zurück zum Artikel

In Deutschland sterben die Leut' aus...

...und die Volksvertreter schlafen vor sich hin. Eine Demokratie haben wir schon lange nicht mehr - Teil 24

Die Bevölkerung schrumpft, und die Menschen werden immer älter. Die ganze Gesellschaft altert. Bald gibt es viel mehr alte als junge Menschen, bald mehr Rentner als Erwerbstätige. Die Politik in allen Industrienationen muss sich eingehend damit beschäftigen, was da an vielfältigen Problemen auf Staat, Gesellschaft und Bevölkerung zukommt. Damit hätte sie schon vor Jahrzehnten anfangen müssen. Hat sie aber nicht. Das rächt sich. Sie kann zwar gegenüber der Unzahl an Problemen einfach weiter die Augen verschließen. Doch dann rollt die Entwicklung auch so über sie hinweg. Die Politik des Wurschtelns in entwickelten repräsentativen Demokratien kann fundamentale Herausforderungen nicht bewältigen. Dem stehen die machtvollen Eigeninteressen der Repräsentanten entgegen. Die haben anderes im Kopf. Ihr Horizont reicht von einer zur nächsten Wahl. Das halten sie für strategische Weitsicht.

Teil 23: Zu Tode erstarrt im Netz der ewigen Neinsager [1]

Die wohl größte Herausforderung aller entwickelten Gesellschaften ist das, was so harmlos als "demografischer Wandel" daherkommt: Die Bevölkerung schrumpft rapide, die Menschen werden immer älter. Bald gibt es viel mehr alte als junge Menschen, bald mehr Rentner als Erwerbstätige.

Das hat weitreichende Folgen für das Leben eines jeden Einzelnen und für die Gesellschaft als Ganze. Die Politik in allen Industrienationen muss sich eingehend damit beschäftigen, was da an vielfältigen Problemen auf Staat, Gesellschaft und Bevölkerung zukommt.

Damit hätte sie schon vor Jahrzehnten anfangen müssen. Hat sie aber nicht. Das rächt sich. Sie kann zwar gegenüber der Unzahl an Problemen einfach weiter die Augen verschließen. Doch dann rollt die Entwicklung auch so über sie hinweg.

Der demografische Wandel ist nicht bloß ein fashionabler Gesprächsstoff, über den man auf Partys neunmalklug smalltalken kann. Und er ist auch nicht einfach nur eines von mehreren möglichen Zukunftsszenarien. Er ist eine unverrückbare Tatsache. Die wesentlichen Eckpunkte der Entwicklung sind längst festgeschrieben und können auch nicht mehr zurückgedreht werden. Er rollt auf alle Industriegesellschaften zu - ob sie nun darauf vorbereitet sind oder nicht.

Die alles entscheidende Frage ist: Werden die demokratischen Gesellschaften mit den immensen Problemen besser oder schlechter fertig? Werden Sie überhaupt damit fertig? Und sind sie wenigstens dazu bereit, sich damit auseinanderzusetzen?

Die Fakten: Deutschland hat 81,89 Millionen Einwohner. Schon heute ist fast jeder Vierte über 60 Jahre alt. Die Bevölkerung altert und schrumpft rasant. Würden die Grenzen heute geschlossen, gäbe es 2050 nur noch 58 Millionen Einwohner in Deutschland. 40 Prozent von ihnen wären über 60. Der Zeitpunkt ist nicht mehr allzu fern, an dem die Mehrheit der Bevölkerung älter als 60 Jahre ist.

Seit den 1970er Jahren bringen die Frauen in Deutschland nicht mehr genügend Kinder zur Welt, um die Elterngeneration zu ersetzen. Erstmals 1973 starben in der Bundesrepublik mehr Menschen als im selben Jahr geboren wurden.

Seither sinkt die Bevölkerungszahl beständig. Wenn es so weiter geht, dann werden schon 2050 nur noch halb so viele Menschen in Deutschland geboren, wie jährlich sterben. Und es gibt so gut wie keine Möglichkeit, etwas daran zu ändern, dass es so weiter geht.

Während in der Müttergeneration der jungen Frauen von heute nur jede Zehnte kinderlos blieb, bleibt heute schon jede dritte Frau kinderlos. Bei den Akademikerinnen bleiben sogar 40 Prozent ihr Leben lang kinderlos. Für eine Umkehr dieses Trends ist es längst viel zu spät.

Deutschland verliert bis 2030 ein Sechstel seiner Einwohner, die Bevölkerungszahl schrumpft in weniger als 20 Jahren von 82 auf 68 Millionen. Unausweichlich. Egal, was sonst geschieht. Das ist nicht mehr aufzuhalten und schon gar nicht umzukehren.

● Um die Bevölkerung in einem Land konstant zu halten, müsste jede Frau in ihrem Leben im Schnitt 2,1 Kinder zur Welt bringen. Sie ersetzt damit sich selbst und ihren Partner. Hinzu kommt noch eine "Sicherheitsreserve" für Kinder, die sich später selbst nicht fortpflanzen oder vorher sterben. Das letzte Jahr, in dem dieser Wert in Deutschland erreicht wurde, war 1970. Ihren höchsten Wert seit dem zweiten Weltkrieg erreichte die Fruchtbarkeit der Frauen 1964 mit durchschnittlich 2,54 Kindern. Danach sank die Kinderzahl nur noch. Die Antibabypille begann zu wirken.

Durch den Geburtenrückgang verliert Deutschland in jeder Generation ein Drittel der Bevölkerung. Bis 2050 wird sich die Zahl der 20-Jährigen fast halbieren, der Anteil der Menschen im aktiven Alter zwischen 20 und 60 Jahren wird auf etwa 40 Prozent sinken. Selbst wenn die Geburtenrate in den nächsten 20 Jahren wieder von 1,6 (heute)1 [2] auf 2,0 Kinder pro Frau anstiege - was sehr unwahrscheinlich ist -, würde es bis 2080 dauern, bevor die Zahl der Geburten- und Todesfälle wenigstens wieder gleich hoch wäre.2 [3]

Noch verschleiert Zuwanderung die volle Dramatik des Schwunds. In den letzten 50 Jahren kamen im Schnitt jährlich 253.000 Zuwanderer mehr ins Land, als Abwanderer es verließen - nur deshalb ist Deutschlands Einwohnerzahl bis dato noch nicht geschrumpft, sondern sogar leicht gewachsen.

Auch Maßnahmen, die wieder zu einer höheren Geburtenrate führen würden, könnten nur bewirken, dass eine Umkehr erst nach Jahrzehnten eintritt. Da aber bisher keine dieser Maßnahmen auch nur in die Wege geleitet wurden, geht es weiter abwärts wie bisher. Unausweichlich, unvermeidlich und unaufhaltsam.

Die Geburtenziffern sinken in allen Industriestaaten - in Deutschland seit dem Ende des 19. Jahrhunderts. Damals brachten Frauen durchschnittlich 4,6 Kinder zur Welt. Bereits 1915 war das Geburtenniveau auf 2,9 Kinder je Frau gefallen. Für Bevölkerungswachstum reichte das allemal aus. Erst mit der Erfindung der empfängnisverhütenden Pille stürzte die Geburtenziffer steil ab.

Über 200 Milliarden Euro mal eben in den Sand gesetzt

An fehlender Förderung kann das nicht liegen: Dank Kindergeld, Elterngeld, Erziehungsprämie, Steuervorteilen und Anrechnung der Erziehungszeiten in der Rente geht es deutschen Eltern vergleichsweise gut. Im Umkehrschluss bedeutet das auch: Selbst mit groß angelegten Sozialprogrammen und massiven Steuererleichterungen ist der Bevölkerungsrückgang nicht zu bremsen.

Vier Jahre lang ließ das Bundesfamilienministerium rund 100 Wissenschaftler an einer Studie arbeiten, die den höheren Nutzen der deutschen Familienförderung akribisch untersuchte. Deutschland gibt dafür so viel Geld wie kaum ein anderes Land aus. Die rund 150 verschiedenen Zuschüsse - darunter Elterngeld, Kindergeld oder Steuerfreibeträge - lässt sich der Staat über 200 Milliarden Euro kosten. Jeden Euro stellten die Wissenschaftler auf den Prüfstand. Fazit: Der Nutzen ist gleich null.

Doch was noch viel schlimmer ist: Drei Viertel aller Leistungen sind gesetzlich so festgezurrt, dass sie nicht verändert werden könnten. Auch fallen beispielsweise Witwenrenten für Staatsdiener unter die Regelungen, wenngleich sie mit Familienpolitik wenig zu tun haben. Zugleich sind Leistungen wie das Kindergeld und das Ehegattensplitting bei den Empfängern äußerst beliebt. Man kann sie aus politischen Gründen nicht einfach abschaffen, auch wenn sie nichts taugen, heißt es in der Studie selbst.

Das sollte man sich schon einmal auf der Zunge zergehen lassen: Der Staat verpulvert über 200 Milliarden Euro und stellt in einer von ihm selbst in Auftrag gegebenen Studie fest, dass die verpulvert sind. Schon das ein Skandal. Doch dann sagt er auch noch: Kann man nix machen. Die Leute haben sich an den Geldsegen gewöhnt. Den kann man jetzt nicht einfach abstellen. So funktioniert verantwortungsvolle Politik.

● Nur um die ohnehin schon stark gealterte Bevölkerung bis 2050 wenigstens konstant zu halten, bräuchte Deutschland nach einer Studie der Vereinten Nationen eine jährliche Nettozuwanderung von mindestens 344.000 Menschen. Damit wäre aber nur erreicht, dass die Bevölkerung nicht weiter schrumpft. Sonst gar nichts.

● Um auch die Wirtschaftskraft des Landes dauerhaft auf dem bestehenden Niveau zu erhalten und die Zahl der 15- bis 64-Jährigen, also der Rentenzahler, wenigstens konstant zu halten, müssten jährlich 458.000 Zuwanderer nach Deutschland kommen - also rund eine halbe Million. Diese Einsicht scheint nun allmählich - wenn auch mit ungebührlicher Verspätung - der Bundesregierung zu dämmern, wenn auch noch nicht abzusehen ist, welche Konsequenzen sie daraus ziehen wird oder ob sie überhaupt eine einzige Konsequenz daraus ableiten wird.

Nach dem Demografiebericht 2011 der Bundesregierung ist jedenfalls damit zu rechnen, dass die Zahl der Menschen im erwerbsfähigen Alter von heute rund 50 Millionen bis 2050 auf fast die Hälfte sinkt: auf 26,5 Millionen. Ohne wesentlich höhere Einwanderung droht in Deutschland ein dramatischer Rückgang an Arbeitskräften und damit Rentenzahlern; denn selbst wenn von 2020 an jährlich 200.000 Menschen nach Deutschland zögen, würde die Zahl der Erwerbsfähigen bis 2050 auf 39 Millionen sinken. Um das Beschäftigungspotenzial auf dem Stand von 2004 zu halten, sind nach dem Bericht jährlich 500.000 Zuwanderer nötig.

● Mit anderen Worten: Nur um die Zahl der Erwerbstätigen in Deutschland auf der Höhe zu halten, auf der sie sich jetzt befindet, müssten ab sofort jedes Jahr 500.000 Einwanderer nach Deutschland kommen. Die kommen aber nicht. Und es fragt sich, ob die Bundesregierung nun ihrer eigenen Einsicht folgt und die Zuwanderung gezielt und systematisch fördert. Bislang gibt es dafür keinerlei Zeichen; denn die Politiker aller Richtungen tönen noch immer, Deutschland sei kein Einwanderungsland.

Ab 2015 verliert die deutsche Wirtschaft jedes Jahr rund 250.000 Mitarbeiter, und Deutschland droht ein massiver Fachkräftemangel. Dann fehlen aber bereits drei Millionen Arbeitskräfte am Markt. Ohne Zuwanderung wird der Wohlstand sinken, und die Lebensarbeitszeit müsste auf mindestens 70 Jahre verlängert werden.

Da die Lage in den meisten europäischen Ländern ähnlich ist, kann man mit einer Zuwanderung aus Europa kaum rechnen. Das Gros der Zuwanderer müsste von weiter her kommen. Und allein bei dem Gedanken stehen jedem ordentlichen Fremdenfeind und Rassisten schon heute die Haare zu Berge…

● Um den Altenquotient auf demselben Niveau wie heute zu halten - also das Verhältnis der Anzahl älterer Menschen zur Anzahl jüngerer Menschen - wären sogar über drei Millionen Zuwanderer pro Jahr nötig. Dann allerdings müsste die deutsche Bevölkerung bis 2050 auf 300 Millionen Menschen wachsen, von denen dann bereits die meisten, 80 Prozent, Zuwanderer oder Nachkommen von Zuwanderern wären.

Diese Rechenbeispiele zeigen das Ausmaß der Herausforderung, die Deutschland schon in Kürze bewältigen muss: Nur um die Altersstruktur des Landes auf dem gleichen Niveau wie heute zu halten und dafür zu sorgen, dass in einem halben Jahrhundert den Heerscharen von Rentnern genauso viele Erwerbsfähige gegenüberstehen wie heute, wäre eine Zuwanderung in astronomischen Dimensionen vonnöten. In Deutschland müsste der Immigrantenüberschuss jedes Jahr netto 3,63 Millionen Zuwanderer betragen. Doch dann läge der Ausländeranteil in 50 Jahren nicht mehr bei 9, sondern bei 80 Prozent.

Das sind zwar Zahlenspielereien, aber leider keine lustigen. Denn diese geradezu absurd hohen Zahlen zeigen eines ganz klar: Das kann und wird so nicht gehen. Deutschland braucht zwar dringend Zuwanderung junger qualifizierter Arbeitskräfte. Und es besteht auch kein Zweifel, dass Zuwanderung helfen kann, die Rentensysteme zu stabilisieren. Aber sie wird das niemals in dem Maße leisten können, das zu einer vollständigen Abwendung des Alterungsprozesses nötig wäre. Man wäre ja schon froh, wenn wenigstens das Minimum einer geordneten, durchdachten und organisierten Einwanderung möglich wäre. Aber selbst das haben die demokratischen Politiker mit ihren billigen Wahlkampfparolen verbockt.

Das Renten- und Gesundheitssystem hält dem Druck des demografischen Wandels schon heute nicht mehr stand; denn die Sozialversicherungen sind umlagefinanziert und für eine stabile Bevölkerung und Altersstruktur ausgelegt. Doch die Bevölkerung hält sich nicht an die Erfordernisse der Sozialversicherungen und ist instabil. Und die demografischen Herausforderungen der Zukunft betreffen längst nicht mehr nur die längerfristige Funktionsfähigkeit der umlagefinanzierten sozialen Sicherungssysteme. Sie werden die gesamte gesellschaftliche, kulturelle und ökonomische Realität ebenso wie den konkreten Lebensalltag jedes Einzelnen einschneidend verändern.

Das Wachstum der Bevölkerung hängt von drei Faktoren ab: (1) der Zahl der Geburten, (2) der Lebenserwartung und (3) dem Saldo zwischen Zu- und Abwanderung.

Die Möglichkeiten des Staats, darauf Einfluss zunehmen, sind begrenzt. Auf die Lebenserwartung der Menschen hat er keinen Einfluss. Sie hängt von der Lebensweise der Leute und vom medizinischen Fortschritt ab. Würde etwa der Krebs in den nächsten Jahrzehnten vollständig besiegt, könnte sich die durchschnittliche Lebensdauer um bis zu fünf Jahren verlängern. So absurd das klingen mag, aber im Hinblick auf die demografische Entwicklung der nächsten Jahrzehnte käme das einer Katastrophe gleich.

Ob die Gebärfreudigkeit mit familienfreundlichen Maßnahmen wie Elterngeld, besserer Kinderbetreuung oder günstigeren Arbeitsbedingungen für Eltern erhöht werden kann, ist inzwischen nicht einmal mehr zweifelhaft. Es gibt keine Hinweise darauf, dass Familienpolitik die Geburtenentwicklung beeinflussen kann. Das Elterngeld hat sich in Deutschland auf jeden Fall nicht positiv ausgewirkt. Die Zahl der Geburten sank trotz Elterngeld unverdrossen weiter.

Mit Fremdenfeindlichkeit ist eine geordnete Zuwanderung nicht zu kriegen

Wirklich beeinflussen kann die Politik nur den Zuzug von Ausländern. Sonst so gut wie nichts. Er ist das einzige Instrument, das der Politik überhaupt zur Verfügung steht, um den demografischen Wandel zu beeinflussen. Deshalb ist es so wichtig, dass gegen eine Zuwanderung nicht fremdenfeindliche Stimmung gemacht wird, sondern die pragmatische Suche nach Lösungen - wenn auch mit Verspätung - beginnt.

Da unter den drei demografischen Größen allein die Zuwanderung am nachhaltigsten und leichtesten beeinflussbar ist, sollte man meinen, dass die Politiker aller Couleurs dieses Instrument im Vollbewusstsein ihrer hohen Verantwortung virtuos einsetzen, um die Zukunft dieses Landes proaktiv zu gestalten.

Doch weit gefehlt. Sie lehnen es ab, sich damit auch nur zu beschäftigen. Sie pflegen stattdessen eine dumpfe Ignoranz. Dabei könnte Zuwanderung sowieso nicht viel mehr als eine Hilfe bieten, die Belastungsspitzen für kommende Generationen zu brechen - mehr aber auch nicht.

Für ein Volk, das so wenige Kinder wie die Deutschen bekommt, wäre eine erhebliche Zuwanderung ein Segen, und es sollte sich Einwanderung dringend wünschen und sie vor allen Dingen ordentlich organisieren und nicht einfach passieren lassen. Es braucht sie dringend, um das eigene Überleben und den eigenen Wohlstand zu sichern.

Doch stattdessen wurden bisher immer mehr Barrieren aufgebaut. Und die breite Bevölkerung gefällt sich in dumpfer Fremdenfeindlichkeit. Die deutsche Baby-Baisse ist längst offenkundig, nur geschehen ist nichts. Die Problemignoranz der Politik hat den demografischen Wandel ausgeblendet, obwohl dessen Konsequenzen für Familien, Arbeitsmarkt, soziale Sicherungssysteme und Wanderungen schon seit Jahrzehnten bekannt und bis ins Detail dokumentiert sind.

Bei dem bisschen Zuwanderung, das Deutschland in den zurückliegenden Jahren hatte und noch heute hat, besteht das Hauptproblem allerdings darin, dass sie viele Jahrzehnte lang nicht über den Arbeitsmarkt gelenkt wurde. Zuwanderung ist einfach so passiert, ohne dass sie von der deutschen Politik her in irgendeiner Weise gelenkt oder gar organisiert war. Da die Politiker aller Richtungen sich mit der Situation nicht befasst haben, konnten sie die Verhältnisse auch nicht gestalten. Sie rollte über sie hinweg.

Wenn immer langfristige Perspektiven und Planungen gefordert sind, greifen die Politiker auf die altbewährten "Strategien" des Durchwurstelns zurück. Das jedoch ist verantwortungslos gegenüber der eigenen Bevölkerung und ein folgenschwerer Fehler, den allerdings immer noch die Migranten mehr ausbaden müssen als die eingeborenen Deutschen; denn denen werfen manche Leute mangelnde Integration und gar ihre Herkunft aus Anatolien vor.

Dabei wäre es von Anfang an so wichtig gewesen, den Zustrom von Migranten zu steuern und zu kontrollieren, um zu erreichen, dass vor allem Personen zuwandern, die der deutsche Arbeitsmarkt wirklich braucht. Doch in einer politischen Landschaft, in der es für die Politik einfacher ist, sich ignorant an Problemen vorbei zu schummeln, statt sie aktiv in Angriff zu nehmen, ließ sich das nicht machen. Dieses Land braucht aber - wie jedes andere Land - eine lösungsorientierte Politik und kein albernes Wahlkampfgetöse.

Mal gab es massenhaft Familienzusammenführung aus der Türkei, mal kamen wahre Scharen von Spätaussiedlern aus Kasachstan. Dynamik und Ausmaß des Familiennachzugs wurden lange unterschätzt. Heute ist er noch immer die stärkste Säule der Zuwanderung.

Da die verantwortungslose Bande von Politikern bis in das 3. Jahrtausend hinein nichts Besseres wusste, als stets aufs Neue die alte Leier abzunudeln, Deutschland sei kein Einwanderungsland, brauchte man sich ja vermeintlich auch gar nicht um die Zuwanderer zu kümmern. Die gab’s ja gewissermaßen gar nicht. In einem Land, das kein Einwanderungsland ist, gibt’s ja auch keine Einwanderer, oder?

Tatsächlich sind seit 1955 insgesamt 31 Millionen Menschen nach Deutschland eingewandert. 22 Millionen Menschen verließen das Land. Die Nettozuwanderung liegt im Schnitt bei rund um 200.000 Personen jährlich.

Deutschland nimmt de facto, bezogen auf die Einwohnerzahl, zwei bis drei Mal mehr Einwanderer auf als die USA. Mit neun Prozent der Wohnbevölkerung ist der Ausländeranteil in Deutschland doppelt so hoch wie im EU-Durchschnitt.

Die Bundesrepublik ist ein Einwanderungsland, weigert sich aber seit Jahrzehnten, daraus die politischen Konsequenzen zu ziehen. Das Land geht dabei Stück für Stück vor die Hunde, aber der politischen Kaste geht es weiterhin bestens…

Deutschland ist seit Jahrzehnten Zuwanderungsland

Darüber schreibt der deutsche Historiker Hans-Ulrich Wehler in seiner monumentalen "Deutschen Gesellschaftsgeschichte 1949-1990"3 [4]:

Im Gesamteffekt weist die Bundesrepublik zwischen 1950 und 2000 - in relativer Größenordnung - die weltweit höchsten Zuwanderungsraten auf. Um 1990 besaß sie - erneut relativ - mehr im Ausland geborene Einwohner als die USA. In den ersten vierzig Jahren ihrer staatlichen Existenz übertraf sie damit den klassischen Einwanderungsrekord, den die ‚New Immigration‘ in die Vereinigten Staaten zwischen 1910 und 1913 bisher markiert hatte.

Die konstante Entwicklung der Migration nach Deutschland zeigt, wie absurd die Latrinenparole "Wir sind kein Einwanderungsland" ist. Bei der Einwanderung nimmt Deutschland in jeder Hinsicht einen vorderen Platz ein: Nach den USA leben in Deutschland auch in absoluten Zahlen weltweit gemessen die meisten Migrantinnen und Migranten. Erst in den letzten Jahren ging die Migration nach Deutschland stark zurück.

Die Alterung führt dazu, dass immer weniger Beitragszahler einer wachsenden Zahl von Rentnern gegenüberstehen. Nachdem die Politik dieses Problem jahrzehntelang einfach geleugnet hatte (Norbert Blüm: "Die Rente ist sicher!"), ergriff sie in den 1990er Jahren wenigstens einige Maßnahmen, die das Rentenniveau für künftige Rentnergenerationen senkten: Einführung der Rente mit 67, eines demografischen Faktors, der die Rentensteigerungen senkt und die Einführung kapitalgedeckter Altersvorsorgeangebote wie der Riester-Rente.

Jedoch ohne eine tief greifende Reform an Haupt und Gliedern wird das Rentensystem die vor ihm liegenden Jahrzehnte nicht überleben. Dasselbe gilt für das Gesundheitswesen und die Altenpflege.

Sie müssen sich auf wachsende Zahlen pflegebedürftiger Menschen und sinkende Zahlen von Betreuern für deren Pflege einstellen. Auch bei der Pflegeversicherung wird der demografische Wandel zu steigenden Beitragssätzen führen. In der Gesetzlichen Krankenversicherung bestehen im Gegensatz zur Privaten Krankenversicherung keine Alterungsrückstellungen. Folglich sind Beitragssteigerungen unvermeidlich.

Schon heute entfallen 15 Prozent der Steuern, die die Bundesländer einnehmen, auf die Versorgung ihrer Ruheständler. Der Anteil wird nach Prognosen des Freiburger Ökonomen Bernd Raffelhüschen erheblich wachsen. Mitte der 2020er Jahre sieht er eine wahre Welle auf Deutschland zurollen. Dann nämlich verabschieden sich all jene Beamten in den Ruhestand, die der Staat in den 1970er und 1980er Jahren eingestellt hat. Allein zwischen 1970 und 1980 rekrutierten Bund, Länder und Gemeinden so viele, dass sich in diesen zehn Jahren die Personalausgaben auf rund 75 Milliarden Euro verdreifachten.

Raffelhüschen ermittelt regelmäßig für die industrienahe Stiftung Neue Soziale Marktwirtschaft, welche finanziellen Verpflichtungen der Staat und die Sozialversicherungen eingehen, ohne dafür irgendwelche Rücklagen für den Zeitpunkt zu bilden, an dem die Leistungen fällig werden. Es ist die Bilanz der wahren Schulden, die auf Deutschland lasten.

Zu den über 2 Billionen Euro Schulden, die die deutsche Finanzstatistik bereits heute ausweist, kommen weitere 4,6 Billionen Euro, die Rentnern, Kranken und Pflegebedürftigen in Zukunft zustehen - und die nirgendwo erfasst sind. Die tatsächliche Verschuldung der Bundesrepublik entspricht demnach gar nicht 80 Prozent des Bruttoinlandsprodukts, wie es offiziell heißt, sondern 276 Prozent.

Ausgerechnet für die Baby-Boomer-Generation haben die Sozialkassen keinen Cent zurückgelegt, sie leben von der Hand in den Mund. Dadurch entstehen künftigen Generationen erhebliche finanzielle Lasten. Neben der Rente nimmt die Krankenversicherung den größten Posten in dieser Rechnung ein. Hier allein fehlen zwei Billionen Euro. Die unabwendbare Alterung der Gesellschaft wird das Problem noch verschärfen. Mit dem Alter, genauer: mit der Zahl der Alten, steigen nämlich die Ausgaben für Gesundheit dramatisch an.

Ein unter 65-jähriger Erwerbstätiger kostet die gesetzliche Krankenkasse monatlich im Schnitt 134 Euro. Wer älter ist, kommt mit 379 Euro auf fast dreimal so hohe Ausgaben. Die Konsequenz: Auf jedem Bundesbürger lastet ein unsichtbarer Berg von Sozialversicherungsschulden. Um ihn abzutragen, müsste er zeit seines Lebens jeden Monat 307 Euro an den Staat überweisen. Alles nur, weil der Staat finanzielle Versprechungen macht, die er nicht erfüllen kann. Er preist seine Versprechungen sogar noch als Wohltaten, doch aufkommen müssen die Bürger dafür. Die Methode hat System, seit Generationen schon.

Der demografische Wandel führt dazu, dass die staatliche Infrastruktur der geänderten Nachfrage angepasst wird. In Kindergärten und Schulen gehen die Kinderzahlen zurück. Zwar gibt es kleinere Klassen, aber zugleich auch höhere Kosten für immer weniger Steuerzahler. Schulen und Kindergärten müssen verkleinert und zusammengelegt werden. Auf dem Lande verringert sich das Angebot an Bildungseinrichtungen. Umgekehrt besteht der Bedarf an zusätzlichen Einrichtungen und Kapazitäten in Altenarbeit und Altenpflege.

Mit einer schrumpfenden Bevölkerung und sinkender Zahl der Erwerbstätigen muss sich das Wirtschaftswachstum zwangsläufig verringern. Der demografische Wandel betrifft alle Ebenen der Gesellschaft und der Politik: die europäische, die bundes- und die landespolitische Ebene ebenso wie die Kommunen, Unternehmen und Familien.

Schon 2020 werden die 50- bis 65-Jährigen mit knapp 20 Millionen die stärkste Gruppe in der arbeitsfähigen Bevölkerung sein, während die 35- bis 50-Jährigen dann nur noch 15 Millionen Menschen umfassen werden. In den nächsten vier Jahrzehnten sinkt die Zahl der Erwerbstätigen um rund 10 Millionen Menschen.

Ohne Zuwanderung aus dem Ausland würde Deutschlands Bevölkerung bereits seit langem rapide schrumpfen. Jährlich kommen im Mittel etwa 800.000 Menschen nach Deutschland, während 600.000 das Land verlassen; bleiben also 200.000. Aber sie können den Bevölkerungsrückgang nur aufhalten, nicht auffüllen. Ohne sie würden in Deutschland 2050 sogar nur noch höchstens 55 statt 68 Millionen Menschen leben.

In den letzten Jahren ging der Wanderungsgewinn zurück und reichte nicht einmal mehr aus, den Überschuss der Sterbefälle über die Geburten auszugleichen. Erst 2011 erzielte Deutschland wieder einen Überschuss um 0,1 Prozent. Wahrscheinlich eher ein statistischer Ausreißer; denn die Bevölkerungszahl sinkt seit 2003 kontinuierlich.

Langfristig wird die sich immer weiter öffnende Schere zwischen der Zahl der Geborenen und Gestorbenen nicht durch Zuwanderung zu schließen sein; dazu wären weit höhere Wanderungsüberschüsse nötig als in der Vergangenheit. Dieser Effekt wird durch die zunehmende Lebenserwartung der Älteren noch verstärkt.

Deutschland braucht dringend Zuwanderung aus dem Ausland

Die gesamte Wanderungsbilanz war in Deutschland seit 1991 mit Ausnahme einzelner Jahre positiv und bewegte sich in unterschiedlichen Zeiträumen zwischen 129.000 Personen und 354.000 Personen jährlich. Von 2003 bis 2007 ging der jährliche Saldo aus Zu- und Fortzügen auf durchschnittlich 74.000 Personen deutlich zurück. Dies war auf höhere Fortzüge der Deutschen, das Versiegen der Zuzüge von deutschen Aussiedlern und die abgeschwächten Zuzüge von Ausländern zurückzuführen.

Vor allem die Zuzüge nach Deutschland schwanken stark, während die Fortzüge im Zeitverlauf relativ stabil bleiben. Da die zuziehenden Menschen in der Regel jünger als die fortziehenden sind, wird die Bevölkerung durch die Außenwanderung quasi "verjüngt".

Die seit 2011 geltende volle Freizügigkeit für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer aus den Staaten, die 2004 der Europäischen Union (EU) beitraten, wirkt sich augenscheinlich nur kurzfristig aus. Immerhin stieg die Zuwanderung nach Deutschland im ersten Halbjahr 2011.

Die Finanz- und Schuldenkrise ließ insbesondere viel mehr Einwanderer aus Griechenland und Spanien nach Deutschland kommen, und der Wegfall der letzten Beschränkungen für den freien Zugang zum Arbeitsmarkt für EU-Bürger führte dazu, dass deutlich mehr Menschen aus Ländern wie Polen, Ungarn, der Slowakei, Bulgarien und Rumänien nach Deutschland zogen. Allein 2012 und 2013 wanderten mit rund 368.000 und 400.000 Menschen mehr Menschen nach Deutschland ein, als das Land verließen.

Der Geburtenrückgang in Deutschland und anderen Ländern ist von epochalem Ausmaß. Ohne Zweifel ist die Alterung der Bevölkerung die bei weitem größte Herausforderung für die Politik der kommenden Jahrzehnte. Nur hat sie selbst das noch nicht begriffen und stellt sich der Herausforderung nicht.

Wenn es darum geht, Maßnahmen zu ergreifen, die den Wohlstand der Bevölkerung und die Renten sichern, fällt ihr außer "Elterngeld" und "Herdprämie" nichts ein. Das Prinzip ist einfach: Es geht darum Gelder in der Gegend zu verstreuen, über das sich möglichst viele Angehörige der eigenen Klienteles freuen. Ob die irgendeinen vernünftigen Sinn oder Zweck haben, ist zweitrangig.

Das hängt in starkem Maße mit der generellen Kurzatmigkeit von Politik in repräsentativen Demokratien zusammen, die sie wirksam daran hindert, vorausschauend zu planen oder nur zu denken.

Ziel und Zweck der Veranstaltung ist es, Gelder zu verteilen, um als guter Onkel und gute Tante des demokratischen Provinzialismus ein hübsches Image zu bekommen und bald wiedergewählt zu werden. So fährt die Politik der entwickelten repräsentativen Demokratien nach und nach jedes Land an die Wand.


URL dieses Artikels:
https://www.heise.de/-3502828

Links in diesem Artikel:
[1] https://www.heise.de/tp/features/Zu-Tode-erstarrt-im-Netz-der-ewigen-Neinsager-3365137.html
[2] https://www.heise.de/tp/features/In-Deutschland-sterben-die-Leut-aus-3502828.html?view=fussnoten#f_1
[3] https://www.heise.de/tp/features/In-Deutschland-sterben-die-Leut-aus-3502828.html?view=fussnoten#f_2
[4] https://www.heise.de/tp/features/In-Deutschland-sterben-die-Leut-aus-3502828.html?view=fussnoten#f_3