Indien: Corona geht, die Klimaziele auch

Das Corona-Jahr in Indien hat viele Verlierer und nur wenige Gewinner. Foto: Gilbert Kolonko

Nach einer Lockdown-Verschnaufpause läuft die Zerstörung des Planeten auch in Indien wieder auf Hochtouren

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Während der Ausgangssperre im April dürften einige Menschen im Bundesstaat Punjab an eine Erscheinung geglaubt haben, als sie Richtung Norden schauten: Sie sahen die 200 Kilometer entfernten Gipfel des Himalayas. "Ich habe die Dhauladar-Kette noch nie von meinem Dach in Jalandhar gesehen. Ich hätte das nie für möglich gehalten", twitterte zum Beispiel der ehemalige Cricketspieler Harbhajan Singh.

Mittlerweile hat der Smog auch im Punjab den Blick auf das Himalaya wieder verschluckt. Die Hauptstadt Delhi und ihre umliegenden Mittelklasse-Luxus-Hochhaus-Ghettos wie Noida meldete an mehreren Tagen im November Feinstaubwerte bis 999 Mikrogramm pro Kubikmeter Luft der Partikelgröße PM10 - mehr zeigen viele Messgeräte nicht an. Das ist so, als würden sie am Tag 45 Zigaretten rauchen.

Dass rein gar nichts von den Hoffnungen im April übrig geblieben ist, zeigt auch ein Bericht des Central Pollution Control Board (CPCB): Am 12. November 2020 zum Lichterfest Diwali war die Luftverschmutzung sogar schlimmer als im letzten Jahr - damals nannte Delhis Chief-Minister "seine" Hauptstadt eine Gaskammer.

Das Himalaya von Darjeeling aus. Indien und der Rest könnten anders, ohne Blamegame.Foto: Gilbert Kolonko

Somit sind Studien aus der Vor-Corona Zeit wieder aktuell: Nach einer der moderatesten sterben in Indien jedes Jahr 1,2 Millionen Menschen an Luftverschmutzung. Darunter laut der Weltgesundheitsorganisation (WHO) mehr als 100.000 Kinder unter 5 Jahren. Die Kinder in Delhi, die nicht sterben, wachsen mit einer kleineren Lunge heran, als ihre Altersgenossen im Westen.

Am 27. November diesen Jahres waren nicht nur die Menschen im Punjab überrascht, sondern Millionen Kricketfans in ganz Indien: Beim Spiel zwischen ihrer Nationalmannschaft und Australien in Sydney rannten zwei Zuschauer plötzlich aufs Feld: Auf ihren T-Shirts stand: "Stop Adani" und "Stop Coal - Stop Adani Take Action". Auf einem ihrer Pappschilder stand: "No $1BN ADANI LOAN".

Adani Group: 1 Milliarde US-Dollar Kredit für eine Kohlemine

Natürlich ist Adani den meisten Indern ein Begriff: Gautam Adani, Besitzer der Adani Group und Vorzeigeunternehmer mit freundschaftlichen Kontakten zu Premierminister Narendra Modi - Adani stellte Modi im Jahr 2014 auch seinen Privatjet für den Wahlkampf zur Verfügung. Was dagegen nur informierte Inder mitbekommen: Seitdem Narendra Modi im Amt ist, wurde der Adani Gruppe ein Reihe von Geldstrafen für Umweltvergehen erlassen. Dazu gab es Gesetzesänderungen, durch die sich Steuerschulden der Adani Gruppe in Höhe von 140 Millionen US-Dollar halbierten.

Auch der Grund für den spontanen Protest auf dem Kricket-Feld in Sydney dürfte den meisten Indern bisher unbekannt gewesen sein: "Millionen von indischen Steuerzahlern, die diesem Spiel zuschauen, haben das Recht zu erfahren, dass die State Bank of India kurz davor steht, ihre Steuern einem Milliardär auszuhändigen für eine klimaschädliche Kohlemine", sagte Ben Burdett, einer der beiden Protestler, gegenüber Journalisten. Die State Bank of India plant der Adani Gruppe einen Kredit über knapp eine Milliarde US-Dollar zu bewilligen, für eine umstrittene Kohlemine im australischen Quensland.

Die Siemens AG geriet im Januar 2020 in Deutschland in Zusammenhang mit Lieferungen zur Inbetriebnahme der Kohlemine in Kritik.

Im November ließ Narendra Modi verlauten, dass Indien anstrebe seinen CO2-Abdruck um 30 bis 35 Prozent zu verringern, doch die Fakten sagen schon lange etwas anderes: Im Jahr 2017 zeigte eine unfreiwillig veröffentliche Studie des regierungsnahen Think Tank NITI Aayog auf, dass sich der Kohleverbrauch in Indien bis zum Jahr 2037 verdoppeln wird. Genau das bestätigen aktuell Daten und Taten.

Im Jahr 2019 stieg der Anteil von Kohle an der Stromproduktion auf über 70 Prozent. Während des Lockdowns in diesem Jahr sank er auf 60 Prozent. Doch alleine in den ersten 15 Tagen im September stieg er wieder auf 66 Prozent, Mitte Oktober auf 72 Prozent.

Dazu plant die Modi-Regierung 40 neue Kohlegruben, die erstmals auch von ausländischen Investoren betrieben werden dürfen. Dafür sollen 170.000 Hektar Wald gerodet werden.

Doch im Bundestaat Goa besetzten mindestens 10.000 Menschen eine im Bau befindliche Eisenbahnstrecke, die ihren Bundesstaat zu einem riesen Umschlagplatz für Kohle machen soll - es geht um 51 Millionen Tonnen pro Jahr. Die neue "Kohlestrecke" ist auch durch den 240 Quadratkilometer großen Nationalpark Mollem geplant - 250 Hektar Wald sollen dafür gerodet werden.

1.000 Aktivisten und Menschenrechtler während des Lockdowns verhaftet

Dass Menschen in Indien demonstrieren, ist keine Selbstverständlichkeit. Laut UN-Zahlen nutze die Modi-Regierung den Lockdown dazu, mehr als 1.000 Aktivisten und Menschenrechtler zu verhaften und dass obwohl alle großen Proteste mit Rücksicht auf Corona in Indien eingestellt wurden.

Schon lange wird auch gegen Umweltschützer in Indien mit dem Vorwurf vorgegangen, sie behindern den Fortschritt des Landes, als wären der Klimawandel nicht auch in Indien schon sichtbar genug: Zunahme von Hitzewellen und Zyklone.

90 Prozent der indischen Bevölkerung sind im informelen Sektor beschäftigt. Foto: Gilbert Kolonko

Im Mai richtete der Zyklon Amphan im Bundesstaat West-Bengalen einen materiellen Schaden von 13 Milliarden US-Dollar an. Auch der Monsun ist in Indien aus dem Gleichgewicht geraten. Dazu die selbstverursachte Grundwasserkrise in indischen Metropolen...

Jetzt gehen auch die Bauern wieder auf die Straße - aktuell belagern sie Delhi, damit die Zentral-Regierung die frisch verabschiedeten "Reformen" im Agrarsektor zurücknimmt: Narendra Modi argumentiert, dass er den Bauern einen Gefallen getan hat, indem er die staatliche Preisbindung aufhob, denn nun könne jeder Bauer den Preis selbst verhandeln.

Gerade die Klein-Bauern halten dagegen, dass dies vor allem den Großbauern hilft und den Konzernen, die schon lange auf den indischen Agrar-Markt wollen: 7 Prozent der indischen Bauern sind Großgrundbesitzer, denen 50 Prozent der 94 Millionen Hektar Agrarland gehören. Ein Blick in die informative Gemeinschafts-Studie Konzertatlas hilft, die Sorgen der Bauern zu verstehen.

Ebenso ein Blick auf die bisherigen Leistungen der Modi-Regierung: Vor allen Börsen notierte Konzerne wie Reliance und die Adani Group haben unter dem selbsternannten Heilsbringer profitiert: Adani Gas and Adani Enterprises steigerten ihren Börsenwert alleine im Jahr 2020 um 120 bis 350 Prozent.

Der Yamuna Fluss in Delhi. Foto: Gilbert Kolonko

Die anderen Adani-Unternehmungen verzeichneten Steigerungen um mindestens 25 Prozent. Dagegen hat die Masse der Bevölkerung schon vor Corona die höchste Arbeitslosigkeit seit 45 Jahren auszubaden, dazu das geringste Wirtschaftswachstum seit 6 Jahren.

Modis Wahnsinn-Idee eines knallharten monatelangen Lockdowns sorgte im Quartal April-Juni für ein 'Negativ-Wachstum' von 23,9 Prozent. Mit den straken Lockerungen der Anti-Covid-19 Maßnahmen schrumpfte es auf ein 'Negativ-Wachstum' von "nur" noch 7,5 Prozent für den Zeitraum Juli-September.

Umweltpolitik

In Sachen Umweltbilanz führt Modi die Politik fort, die die Regierung der Kongress Partei in den 1990ern begonnen hat - der Schutz der Umwelt wird als wachstumhindernd verstanden. Einzig im Herausstellen der Fortschritte bei den grünen Energien stellt sich Modi schlauer an und tut so, als sei jedes Wasserkraftwerk oder Solaranlage sein Werk. Glaubt jemand wirklich Tata, Adani und Co. bräuchten Modis Ratschlag, dass man auch in dem Bereich ein paar Milliarden mitnehmen kann?

Unternehmen wie Adani Green Energy (Quartalszuwächse des Börsenwerts bis zu 381 Prozent) lassen schon lange die Kasse klingeln. Hinter dem Ausbau der "Kohlestrecke" in Goa steckt wenig verwunderlich die Adani Gruppe.

Aktuell verwies Modi wieder auf den geringen pro Kopf CO2-Ausstoß Indiens. Dazu kündigte er an, dass Indien im Jahr 2037 klimaneutral sein wird… Also genau wie der Westen, nur dass der auf Indiens hohen Gesamtaustoß von CO2 hinweist.