Israel: Der Status quo funktioniert nicht mehr

Demonstration gegen die geplante Justizreform, am 8. April 2023. Foto: Oren Rozen/CC BY-SA 4.0

Wut, Streit und Konflikt prägen den Unabhängigkeitstag. Die ultrarechte Regierung will extrem einschneidende Dinge durchsetzen. Was auf dem Spiel steht.

Jom HaSikaron wird in Israel normalerweise von einer gedrückten Stimmung geprägt: Die Menschen gedenken der gefallenen Soldaten, der Opfer von Anschlägen, besuchen ihre Gräber. Mit Einbruch der Dunkelheit geht das Gedenken dann in eine Feier über: Der Unabhängigkeitstag hat begonnen.

Menschen schrien auf Friedhöfen Politikerreden nieder

Doch dieses Mal wurde der Tag von Wut, Streit, Konflikt geprägt. Vom Gefühl der nationalen Einheit über die Grenzen von Ideologie, Politik, Herkunft hinweg, das die Staatsgründer mit diesem sorgsam geplanten Ablauf hatten schaffen wollen, ist rund um den, nach jüdischem Kalender, 75. Jahrestag der Unabhängigkeit Israels nichts mehr zu spüren.

Menschen schrien auf Friedhöfen die Politikerreden nieder, gerieten untereinander aneinander. An einigen Orten verhinderten Hinterbliebene, dass Regierungsvertreter den Friedhof betreten konnten. Im Mittelpunkt, auf den ersten Blick: Die Justizreform, die die ultrarechte Regierung von Premierminister Benjamin Netanjahu unbedingt durchsetzen will.

Mehr, viel, viel mehr Siedlungsbau

Seit 16 Wochen gehen dagegen Hunderttausende auf die Straße, während die Befürworter höchstens ein paar Zehntausend und das auch nur mit extremster Mühe zusammen bekommen. Aber dafür umso lauter darauf bestehen, dass die Rechten ja die "Mehrheit" hätten, und es völlig undemokratisch sei, dass Gerichte dann einfach per Urteil die Entscheidungen abmoderieren können.

Das Problem dabei ist: Es sind extrem einschneidende Dinge, die die Rechten nun durchsetzen wollen. Mehr, viel, viel mehr Siedlungsbau. Schon jetzt leben mindestens 450.000 Israels im Westjordanland und 220.000 in Ost-Jerusalem, ist nur sehr schwer vorstellbar, wie eine Zweistaatenlösung in der Praxis umgesetzt werden könnte. Irgendwann würde es völlig unmöglich.

Außerdem möchte die Regierung die Justiz umbauen: Künftig sollen Richter von der Politik ernannt werden, soll die einfache Mehrheit der Parlamentsmitglieder Urteile des Obersten Gerichtshofs überstimmen können. Da jede Regierung immer mindestens 61 von 120 Parlamentsmitgliedern hinter sich braucht, könnten Gesetze künftig auch sehr grundlegende Rechte verletzen, ohne dass das höchste Gericht des Landes dagegen etwas ausrichten könnte.

Ein Beispiel: Vor einigen Wochen gab Netanjahu bekannt, dass er Verteidigungsminister Joav Galant feuert, nachdem der die Pläne kritisiert hatte. Es kam zu spontanen Massenprotesten und, zum allerersten Mal, einem gemeinsamen Generalstreik von Wirtschaft und Gewerkschaften.

"Nationalgarde" oder "Privatarmee"?

Der Regierungschef musste am Ende zusagen, die Justizreform erst einmal auf Eis zu legen. Und um Itamar Ben Gvir, ein rechtsradikaler Anwalt, gegen den mehr als 50 Mal gegen Anstachelung zum Hass ermittelt wurde, und jetzt trotzdem Polizeiminister, zu besänftigen, versprach ihm Netanjahu eine "Nationalgarde", die nur ihm allein unterstellt sein soll.

Israelische Medien bezeichneten das als "Privatarmee"; selbst enge Vertraute Netanjahus waren entsetzt, weil das rechtlich aktuell gar nicht möglich ist. Würde die Justizreform Wirklichkeit werden, könnte die Regierungsmehrheit das einfach so beschließen und dann das zu erwartende Veto des Obersten Gerichtshofs einfach niederstimmen.

Aber die Mehrheit will das doch so, wird nun wahrscheinlich jemand einwenden. Deshalb lohnt sich ein Blick auf das Ergebnis der letzten Parlamentswahl im November. Netanjahus Likud, das rechtsradikale Wahlbündnis "Religiöser Zionismus" und die beiden ultraorthodoxen Parteien erhielten zusammen 64 Sitze.

Die Mehrheitsverhältnisse

Das ist eine parlamentarische Mehrheit. In Prozenten kam man zusammen auf 48,36 Prozente der abgegebenen Stimmen. Das ist dann schon keine Mehrheit mehr. Grund dafür ist die Wahlhürde von 3,25 Prozent, die kleinere Parteien aus dem Parlament fernhalten soll. Eigentlich sollte sie das Regieren einfacher machen, weil traditionell Fraktionen im zweistelligen Bereich im Parlament vertreten sind.

Doch der beabsichtigte Effekt ist ausgeblieben; die Zahl der Fraktionen ist zweistellig geblieben. Hätte es keine Wahlhürde gegeben, wäre dies passiert: Es wären drei zusätzliche Fraktionen aus dem linken und arabischen Spektrum ins Parlament eingezogen; die derzeitigen Regierungsparteien wären von 64 auf 58 Sitze abgesackt. Und hätten sie nicht mehr, diese Mehrheit.

Völlig verschwunden ist die Mehrheit, wenn man die Stimmenzahl der vier Regierungslisten an der Zahl der Gesamtwahlberechtigten misst. Nur 33,95 Prozent aller Wahlberechtigten haben diese Parteien gewählt. Nun kann natürlich niemand sagen, was die 29,37 Prozent Nichtwähler denken.

Aber man kann es vermuten: Denn die Wahlbeteiligung bei den arabischen Wählern war gering; es ist nahezu ausgeschlossen, dass sie sich für eine der Regierungsparteien entschieden hätten. Deshalb lässt sich informiert vermuten, dass sich das Wahlergebnis bei einer höheren Wahlbeteiligung mit und ohne Wahlhürde weiter von den Rechten weg verschoben hätte.

Dass diese Zahlen nicht nur Theorie sind, lässt sich an der Größe, der Dauer der Proteste ablesen: Sie sind der Aufstand der Mehrheit gegen eine Minderheit, die das Land nach ihrem Gusto gestalten will. Die Pläne für die Justizreform und alles andere, was die Regierung so vorhat, sind aber auch ein deutliches Zeichen dafür, dass 75 Jahre nach der Unabhängigkeit der Status quo nicht mehr funktioniert.