Inside Ukraine: Wie geht es Land und Menschen, Herr Lieven?
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Interview mit dem Ex-Kriegsreporter und Eurasien-Experten Anatol Lieven, der von einer Ukraine-Reise zurückgekehrt ist. Er berichtet über russische Raketen und die Ansichten der Ukrainer. Eindrücke im Vorfeld der erwarteten Gegenoffensive.
Anatol Lieven, ein ehemaliger Kriegsberichterstatter und Leiter des Eurasien-Programms des Quincy-Instituts, reiste im letzten Monat in die Ukraine, um vor Ort zu recherchieren, und bekam mehr zu sehen, als er erwartet hatte.
Nachdem er mehrere Tage in Kiew und Butscha verbracht hatte, verunglückte er in Saporischschja, dem Ziel regelmäßiger russischer Bombardierungen, und verbrachte dort eine Woche im Krankenhaus. Anlass für eine interessante Feldarbeit.
Lieven ist nun zurück in Großbritannien. Kelley Beaucar Vlahos, Redaktionsleiterin von Responsible Statecraft, hatte die Gelegenheit, mit ihm ein Interview zu führen.
Sie waren letzten Monat zu Forschungszwecken in der Ukraine. Wohin hat Sie Ihre Reise geführt?
Anatol Lieven: Ich startete meine Reise in Kiew und besuchte für drei Tage Butscha und andere Städte nördlich von Kiew, wo es zu Beginn der russischen Invasion vor einem Jahr zu Kämpfen kam und wo ein Großteil der berichteten russischen Gräueltaten stattfand.
In der Südukraine besuchte ich die Städte Dnipro und Saporischschja. Und in Saporischschja hatte ich einen dummen Unfall – der nichts mit dem Krieg zu tun hatte –, der mich mit gebrochenen Rippen und einer verletzten Lunge in das städtische Krankenhaus Nummer Fünf brachte.
Eine Erfahrung, die ich nicht wiederholen möchte, aber sie ermöglichte mir einige lange, entspannte Gespräche mit Mitpatienten und den Krankenschwestern. Ich konnte auch den russischen Luftangriff auf eine ukrainische Stadt beobachten, was lehrreich gewesen ist.
Als man mich dann aus dem Krankenhaus entließ, wurde ich wieder nach Kiew zurückgebracht, wo ich mich noch ein paar Tage erholte und mich mit Leuten treffen und besprechen konnte. Insgesamt habe ich also drei Wochen dort verbracht.
Was haben Sie aus den Gesprächen mitgenommen?
Anatol Lieven: In den Gesprächen mit den Militärveteranen sind mir verschiedene Dinge aufgefallen. Ein Punkt ist das Ausmaß, in dem sich der Krieg im Osten zu einer sehr blutigen Pattsituation entwickelt hat. Es ist ein Krieg der Artillerie, aber auch ein Krieg der Minen.
Einer der Gründe, warum sich die Front nicht sehr bewegt, ist, dass der Boden absolut mit Minen verseucht ist, sowohl mit Antipersonen- als auch mit Panzerminen. Wie ein Soldat mir sagte, orientiert sich das russische Vorgehen nicht nach der Logik von "Menschenwellen", wie es manchmal in den westlichen Medien beschrieben wurde.
Die Russen werden weiter mit ihrer überlegenen Artillerie auf die ukrainischen Stellungen niedergehen und sie dann, wenn sie glauben, sie hätten die ukrainischen Stellungen zerschlagen, mit kleinen Gruppen von Soldaten versuchen, sie zu besetzen, und anschließend Verstärkung heranbringen.
In Bachmut und Umgebung setzen die Russen nicht mehr oft Panzer ein, weil die Ukrainer so viele von ihnen zerstört haben. Und da sich die Ukrainer inzwischen sehr gut festgesetzt haben, erleiden die Russen in der Regel Verluste und kehren um, oder werden von Minen in die Luft gesprengt. Es ist also ein aufzehrender Zermürbungskrieg geworden.
Wir hören hier immer wieder Geschichten über verzweifelte Rekrutierungsversuche auf ukrainischer Seite. Hatten Sie den Eindruck, dass das der Fall ist?
Anatol Lieven: Die Soldaten, mit denen ich gesprochen habe, berichteten alle von einer sehr hohen Moral in der Armee und der Entschlossenheit, bis zum vollständigen Sieg weiterzukämpfen. Aber ich habe in Kiew gehört, dass es auf dem Online-Chatdienst Telegram Chatrooms gibt, in denen sich junge Männer gegenseitig Tipps geben können, wo die ukrainische Polizei versucht, junge Männer aufzuspüren, die sich bisher der Einberufung entzogen haben. Das zeigt, dass Teile der jungen männlichen Bevölkerung nicht bereit sind, ihren Dienst zu leisten.
Ein weiterer Punkt, der mir während meiner Zeit in Kiew sehr auffiel, war das Ausmaß, in dem die wohlhabenden Schichten, einschließlich der in Reichtum aufgewachsenen Jugend, weiterhin ein privilegiertes, begütertes Leben führen. Die Luxusrestaurants und -geschäfte sind gut gefüllt.
Ich habe ein Geschäft für Luxuslebensmittel besucht, in dem es 68 verschiedene Rumsorten – und Rum ist kein ukrainisches Getränk – und 106 verschiedene Sorten Prosecco und Champagner gab, wobei die teuerste Flasche 600 Dollar kostet. Man kann sich vorstellen, dass so etwas Soldaten, die von der Front zurückkehren, sehr wütend machen kann.
Nun weiß man nicht, woher das Geld für all das kommt. Aber natürlich schürt es auch die Wahrnehmung von Korruption und den Unmut über die Eliten in der ukrainischen Gesellschaft. Das könnte ein Faktor in der zukünftigen ukrainischen Politik werden.