Im ZDF zur Meinungsfreiheit: Warnung vor dem langsamen Erstickungstod der Demokratie

Innenministerin Nancy Faeser. Bild: BerthasEnkel / CC BY-SA 4.0 Deed

Wehrhafte Demokratie? Oder eher ein neuer Staatsautoritarismus? Die Kritik an Innenministerin Faesers Maßnahmenpaket wird schärfer. Ein Kommentar.

Vor knapp einem Monat stellte Bundesinnenministerin Nancy Faeser, gemeinsam mit dem Präsidenten des Bundesamts für Verfassungsschutz, Thomas Haldenwang, und dem Präsidenten des Bundeskriminalamts, Holger Münch, ein neues Maßnahmenpaket zum Schutz der Demokratie vor.

Seither hagelt es Kritik. Dabei wird der Innenministerin debattentüchtig auf den Zahn gefühlt. Auch im ZDF. Dort kam am Sonntag, dem 10. März, in der Sendung "Berlin direkt" der Verfassungsrechtler Volker Boehme-Neßler zu Wort. Der Jurist, Lehrstuhlinhaber an der Universität Oldenburg, ging direkt an die Wurzel des Problems.

Die Essenz der Demokratie

Die Akteure, die im Namen des Schutzes der Demokratie für verstärkte Maßnahmen eintreten, haben "die Essenz der Demokratie nicht verstanden", hält ihnen Volker Boehme-Neßler vor, die bestehe in der Freiheit der Ideen.

Die Essenz der Demokratie ist, dass es ganz viele unterschiedliche Meinungen gibt, die alle gleich legitim sind, und diese Meinungen streiten sich. Und irgendwann wird abgestimmt und dann gibt es eine Entscheidung. Das ist der Punkt. Diese Freiheit der Ideen und der Wettkampf der Ideen – das ist die Essenz der Demokratie.

Volker Boehme-Neßler, Berlin direkt, ZDF

Was sich als selbstverständlich verstehen sollte, wird im neuen demokratischen Selbstverständnis, wie es von der Innenministerin in die Debatte gebracht wird, langsam unterhöhlt, so langsam, dass man es kaum bemerkt, meint der Verfassungsjurist.

Und wenn man sagt: "Na ja, das darfst du nicht mehr sagen, das darfst du nicht mehr sagen, und das ist die Delegitimierung und das ist zwar unterhalb der Strafbarkeitsgrenze aber trotzdem problematisch, dann sag‘s lieber auch nicht."

Da fängt man an, die Demokratie zu ersticken. Die Meinungsfreiheit wird stärker eingeschränkt und das erstickt so ganz allmählich die Demokratie. Und das ist gefährlich.

Wir müssen uns eins klarmachen. Die Demokratie stirbt nicht mit einem Knall. Die stirbt auch in Deutschland nicht mit einem Militärputsch. Die stirbt Zentimeter für Zentimeter für Zentimeter. Immer eine kleine Maßnahme und noch eine kleine Maßnahme und noch eine kleine Maßnahme. Dann dreht sich die Rechtslage ganz allmählich und dann dreht sich auch das Denken ganz allmählich und das ist brandgefährlich.

Volker Boehme-Neßler, Berlin direkt, ZDF

Demokratie: Das gewandelte Selbstverständnis

Man könnte dem freilich auch eine allmähliche Drehung des Denkens entgegenstellen, die von einer anderen Seite kommt. Die funktioniert über Sätze gegen demokratische Institutionen, gegen öffentlich-rechtliche Sender, gegen Zuwanderung, gegen die Aufarbeitung der programmatisch menschentötenden deutschen Vergangenheit im Nationalsozialismus, und schließlich gegen alles "linksgrünversiffte" in der gegenwärtigen deutschen Demokratie.

Sätze, die man aus den Reihen der AfD hört, von Neurechten und Rechtsextremen im Hinterland.

Auch diese Sätze verändern das Selbstverständnis in der deutschen Öffentlichkeit.

Das Innenministerium geht zu weit

Die Frage ist, wie man dem mit demokratischen Regeln entgegnet. Da geht das Innenministerium zu weit, zum Schaden der demokratischen Grundregeln, wie nicht nur Volker Boehme-Neßler warnt. Auch der Rechtswissenschaftler Josef Franz Lindner, der einen Lehrstuhl an der Universität Augsburg hat, kommt im ZDF-Beitrag mit kritischen Äußerungen zu Wort.

So fragt er angesichts des "schwammigen Begriffs" der "Delegitimierung des Staates", eingeführt im Verfassungsschutzbericht 2021, danach, ob denn einfach davon auszugehen ist, ob der Staat dafür die Deutungshoheit beanspruchen kann?

Auf dem Debattenforum X (früher Twitter) erhärtet Josef Franz Lindner seine Zweifel am Vorgehen des Innenministeriums noch mit einer Referenz an einen Artikel des Strafverteidigers Gerhard Strate:

Die jüngsten Forderungen von Paus, Faeser u. Haldenwang zur Beschränkung d. Meinungsfreiheit in Deutschland treiben jedem "Anhänger des Rechtsstaats die Schweißperlen auf die Stirn". So der wohl bekannteste deutsche Strafverteidiger Gerhard Strate. Recht hat er!

Josef Franz Lindner

Was erlaubt ist

Aufklärung tut jedenfalls not. Die Beschränkung der Meinungsfreiheit aufgrund des Tatbestandes der "Verhöhnung des Staates", wie sie der erwähnte ZDF-Beitrag den Zusehern mit Leuchtstift markiert aus dem Verfassungsschutzbericht von 2021 als Kriterium für die "Delegitimierung des Staates" vor Augen stellt, ist übergriffig.

Das erklärt Volker Boehme-Neßler in einem aktuellen Meinungsbeitrag für die SVZ:

Das widerspricht dem rechtsstaatlichen und demokratischen Geist der Verfassung völlig. Selbstverständlich erlaubt es die Meinungsfreiheit des Grundgesetzes, den Staat zu verhöhnen. Sie schützt sogar verfassungswidrige Meinungen. Das hält der demokratische Staat aus.

Und auch Ministerin Paus liegt völlig falsch. Natürlich ist alles unterhalb der Strafbarkeitsgrenze erlaubt – und durch das Grundgesetz geschützt. Das Bundesverfassungsgericht bringt es in altmodischem Verfassungsdeutsch auf den Punkt: Die Meinungsfreiheit sei "schlechthin konstituierend" für eine freiheitlich-demokratische Staatsordnung. Kurz: Ohne Meinungsfreiheit keine Demokratie.

Volker Boehme-Neßler, SVZ

So kommt es, wenn es um den Geist der gegenwärtigen Demokratie geht, nicht von ungefähr, dass das Diktum des Staats- und Verwaltungsrechtlers Ernst-Wolfgang Böckenförde wieder neu in die Debatte gebracht wird, zuletzt vom Philosophie-Magazin.

Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann. Das ist das große Wagnis, das er, um der Freiheit willen, eingegangen ist. Als freiheitlicher Staat kann er einerseits nur bestehen, wenn sich die Freiheit, die er seinen Bürgern gewährt, von innen her, aus der moralischen Substanz des einzelnen und der Homogenität der Gesellschaft, reguliert.

Anderseits kann er diese inneren Regulierungskräfte nicht von sich aus, das heißt mit den Mitteln des Rechtszwanges und autoritativen Gebots zu garantieren suchen, ohne seine Freiheitlichkeit aufzugeben und – auf säkularisierter Ebene – in jenen Totalitätsanspruch zurückzufallen, aus dem er in den konfessionellen Bürgerkriegen herausgeführt hat.

Ernst-Wolfgang Böckenförde

"Lebt jetzt (...) der freiheitliche, säkularisierte Staat von Voraussetzungen, die er gefälligst selbst zu garantieren, geheimdienstlich ins Visier zu nehmen hat?", fragte die FAZ kürzlich.

Mentalitätswandel zu mehr Demokratietüchtigkeit

Vielleicht wäre ein Mentalitätswandel zu einer verstärkten Demokratietüchtigkeit vorrangig gegenüber der Forderung nach mehr Kriegstüchtigkeit. Die Debattenkultur könnte das gut gebrauchen.

Nicht nur bei den alten Griechen, den sogenannten Erfindern der Demokratie, maß man der Sprache große politische Wirkung bei.

Ein gut fundierte, mit vielen Wassern gewaschene politische Kompetenz, die Schablonen, Lagern, Gruppendenken und Autoritäten gegenüber kritisch bleibt und sich genau hinzuschauen traut, wäre schon mal eine gute Abwehr gegen autoritäre Systeme, womit im rechten politischen Spektrum geliebäugelt wird.

Darüber braucht man sich keine Illusionen zu machen.