Irak-Iran: 2:1

Übertragung des Matches auf dem Tahrir-Platz in Bagdad. Screenshot: Video-Twitter Mustafa Al-Khaqani

Ein Fußballspiel und die Proteste im Irak

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Im WM-Qualifikationsspiel am Donnerstag gewann die irakische Nationalmannschaft gegen die iranische mit 2:1. Das Spiel wurde in der jordanischen Hauptstadt Amman ausgetragen, weil man aufgrund der politischen Spannungen im Irak kein Heimspiel der irakischen Mannschaft riskieren wollte. Es kam - so die Nachrichtenlage am späten Donnerstagabend - bislang zu keinen nennenswerten Ausschreitungen, wie man sie etwa von Spielen nordafrikanischer Mannschaften kennt.

In Bagdad wurde das Spiel auf einer Großleinwand im von Massen besuchten Tahrir-Platz angeschaut und der Sieg der irakischen Mannschaft lautstark bejubelt. Auch der staatlich finanzierte iranische Sender Press TV zeigte Aufnahmen von dem Platz in Bagdad, der bei den gegenwärtigen Protesten im Irak zu einem Medien-Schauplatz wurde. Die giftigen politischen Bemerkungen zu Press-TV-Posting kommen lediglich von den "Drukos", Twitter-Besuchern, die mit das Posting unterhalb kommentieren.

Die Rivalitäten halten sich in sportlichen Grenzen

Auch im Süden Iraks, in Basra, wurde das Spiel offenbar von einer größeren Menge gesehen. Twitter-Postings unterschreiben die Bilder mit den beeindruckenden Mengen an Menschen gerne mit dem Hashtag #IraqProtests. Die Absicht ist klar. Die Bilder sollen neu dokumentieren, dass es im Irak gerade eine Massenbewegung gibt, die sich auch jetzt wieder versammelt, eine große, enthusiastische Menge von Menschen, die emotional bewegt ist, die Dinge verändern will. Bei einigen Postings steht dabei, dass das Erlebnis des Sieges im Fußballmatch gegen Iran die Proteste neu anfachen wird.

Zum Glück gibt es bislang, wie oben erwähnt, keine Zeichen für Ausschreitungen. Die Spannungen halten sich in Grenzen. Es überwiegt der Eindruck, dass es ein Spiel zwischen Nachbarstaaten ist, unter denen es, wie man das auch aus Europa kennt, besondere Rivalitäten gibt. Man nennt das Derby.

Dies so zu sehen, ist aber nicht selbstverständlich, wenn man sich die Berichte der letzten Wochen über die Proteste im Irak vor Augen hält. In der US-amerikanischen, französischen und britischen Berichterstattung wurde zuletzt viel Aufmerksamkeit darauf verwendet, wie unzufrieden die Iraker mit dem Einfluss aus Iran sind.

Der Tenor bestand überwiegend darin, dass der Leser den Eindruck gewann, die irakische Bevölkerung will die schiitischen Milizen, die mit Iran verbunden sind, und auch andere Vertreter des iranischen Einflusses mit Vehemenz loswerden. Sie sind Quellen einer Verärgerung.

Dafür finden sich auch Aussagen, Bilder und Argumente - aber eben möglicherweise nicht so drastisch und allgemeinverbindlich, wie es als großes Bild geschildert wird.

Zündschnüre

Angesichts der besonderen Situation Iraks gehen solche Akzentuierungen und Zuspitzungen der Situation mit dem Risiko einher, einen Bürgerkrieg anzustacheln oder für Chaos zu sorgen. Im Irak sind sich die Großkonfliktparteien USA und Iran sehr nahe, der irakisch-iranische Krieg ist nicht lange her und mit dem Einmarsch der US-Truppen mit ihren Verbündeten im Jahr 2003 wurden die Machtverhältnisse zwischen Sunniten und Schiiten verändert.

Eine neue stabile politische Ordnung hat sich bislang trotz einiger und sogar wesentlicher Fortschritte nicht eingestellt. Die Unzufriedenheit mit den Verhältnissen - miserable Versorgung der breiten Bevölkerung, begleitet von einer Korruption, für die Superlative nicht mehr reichen - währt schon lange. Alljährliche Proteste in Basra waren dafür nur ein auffallendes Symptom unter mehreren. Diese Situation lässt sich leicht weiter schüren, wovor Landeskenner auch warnen.

Tote und Gewalt, Proteste als Alibi für eigene Rechnungen

Weit über 300 Tote ist die bisherige Bilanz der Proteste, die Anfang Oktober begannen. Täglich, so scheint es, werden neue Opfer gemeldet. Niemand kann aber genau sagen, wer sie zu verantworten hat. Ein Großteil geht auf das Konto irakischer "Sicherheitskräfte", unter denen es verschiedene Fraktionen gibt, regelmäßig gibt es Bilder und Berichte von unbekannten Scharfschützen, die harmlose Demonstranten umbringen. Ungenannte irakische Sicherheitskreise äußerten gegenüber Reuters, dass Scharfschützen von Milizen kommen, die eng mit Iran verbunden sind.

Dass Hauptquartiere politischer Gruppierungen in Brand gesteckt wurden, verweist darauf, dass die Proteste auch als "Alibi" genutzt werden können, um politische Rechnungen ganz eigener Art zu begleichen oder aufzumachen. Auch die Mitwirkung des schiitischen Geistlichen und politischen Führers, Muqtada as-Sadr, ist ein deutliches Zeichen dafür, dass der Aufruhr für eine eigene politische Agenda benutzt wird.

System-Kritik - die Regierung ist in der Klemme

Die Deeskalation ist schwieriger als das Anschüren von Animositäten. Das ist das Zwischenergebnis der öffentlichen Beschwichtigungs-Aufrufe des einflussreichen Ayatollah Ali-Sistani (dessen Aufruf 2014 die Popular Mobilization Units (PMU, al-hashd al-shaabi) ins Leben gerufen hatte) und die Reformpläne, die die Regierung in Bagdad vorgelegt hatte. Nach einer kurzen Pause gerieten die Proteste wieder zu Ereignissen mit tödlichem Ausgang für Demonstranten.

Es gibt keine Anführer, die genau identifiziert werden, aber es gibt Forderungen, zum Beispiel nach Neuwahlen und einer neuen Regierung, zumal dem Premierminister Adel Abdul Mehdi angelastet wird, dass er hauptsächlich für die Gewalt verantwortlich ist wie auch für die Politik, die zu den Protesten geführt hat.

Die jetzige Regierung will Rücktrittsforderungen, so lange es irgend geht, nicht nachgeben, sondern sieht zu, dass sie sich mit harten Vorgehen der Sicherheitskräfte und politischen Reformen so lange wie möglich halten kann (unterstützt von auswärtigen Ländern, wie auch Russland, die ein Interesse daran haben, dass der Irak stabil bleibt). Dennoch: Die Kritik richtet sich längst gegen das übernommene autoritäre System, das "neu demokratisiert" werden soll. Die Frage ist, wer das konkret formulieren und politisch in Gestalt bringen kann und mit welcher Unterstützung.

Politisch debattiert werden konkret derzeit Reformen zum Wahlrecht - diskutiert wird etwa, ob ein Präsidialsystem mit Direktwahl des Präsidenten für klarere Verhältnisse und eine effektivere Politik sorgen können. Auch eine Neuverteilung der Öleinnahmen steht auf der Agenda.