Ioannidis: Zero-Covid-Ideologie beherrschte die Corona-Wissenschaft
Epidemiologe wurde für Lockdown-Kritik geschmäht. Kann er seine Reputation mit einer Studie zur "False Balance" wiederherstellen? Ein kritischer Blick.
Der Virologe Christian Drosten war dabei, die Virologin Isabella Eckerle war dabei, die Virologin Melanie Brinkmann, der Soziologe Heinz ("Folgebereitschaft herstellen) Bude, sogarJournalist Georg Restle und Aktivistin Luisa Neubauer trommelten auf Twitter und Co. Unter Jacinda Ardern verfolgte mit Neuseeland sogar ein ganzes Land eine Pandemie-Strategie nach chinesischem Vorbild, die sich im Nachhinein als massiver Fehlschlag herausstellen sollte.
Das vernichtende Urteil der Realität straft sowohl diejenigen Lügen, die im Zuge einer "Zero-Covid"-Strategie per radikaler Maßnahmen die Fallzahlen "auf nahezu null" zu bringen suchten als auch diejenigen, die einen vermeintlich weniger radikalen Kurs mit dem Ziel einer "Inzidenz von unter 10 auf 100.000 Personen" verfolgten.
Ja, es gibt einen Unterschied zwischen den beiden Ansätzen, das übermäßige Vertrauen auf die nicht pharmazeutischen Interventionen macht sie aber lediglich zu zwei Formen desselben Fehlers.
Zwei jüngst veröffentlichte Publikationen werfen – kurz nach dem Tumult um die RKI-Files – ein neues Licht darauf, wie verbreitet dieser Fehler in der wissenschaftlichen Debatte war. Der bekannte Urheber dieser Studien harrt indes weiter seiner Rehabilitierung.
Rufschädigung durch die Süddeutsche Zeitung
Der renommierte Epidemiologe und Medizinstatistiker John P. Ioannidis zählt zu den Personen, die früh vor den genannten Fehlern warnten. Sein Renommee überlebte die Corona-Krise jedoch nicht.
In einem von vielen polemischen Artikeln in der deutschen Medienlandschaft markierte die Süddeutsche Zeitung Anfang 2021 Ioannidis’ Transformation zu einem "schillernden Wissenschaftler". "Stanford" hatte, wie später der Spaziergang, seine Unschuld verloren.
Der Grund für den rufschädigenden Artikel: In einer seiner Studien argumentierte Ioannidis, dass ein verschärfter Lockdown keinen wesentlichen Nutzen bringe. Diese Ansicht stieß auf Kritik von Experten wie Gerd Antes, der betonte, dass die Studie lediglich die Wirksamkeit von Nicht-pharmazeutischen Interventionen (NPI) infrage stelle, ohne sie vollständig zu widerlegen.
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Dass die Grundrechte beschneidende Maßnahmen nicht widerlegt, sondern in erster Linie belegt und auf ihre Verhältnismäßigkeit hin geprüft werden müssten, das schien dagegen nicht der allgemeine Anspruch zu sein.
Nun hat Ioannidis bereits einmal recht behalten, als er die astronomischen Projektionen des "Professor Lockdown" Neil Ferguson für Nonsens erklärte (siehe Telepolis-Serie "Zehn Störfaktoren der freien Wissenschaft").
Mit Blick auf die desaströsen Implikationen der Zero- bzw. No-Covid-Ansätze und deren Verbreitung in der Fachliteratur tritt er jetzt erneut einen Beweis für seine Behauptung an: "die Wissenschaft" verfiel in der Krise zum Vehikel der Ideologie.
"NPI": Kollateralschäden von Lockdowns und Co
Begleitet wird er dabei von Kevin Bardosh, promovierter medizinischer Anthropologe und Implementierungswissenschaftler an der University of Edinburgh, spezialisiert auf die Epidemiologie und Kontrolle von durch Menschen, Tiere und Vektoren übertragene Infektionskrankheiten.
Bardosh hatte bereits im vergangenen Jahr in einer Studie die Behauptung des (später geschassten) Gesundheitsministers des UK, Matt Hancock zu widerlegen gesucht, wonach Lockdowns als lebensrettende Maßnahme samt ihrer gesundheitlichen Kollateralschäden alternativlos gewesen seien.
Zu diesem Zweck hatte Bardosh 600 frühere Arbeiten aus der ganzen Welt über die Auswirkungen der NPI, einschließlich der Lockdowns, ausgewertet. In der Studie hält Bardosh fest, dass viele Vorhersagen unabhängiger Wissenschaftler eingetreten sind, darunter …
… ein Anstieg der nicht-Covid-bedingten Übersterblichkeit, eine Verschlechterung der psychischen Gesundheit, Kindesmissbrauch und häusliche Gewalt, zunehmende globale Ungleichheit, Ernährungsunsicherheit, verlorene Bildungschancen, ungesunde Lebensgewohnheiten, soziale Polarisierung, steigende Verschuldung, demokratische Rückschritte und ein Rückgang der Menschenrechte". Kevin Bardosh
Auf die beiden Studien unter Leitung von John Ioannidis, die mittelbar an diese Beurteilung von restriktiven NPI anschließen, ist Bardosh in einem Artikel auf dem britischen Portal UnHerd eingegangen.
Wiederkehr der "False Balance"
Die erste Studie – unter alleiniger Urheberschaft von Ioannidis – beruht auf der Analyse von Veröffentlichungen im British Medical Journal (BMJ). Ioannidis vergleicht darin die Anzahl der Artikel von Wissenschaftlern, die Zero Covid befürworteten, mit denen anderer wissenschaftlicher Gruppen wie der offiziellen Regierungsberatung Sage und den Unterzeichnern der Great Barrington Declaration (GBD).
Wie Bardosh schreibt, führen die Ergebnisse dieser Studie eine deutliche Diskrepanz zutage: Demnach veröffentlichten Zero Covid-Befürworter 272 Artikel, während Sage-Mitglieder nur 21 und GBD-Unterzeichner lediglich sechs Artikel veröffentlichten.
Viel Meinung und Analyse
Diese Unterschiede resultierten hauptsächlich aus der hohen Anzahl von Meinungs- und Analyseartikeln, die weniger strengen redaktionellen Kontrollen unterlägen, meint Bardosh.
Die zweite Studie, an der auch Bardosh selbst beteiligt ist, untersucht die Zusammensetzung eines großen "Konsens"-Papiers in der Fachzeitschrift Nature. Besagtes Papier, welches 2022 veröffentlicht wurde, fordert eine globale Strategie zur Beendigung der Pandemie durch einen "Vaccine-Plus"-Ansatz, der neben Impfstoffen auch andere Maßnahmen und Interventionen umfasste.
Ioannidis’ Erkenntnisse
Von den mehr als 350 beteiligten Wissenschaftlern waren 35 Prozent der Kernstudienteilnehmer und fast 20 Prozent der gesamten Panel-Mitglieder des Peer-Reviews prominente Figuren der Zero Covid-Bewegung.
Diese beiden Arbeiten belegen Bardosh zufolge, was viele Wissenschaftler während der Pandemie erlebten. Dass nämlich "Gatekeeping" führender Fachzeitschriften, die offizielle Regierungspositionen begünstigten und Arbeiten ablehnten, die ihnen gegenüber kritisch waren.
Chefredakteur von The Lancet interveniert
Als weiteres Beispiel für hochrangige Wissenschaftler, die den Zero-Covid-Ansatz unterstützten oder zumindest damit sympathisierten, führt Bardosh Richard Horton an, Chefredakteur der weltweit renommierten Fachzeitschrift The Lancet.
Auch diese veröffentlichte im Oktober 2020 einen Meinungsartikel, der sich auf den "wissenschaftlichen Konsens" berief. Jenes "John Snow Memorandum" kritisierte die Great Barrington Declaration, befürwortete maximale Interventionen und führte die Zero-Covid-Nationen Vietnam und Neuseeland als Positivbeispiele an.
Die in der Corona-Krise viel beklagte "False Balance" scheint demzufolge eher zugunsten der radikalen NPI-Befürworter auszufallen.
"Falsche Realität geschaffen"
Über die Folgen dieser "impliziten Vorurteile" in sehr streng redigierten Fachportalen wie dem Lancet schreibt Bardosh:
Unter anderem schufen (diese Vorurteile) während der Pandemie eine falsche Realität und eine falsche Wahrheit, dass wir das Virus ausrotten könnten. Diese Hybris war für einige der schlimmsten politischen Entscheidungen unseres Lebens verantwortlich und hat der realen Welt weitreichenden Schaden zugefügt. Kevin Bardosh
Er kritisiert, dass führende medizinische Zeitschriften bis heute ein verzerrtes Verständnis der Pandemie befördern und die Schäden durch Regierungsmaßnahmen nicht ausreichend thematisieren.
Fest macht Bardosh das an den drei jüngsten Serien im BMJ, die sich der "Verantwortlichkeit" und den "Lehren" aus der Pandemiebekämpfung im UK, den USA und Kanada widmen.
Von 25 Artikeln, so Bardosh, befasst sich kein einziger mit den Schäden der staatlichen Maßnahmen. Mehr noch: Stattdessen herrsche die Meinung vor, dass die Politik mehr hätten tun sollen, um die Menschen vor dem Virus zu schützen.