Zu Tode erstarrt im Netz der ewigen Neinsager
Die Rolle der Vetogruppen in Demokratien. Eine Demokratie haben wir schon lange nicht mehr - Teil 23
Das Gewicht der Vetogruppen in den entwickelten Demokratien ist längst so stark geworden, dass vernünftige Entscheidungen kaum noch zu Stande kommen. Für die Situation hat der frühere SPD-Politiker Bodo Hombach den Ausdruck "Malefiz-Gesellschaft" geprägt: eine Gesellschaft, in der das Verhindern Vorrang vor dem Gelingen hat und in der immer nur alles blockiert wird, und in der es wichtiger erscheint, anderen Barrieren in den Weg zu legen, als selbst zum Zuge zu kommen. Der Einfluss von Vetogruppen führt dazu, dass über Reformen nur noch geredet wird. Mit Reformen befasst sich das öffentliche Geschwätz, nicht das politische Handeln der demokratischen Repräsentanten. Sollte jemand versuchen, Reformen wirklich durchzusetzen, werden die Vetogruppen das verhindern. Die Parole heißt dann: unter angestrengter Suche nach dem kleinsten gemeinsamen Nenner durchwursteln.
Dass die entwickelten Demokratien der Welt kaum noch in der Lage sind, dringend erforderliche Reformen durchzusetzen, hat die letzte Folge dieser Artikelreihe gezeigt. Doch wie konnte es überhaupt dazu kommen?
In den etablierten Demokratien haben sich die Interessenverbände, Organisationen und Unternehmen im Verlauf der Jahrzehnte immer nachhaltiger festgesetzt und mit den bestehenden Machtverhältnissen arrangiert. Zwischen Staat, Verbänden und Unternehmen hat sich ein Netzwerk wohlgeordneter und dauerhafter Verknüpfungen herausgebildet.
Dieses Gemisch der Beziehungen von Verbänden und Unternehmen mit dem Staat und dem politisch-administrativen System bezeichnet man als "Korporation". Im politischen System einer Demokratie agiert eine Vielzahl von Interessengruppen, die Zugang zum politisch-administrativen System haben und darin ihre Interessen artikulieren, abstimmen und natürlich auch durchsetzen.
Diese Interessengruppen sind in weitläufige Beratungs- und Entscheidungsnetzwerke eingebunden, die von Regierungen geschaffen wurden und gefördert werden. Das hat Konsequenzen für das politische System und für die Verbände und Unternehmen.
Große Verbände und Unternehmen können ihren Interessen im politischen Prozess stärkeren Nachdruck verleihen und haben gegenüber anderen Akteuren eindeutige Privilegien. Im Gegenzug übernehmen sie staatliche Aufgaben, erleichtern so Konsensfindung und Normsetzung, werden also für Steuerungsleistungen instrumentalisiert; denn der Staat kann seine Integrations- und Steuerungsfunktion ohne nichtstaatliche Akteure gar nicht mehr ausüben.
Allerdings ist gegen diese Interessengruppen, die fest im Sattel des Systems sitzen, schwer anzukommen, wenn sie Entscheidungen nicht mittragen wollen - was nur allzu häufig vorkommt. Interessengruppen, die durch die Mobilisierung der öffentlichen Meinung ihre Sonderinteressen verfechten, nennt man Vetogruppen. Vetogruppen können staatliche Reformpläne effektiv verhindern oder wenigstens behindern.
Das Gewicht der Vetogruppen in den entwickelten Demokratien ist längst so stark geworden, dass vernünftige Entscheidungen kaum noch zu Stande kommen. Für die Situation hat der frühere SPD-Politiker Bodo Hombach den Ausdruck "Malefiz-Gesellschaft" geprägt: eine Gesellschaft, in der das Verhindern Vorrang vor dem Gelingen hat, in der immer nur alles blockiert wird und in der es wichtiger erscheint, anderen Barrieren in den Weg zu legen, als selbst zum Zuge zu kommen.1
Gesellschaftliche, technologische und institutionelle Innovationen bleiben im Gestrüpp organisierter Interessen und der vielen Zuständigkeiten der Institutionen und in unzähligen Kommissionen stecken. Wer mit einer unkonventionellen Idee aus dem Glied tritt, wird schnell Opfer von Interessengruppen, wenn die um ihre Interessen fürchten.
Der Einfluss von Vetogruppen führt dazu, dass über Reformen nur noch geredet wird. Mit Reformen befasst sich das öffentliche Geschwätz, nicht das politische Handeln der demokratischen Repräsentanten. Sollte jemand versuchen, Reformen wirklich durchzusetzen, werden die Vetogruppen das verhindern. Die Parole heißt dann: unter angestrengter Suche nach dem kleinsten gemeinsamen Nenner durchwursteln.
Durchwursteln ist das oberste Politikprinzip der entwickelten Demokratien. Und das geht stets nach dem Muster der Großen Gesundheitsreform. Sie wird jedes Jahr als Jahrhundertwerk und größte Reform aller Zeiten angekündigt. Dann wird monatelang geredet und geredet, und am Ende passiert gar nichts - aber die Beiträge der Versicherten werden wieder mal erhöht; das Einzige, was laut Ankündigung diesmal eigentlich nicht passieren sollte, aber trotzdem immer wieder passiert. Die Folge: Reformstau und der Verlust der großen Perspektive.
Doch im Windschatten der Reformresistenz hängen sich immer klobigere bürokratische Klötze ans Bein des Systems: Bürokratien, deren einziger Sinn und Zweck es ist, ihre Bürokraten auf Kosten der arbeitenden Bevölkerung in Brot und Arbeit zu halten. So hat eine Anfang 2012 veröffentlichte Studie der Unternehmensberatung A. T. Kearney ergeben, dass 23 Prozent der 176 Milliarden Euro Gesamtausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung 2010 auf bürokratische Abläufe entfielen. Fast ein Viertel aller Gesamtausgaben. In der produzierenden Wirtschaft liegt dieser Anteil aber nur bei 6,1 Prozent.
Die Krankenkassen verursachen nicht nur bei sich selbst überflüssige Bürokratie, sondern in der gesamten Branche: bei Apotheken, Arztpraxen und Krankenhäusern. Zu den offiziellen Verwaltungskosten von 9,5 Milliarden Euro kommen so weitere 18 Milliarden Euro hinzu. So müssen Krankenhausärzte 37 Prozent ihrer Arbeitszeit auf Verwaltungsaufgaben verschwenden. Auch die komplizierten Abrechnungsverfahren bei niedergelassenen Ärzten oder die Praxisgebühr sind reine Kostentreiber.
Durch schlankere Strukturen ließe sich der Beitragssatz in der gesetzlichen Krankenversicherung deutlich senken, schlussfolgerte die Studie in ihrer weltfremden und doch so sympathischen Naivität. Nach der Berechnung könnten rund 13 Milliarden Euro eingespart werden. Könnten… werden aber nicht. Auch in Zukunft nicht. Denn die Gesundheitsreform wird immer nur Stückwerk bleiben, und am Widerstand der Krankenkassen scheitern, die gerade ihre Pfründe, ihre Ressourcen und ihren bürokratischen Apparat gegen jede Reform mit Zähnen und Klauen verteidigen - so wie sie das schon seit vielen Jahren tun. Und da sie ihr Netzwerk an Einflussmöglichkeiten bis in die feinsten Verästelungen des politischen Apparats in jahrzehntelanger Kleinarbeit gespannt haben, droht ihnen von dort auch keinerlei Gefahr.
Wissenschaftliche Studien wie die von Kearney haben nur noch den Zweck, dem Publikum zu zeigen, was sein könnte, wenn wir eine funktionierende Demokratie hätten, die dem Gemeinwohl verpflichtet ist. Die aber haben wir schon lange nicht mehr. Und auch aus diesen Gründen gibt es seit vielen Jahren eine wahre Schwemme von Studien aus den verschiedensten Bereichen der Politik, die akribisch zeigen, was verkehrt läuft und wie es richtig laufen könnte. Das Publikum empört sich kurz darüber, was alles schief läuft. Und dann gehen alle wieder zur Tagesordnung über…