichen Daten des Humangenomprojekts gar nichts erreicht. Plenus Venter non studet libenter? Selbstverständlich hat Venter das sofort unter Verweis auf fehlerhafte Daten des öffentlichen Forschungsprojekts dementiert. Venter bekümmert das also wenig, weiß er doch, dass wer zu spät kommt, nicht nur vom Leben, sondern auch von der Börse bestraft wird. Entsprechend obskur war die Publikationsstrategie, die den gemeinsamen Zeitpunkt von "Nature" und "Science", also die Vermählung von Natur und Wissenschaft, auf den 12. Februar festgelegt hatte. Doch einen Tag zuvor berichtete bereits der Londonder "Observer" über die geplante Veröffentlichung Venters. Das nährte sofort wieder die Spekulationen, Venter habe wie letztes Jahr seinen Vorsprung an Popularität manipuliert.
Im Blick auf die für ihn maßgeblichen shareholder values sparte Celera-Mastermind Chef Craig Venter dann auch nicht mit kühnen, wenngleich wohlfeilen Prophezeiungen: "Die ganze Biologie beginnt jetzt von vorne." Venters Ausblick auf ein neues Kapitel der Lebenswissenschaft hat sogleich die Aktien des Unternehmens um 7,9 Prozent steigen lassen. Der tiefgläubige und nicht minder charismatische Antipode Francis S. Collins vom National Human Genome Institute in Washington wurde gleichfalls pathetisch: "Wir haben den ersten Entwurf unseres eigenen Lebens-Buches und wir haben es Seite für Seite gelesen."
Demgemäß schickt "Nature" der Projektveröffentlichung nicht weniger als eine Menschenrechtserklärung voraus: "Das menschliche Genom birgt die fundamentale Einheit aller Mitglieder der menschlichen Familie sowie deren Würde und Vielfalt. Als Symbol ist es das Erbe der Menschheit". Auch wenn man solche Proklamationen gerne unterschreibt, schrumpft die Vielfalt der Menschen zumindest unter dem isolierten Aspekt des Genoms. Venter schreibt in Science, dass jeder Mensch 99,99 Prozent identische Erbanlagen mit anderen Menschen habe. Merkmale wie die Hautfarbe machen dabei so gut wie keinen Unterschied aus. Wo sich allerdings die menschliche Würde im Genom versteckt, dürfte im Übrigen auch auf den jetzt vorgelegten Genomkarten nicht verzeichnet sein.
Der kleine Unterschied zwischen Würmern und Menschen
Die Differenzen bei der konkurrierenden Genomlektüre der beiden Forschungsteams sind gering: Während das Human-Genom-Projekt 30.000 bis 40.000 menschliche Gene schätzt, geht Venter von 26.000 bis 39.000 aus. Das sind jedenfalls erheblich weniger als die zuvor vermuteten 100.000 bis 140.000 Gene. Es mag eine weitere narzisstische Kränkung des Menschen sein, dass sich laut Venter nur 300 davon deutlich von den Genen einer Maus unterscheiden lassen. Menschen besitzen selbst nicht viel mehr Gene als etwa ein Wurm mit 18.000 oder eine Fruchtfliege mit 17.000 Genen. Was den Mensch vom Wurme trennt, ist vor allem der Unterschied, dass die komplexer angelegten menschlichen Gene mehr Proteine produzieren als die niederer Tiere. Mehr als ein Drittel der DNS (35,3 Prozent) besteht laut Celera aus repetitiven Sequenzen, während "Hugo" von 45 Prozent ausgeht. Relevanter als diese Differenz erscheint aber der Umstand, dass dort die immer gleiche Abfolge von verschiedenen Bausteinen der Erbsubstanz wiederholt wird, ohne dass der Sinn dieses Vorgangs wirklich klar wäre. Weiterhin präsentiert die Topografie des Genoms "Wüsten", in denen keine oder nur sehr wenige und zudem selten abgelesene Gene liegen. Demgegenüber wurden "Hot Spots" gesichtet, die zahlreiche besonders aktive Gene enthalten.
Immerhin fiel bei der Genomlektüre eine Entscheidung über eine nun antiquierte Streitigkeit zur biologischen Determination des Menschen. Gleichsam als philosophisches Beiprodukt stellte Venter angesichts der geringen Anzahl von Genen fest, dass die These von der biologischen Bestimmung des Menschen obsolet geworden sei. Auch die erstaunliche genetische Nähe von Menschen und Tieren sollte Darwins Lehre von der Verwandtschaft der Arten selbst für solche Fundamentalisten, die Teufelswerk darin erkennen wollen, nachvollziehbarer machen. So sind 223 Gene des Menschen denen von Bakterien ähnlich, die vermutlich während der Evolution integriert wurden und bis heute erhalten geblieben sind.
Genomwissenschaft im Turbo-Modus
Der mediendramaturgisch inszenierte Wettlauf zwischen öffentlichen und privaten Forschern hat immerhin dazu geführt, dass das internationale Konsortium rund fünf Jahre früher als geplant seine Ergebnisse vorlegte, während Venter für Celera 1998 bereits großspurig angekündigt hatte, bis zum Jahr 2000 das Genom entschlüsselt zu haben. "Celera" steht für Geschwindigkeit, und der Selbstrechtfertigungsmechanismus des in der Vergangenheit oft angefeindeten Genomentschlüsselungsprogramms funktioniert umso besser, je schneller mit Ergebnissen aufgewartet werden kann, die zur effektiveren Therapie von Krankheiten führen könnte. In einer Zeit knapper Kassen wird jede Grundlagenwissenschaft nur akzeptabel, wenn ihr der Menschheitsnutzen auf dem Fuße folgt. Das tut er denn auch zumindest in den allfälligen Visionen der Turboforscher - getreu dem Wissen des Hippokrates, dass der beste Arzt der zu sein scheint, der sich auf Voraussicht versteht (Prognostikon). Denn der würde mit Recht bewundert werden. Nun funktioniert die Voraussicht - anders als zu den Zeiten des Hippokrates - nicht mehr ohne ihre permanente mediale Aufrüstung. Und so wird in der Mediendramaturgie beider Konkurrenten die Biorevolution als sequel mit immer neuen öffentlichkeitswirksamen Ergebnissen aufgeführt.
Unrichtig ist daher die Interpretation des Bioforschers Svante Pääbo im Max-Plank-Institut in Leipzig, der die Symbolwirkung der Genomtopografie mit den monolithischen Großereignissen der Mondlandung oder der Atombombe vergleicht. Zumindest die Öffentlichkeit wird mit dem Biokrimi im Spannungsfieber gehalten, während Insider der Biotechnik-Unternehmen - wie etwa Friedrich von Bohlen (Lion Bioscience AG Heidelberg) - keine Sensation erkennen können, weil ihnen längst klar ist, wie weit der Weg zu einer avancierten "Genmedizin" noch ist.
Deutsche Forscher gehen nämlich davon aus, dass neue Medikamente erst in zehn bis zwanzig Jahren zu erwarten seien. Aber wie das Wettrennen um die menschliche Erbinformation bereits eindrucksvoll demonstriert hat, sind auch solche Prognosen von begrenztem Aussagewert, wenn wissenschaftlicher Ruhm und bioaktive Börsenwerte winken.
Die erhofften Forschungsziele sind die Heilung von Erbkrankheiten und die Präzisierung der Diagnostik. Vor allem aber sollen individuell angepasste Medikamente hergestellt werden, die endlich das Problem lösen, dass ein und dasselbe Präparat im einen Fall oft fatale Nebenwirkungen auslöst, während es anderen Kranken effektiv hilft. Allerdings bleibt abzuwarten, ob eine individualisierte Medizin mit den Wirtschaftsinteressen der Pharmaindustrie korreliert, weil sich bisher regelmäßig gezeigt hat, dass der Zusammenhang von Forschungsaufwand, Produktentwicklung und Häufigkeit einer Erkrankung sich zum Nachteil solcher Patienten entwickelt, deren Gen- bzw. Körperschicksal sie an weniger prominenten Krankheiten leiden lässt.
So ist auch die öffentlichkeitswirksame Aussage des Leiters des Max-Planck-Instituts für Molekulare Genetik in Berlin Hans Gerlach mit Vorbehalt aufzunehmen: "In 20 Jahren werden Menschen länger und gesünder leben auf Grund der Informationen, die wir heute produzieren." Gilt das für alle Menschen oder sind schon bald in noch verschärfterer Form Krankenklassengesellschaften zu erwarten, die Menschen nach Genausstattung, Krankheitstypus und ökonomischer Potenz diskriminieren? Jedenfalls wird bereits jetzt die Gefahr gesehen, dass in Zukunft die genetische Konfiguration über die Höhe von Versicherungsprämien bis hin zur Arbeitsplatzvergabe entscheiden könnte.
Hektik in der Genompolitik
Die deutschen Genomforscher (Max-Planck-Institut für Molekulare Genetik Berlin, Institut für Molekulare Biotechnologie Jena, Gesellschaft für Biotechnologische Forschung Braunschweig) haben nur 1,5 % der Dechiffrierarbeit zum vorläufigen Forschungsergebnis beigesteuert.
Forschungsministerin Edelgard Bulmahn (SPD) hat indes die Philosophie im Genlabor als politisches Gebot der Stunde erkannt: Mit 870 Millionen Mark soll Deutschland in den nächsten drei Jahren an die Spitze der öffentlichen Genomforschung in Europa katapultiert werden. 350 Millionen Mark davon gehen in ein nationales Genomforschungsnetz, das noch in diesem Jahr aufgebaut werden soll und die bestehenden Ressourcen zusammenfassen soll. Aber vielleicht sind diese Anstrengungen schon bald Biomüll von gestern, wenn nach der Kartografierung bereits neue, ungleich intrikatere Aufgaben auf die Biowissenschaft warten.
Postgenomische Ära
Das vorgebliche Buch des Lebens wurde denn auch reichlich uneuphorisch mit einem Telefonbuch verglichen, das zwar die Telefonnummern, nicht aber die Namen der Teilnehmer präsentiere. Aber selbst wenn diese vorlägen, weiß man über die "Gesellschaft der Gene", ihr "Zusammenleben" wenig. Die Identität der Gensequenz während einer Lebenszeit vom Kind zum Greis sagt beispielsweise nichts über den Phänotyp. Nach der Entzifferung der Sequenzierung wartet jetzt die ungleich schwerere Aufgabe, den genetischen Text zu lesen. Aus Buchstaben werden Wörter, und aus Wörtern muss eine lesbare Syntax werden, die das eilfertige Lektüreparadigma von Venter und Collins vom Buch des Lebens in den Händen der Menschheit erst bewahrheiten würde.
Der Körperstoffwechsel wird von den Proteinen betrieben. Das Gen legt nur die Reihenfolge der Proteine, nicht aber ihre Struktur und Funktion fest. Die Sequenz der Erbgutbausteine ist mithin nur die Basis, um die Biochemie des Körpers zu verstehen. Hier steht mit der Proteomic eine neue Forschungsdisziplin auf dem Plan, die Interaktionen der Proteine in den Zellen zu analysieren. In der Welt der Proteine geht es also nicht mehr nur um die Primärinformation der Genomsequenz, sondern um die Frage, welche Proteine in welchen zeitlichen Zusammenhängen miteinander agieren.
Friedrich Lottspeich vom Max-Planck-Institut für Biochemie verweist auf äußere Einflüsse wie Kultur, Stress, Temperatur, Chemikalien, den aktuellen Stoffwechselzustand, aber auch Interaktionen mit anderen Menschen, die das vielfältige Handlungsszenario der Proteine beeinflussen. In dieser Vielzahl von Parametern versteckt sich nicht nur ein schwer auszulotendes Freiheitspotenzial des Menschen, sondern hier könnte sich die Biowissenschaft zu einer Super- oder Metadisziplin aufschwingen, die nicht länger von psychologischen, soziologischen und kulturwissenschaftlichen Betrachtungen zu trennen wäre. So wären nicht mehr nur die biochemischen Parameter im menschlichen Körper zu analysieren, sondern die Komplexität eines Organismus im Zusammenspiel aller inneren und äußeren Einflüsse zu verstehen.
Dieses postgenomische Wissenschaftsprogramm garantiert jedenfalls, dass die öffentliche Diskussion über Technologiefolgen und Risikoabschätzungen noch auf unabsehbare Zeit geführt werden darf. Mit dem von Bundeskanzler Schröder angekündigten Ethikrat, der in den nächsten Wochen schon einberufen werden soll, wird es dann auch nicht an der Begleitmusik fehlen, der "multimedialen Biowissenschaft" weiterhin die notwendige Aufmerksamkeit zu sichern. Ob mehr zum Nutzen der Menschheit oder eher doch zu Gunsten von Börsenkursen und Medienhype, das bleibt abzuwarten.