Indien: Es wird böse werden. Gewaltig böse

Indische Realitäten: 21 Tage die eigene Wohnung nicht zu verlassen, ist für viele Inder nicht so einfach, wie Modi sich das gedacht hat. Foto: Gilbert Kolonko

Schon am sechsten Tag der landesweiten Ausgangssperre lässt sich sagen: Das Kind ist in den Brunnen gefallen. Die Regierung ist planlos und fern der indischen Realitäten

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Am 19. März gab Premierminister Narendra Modi 1,38 Milliarden Indern zwei Tage Zeit, sich auf eine zweitägige "freiwillige" Ausgangssperre vorzubereiten, um die Ausbreitung von Covid-19 zu verlangsamen.

Als er am 24. März eine 21-tägige Ausgangssperre aussprach, waren es vier Stunden, um sich darauf einzustellen. "Modi scheint auch im sechsten Amtsjahr nicht verstanden zu haben, welches Land er da regiert", sagt Gopal Krishna von TOXICWATCH gegenüber Telepolis.

Das zeigen gerade Hunderttausende entlassene Arbeiter, die auf den Straßen und Autobahnen des Landes herumirren - ohne Nahrung und Medizin. Sie wollen zurück in ihre Dörfer. Doch die indische Regierung hatte mit der Ausgangssperre auch den Zug- und Busverkehr ausgesetzt. Schon am Samstag gab es den ersten offiziell bestätigten toten Wanderarbeiter, als er nach 200 gelaufenen Kilometern auf der Straße zusammenbrach. Zudem sollen landesweit 19 weitere Arbeiter tödlich verunglückt sein, als sie versuchten, auf überfüllten Fahrzeugen den Rückweg anzutreten.

Darüber hinaus sitzen noch Millionen Arbeiter weit entfernt von ihren Dörfern fest - ohne Arbeit und Geld, um Zimmer oder Nahrung bezahlen zu können. 90 Prozent der arbeitenden Bevölkerung Indiens ist im informellen Sektor tätig. Nicht nur Gopal Krishna weiß um die Millionen Wanderarbeiter, sondern nahezu jeder Indien-Interessierte. Auch auf Telepolis wurde schon am 25. März darauf hingewiesen.

Das Heer der Wanderarbeiter

Am 28. März machten nochmal 200 Persönlichkeiten Indiens die Zentralregierung auf das Problem aufmerksam: Diese hat jetzt die Bundesstaaten angewiesen, sich um die Wanderarbeiter zu kümmern. So versucht die Regierung des Bundesstaates Uttar Pradesh 1.000 Busse zu organisieren, um die Arbeiter in ihre Dörfer zu bringen.

Kolkata: Arbeiter streichen im Auftrag der Regierung von West-Bengalen einen Zaun und bekommen nicht einmal Pinsel gestellt. Foto: Gilbert Kolonko

Doch auf den Busbahnhöfen herrschen chaotische Zustände. Ein weiteres Problem: Die Koordination mit den anderen Bundessaaten klappt nicht: zu viele gestrandete Menschen, zu wenige Busse. Mit 200 Millionen Einwohnern ist Uttar Pradesh einer der beiden großen Problem-Bundesstaaten des indischen Subkontinents.

Mangels Arbeit vor der Haustür reisen sie bis zu 3.000 Kilometer Richtung Süden, um sich dort als Tee-Pan-Essensverkäufer oder Hilfsarbeiter zu verdingen. Die kleine Bude an der Ecke ist immer noch der Ort, den die meisten Inder zum Essen oder Trinken aufsuchen - nicht das Restaurant oder McDonalds.

Selbst Oppositionsführer Rahul Gandhi, eher als Intellektueller denn als Mann des Volkes bekannt, hat Modi nochmal darauf hingewiesen, dass viele Bewohner Indiens Tagelöhner sind und dass ein totaler Lockdown für Indien nicht das richtige Mittel sei.

Auch Lastwagenfahrer stehen überall in Indien auf Rastplätzen, ebenfalls ohne Wasser und Nahrung. Diejenigen mit Erlaubnis, lebenswichtige Güter von A nach B zu bringen, haben Schwierigkeiten unterwegs Essbares "zu finden".

800 Millionen Arme

Der Modi-Regierung wird nicht Tatenlosigkeit vorgeworfen, sondern totale Planlosigkeit. Sie schien gedacht zu haben, es würde ausreichen, die Bürger von der Polizei von den Straßen prügeln zu lassen und ein Hilfspaket von 21 Milliarden US-Dollar für die Armen zu verabschieden. Als arm im einen oder anderen Sinn gelten in Indien knapp 800 Millionen Menschen: Selbst wenn das Geld direkt ankommen würde, was es nicht wird, wären das 1,25 US-Dollar pro Bedürftigen für jeden der 21 Tage der Ausgangssperre.

Unterdessen machen jetzt schon Panik, Anfeindungen und Falschmeldungen per Whatsapp und Co. bei den eingeschlossenen Bürgern die Runde, die über Covid-19 offenbar schlecht informiert sind. Es gibt zahlreiche Berichte von Übergriffen auf Krankenhauspersonal, Mitarbeitern von Lieferservice und vielen anderen Helden, die versuchen den Menschen während der Ausgangssperre zu helfen.

Ausdrücklich gelobt werden muss der deutsche Botschafter in Delhi, Walter J. Lindner, der Indien offensichtlich besser kennt als Narendra Modi und schon sehr früh die Vorbereitungen für die Rückholaktionen gestrandeter Touristen in Gang gesetzt hat. Auch seine Informationspolitik war beeindruckend: eindringlich, ohne Panik zu schüren.

So konnte Deutschland als eines der ersten Länder 1001 Reisende ausfliegen, darunter 250 EU-Bürger. Im Augenblick arbeitet die deutsche Botschaft eng mit anderen Botschaften zusammen, um die restlichen Deutschen zurückzuholen. Doch diese müssen erst "eingesammelt" werden, was wegen fehlender Transportmittel ein Problem ist. Dabei wäre es bitter nötig.

90 Prozent der arbeitenden Bevölkerung sind in Indien im informellen Sektor tätig, ohne Netz und doppelten Boden. Foto: Gilbert Kolonko

Mehr als einmal zu viel erreichten mich Nachrichten von Ausländern aus dem ganzen Land, die von Anfeindungen geschrieben haben, um es freundlich auszudrücken. Die indische Bevölkerung muss dabei in Schutz genommen werden: Wer sich die Armut im Land anschaut, dazu die katastrophalen Umweltzerstörungen, verseuchten Flüsse und die verpestete Luft kann nur den Hut ziehen vor der Friedfertigkeit und Freundlichkeit, mit der die Menschen des Landes die ausländischen Besucher bisher begrüßt haben.

Doch die indische Regierung hatte es mit ihrer Informationspolitik so aussehen lassen, als hätten die ausländischen Touristen den Corona-Virus in Indien verbreitet. Dabei kann gefragt werden: Welche ausländischen Touristen?

"Touristen" und Tests

Das verdeutlicht ein Blick in die Statistik der indischen Regierung von 2019: Von den 17,42 Millionen "ausländischen" Touristen in Indien im Jahr 2018, waren 6,8 Millionen Non Resident Indians, also Inder, die im Ausland arbeiten und zu Besuch nach Hause kommen. Von den verbliebenen 10,56 Millionen "Touristen", kamen 2,25 Millionen aus Bangladesch: Die meisten von ihnen, um sich in Indien medizinisch behandeln zu lassen oder Geschäfte zu machen.

Weitere 2,5 Millionen Touristen kommen aus den USA und Großbritannien, also den beiden Ländern mit den meisten Indern mit neuer Staatsbürgerschaft. Genauso sieht es mit den "ausländischen" Touristen aus Australien, Canada und Malaysia aus, die auf den weiteren Plätzen folgen. Wenn es hoch kommt, reisen pro Jahr 5 Millionen tatsächliche ausländische Touristen nach Indien - allein die Stadt Berlin zählte im letzten Jahr 14 Millionen Gäste.

So überrascht der Inhalt eines Briefes nicht, den Rajiv Gauba, Cabinet Secretary of India, am 26. März an alle Chief Secretaries of States der Regierung schrieb (eine Kopie des Briefes liegt der Telepolis-Redaktion vor): Dort macht Gauba darauf aufmerksam, dass eine große Lücke klafft zwischen den 1,5 Millionen "internationalen" Reisenden, die eingereist sind, und denen, die überwacht werden (nur die etwa 100.000 ausländischen Touristen wurden in ihren Hotels unter Quarantäne gestellt). Zudem drängte Gauba darauf, endlich die Tests auf die heimische Bevölkerung auszuweiten.

Was Gauba damit meint: Am 30. Januar 2020 wurde der erste Corona-Fall in Indien entdeckt. Laut des Indian Council of Medical Research wurden in Indien bis zum 27. März nur 26.688 Personen auf das Corona-Virus getestet.

In den ersten beiden Tagen der Ausgangssperre sollen es ganze 2.000 gewesen sein. Erst die nächsten Wochen werden darüber Aufschluss bringen, wie weit sich das Virus wirklich schon in Indien verbreitet hat.

Modi lebt in einem anderen Indien

Schon mit dem Einbürgerungsgesetz (CAA) hat die hindunationalistische Modi-Regierung versucht, die Ausländer im Land, vorwiegend Bangladeschi, für die Probleme verantwortlich zu machen. Dabei ist es Indien, das wie kein Land der Erde sonst davon profitiert, dass 17,5 Millionen Inder im Ausland als Arbeits-Immigranten leben. Umgekehrt leben gerade einmal 5,6 Millionen Ausländer der Arbeit wegen in Indien.

In einer Rede an die Nation am Wochenende warb Narendra Modi um Geduld und Vertrauen in seine Maßnahmen. Die Rede klang so ähnlich wie die am 8. November 2016: Damals zog die Modi-Regierung über Nacht 88 Prozent des Bargelds aus dem Verkehr - angeblich, um dem Schwarzgeld auf die Spur zu kommen.

6 Tage später konnte an dieser Stelle nachgelesen werden, wie die Sache ausgehen würde: "Es wird nur die kleinen Fische erwischen" - und genauso kam es. 99,3 Prozent des Bargeldes wurde zurückgegeben, dafür vernichtete Modis Wahnsinnidee 10 Millionen Arbeitsplätze. Die Toten und das Leid, die der Wahnsinn verursacht hat, tauchen in keiner Statistik auf.

Auch 2016 lebte Narendra Modi scheinbar in einem anderen Indien, da ihm nicht bewusst gewesen war, wie wichtig Bargeld für die Mehrheit der Bevölkerung war und noch immer ist. Genau wie 2016 schiebt die Modi-Regierung jetzt die Verantwortung für die Bürger des Landes auf die Regierungen der 29 Bundesstaaten und 7 Unions-Territorien ab.

In Indien an jeder Ecke zu finden - die Tschai Bude. Deren Schließung dürfte aktuell Hunderttausende ohne Einkommen dastehen lassen. Foto: Gilbert Kolonko

Regen und Hagel haben die aktuelle Weizen- und Rapsernte in vielen Bundesstaaten schwer beschädigt. Die Hitze mit bis zu 50 Grad ist im Anmarsch. Anschließend kommt der Monsun, bei dem die indischen Großstädte regelmäßig unter Wasser stehen.

Dazu hat die Modi-Regierung seit fünf Jahren Hass zwischen den Religionsgruppen gesät, auch zwischen den hinduistischen Kasten: Die Vorgängerregierung der indischen Kongress Partei hat mit Quoten auf Regierungsstellen und Studienplätzen dafür gesorgt, dass auch Gruppen wie die Dalits, die sogenannten Unberührbaren, in die Gesellschaft integriert werden konnten.

Indische Realitäten in Kolkata - ein Viehhirte treibt seine Ziegenherde zum Grasen in den Stadtpark. Foto: Gilbert Kolonko

Doch die Modi-Regierung und ihre radikalen Hinduorganisationen stellten es in den letzten Jahren so dar, als liege es an den Quoten, dass ein "anständiger Hindu" keinen Job bekommt oder keinen Studienplatz. Dabei liegt das wohl eher an Rekordarbeitslosigkeit schon vor "Corona", auch das Wirtschaftswachstum schwächelt. Dafür legt Indien bei den Milliardären zu: im Jahr 2019 wurden das Land jeden Monat um drei Superreiche reicher.

Auch wie Kritik an dem schon verursachten "Corona-Chaos" unterdrückt werden soll, ist schon jetzt klar: Die Kritiker werden als anti-nationale Kräfte dargestellt und die nationale Einheit in der Krise beschworen.

Wenn es Narendra Modi wirklich um die Gesundheit seiner Bevölkerung geht, warum sind ihm dann bisher die 1, 2 Millionen Inder egal gewesen, die jedes Jahr an den Folgen von Luftverschmutzung gestorben sind? Auch die mindestens 200.000 Inder, die an den Folgen von verdrecktem Wasser dahin siechen?

Indien, das sich rühmt, Atommacht zu sein, hat ein Gesundheitssystem, das in weiten Teilen des Landes katastrophal ist. Auch unter Modi gehört Indien zu den größten Waffenkäufern der Erde, das sich zudem leistet, in Teilen von Kaschmir einen Soldaten für 30 Bürger abzustellen. Im 100 Millionen Einwohner-Bundesstaat Bihar dagegen gibt es auf 1.000 Einwohner 0,11 Krankenhausbetten, im Landesdurchschnitt 0,7 Betten.

Selbst wenn ab jetzt alle eingeleiteten Maßnahmen der indischen Regierung greifen sollten, und das werden sie nicht, wird es in Indien in den kommenden Monaten böse werden - gewaltig böse.