Israel: Der Status quo funktioniert nicht mehr

Seite 2: Zäsuren: Warum die Rechten den Obersten Gerichtshof aushebeln wollen

Vor und nach der Unabhängigkeit wurde Israel so designed, dass alle Bevölkerungsgruppen die Möglichkeit hatten, in diesem Staat möglichst frei zu leben und an den Entscheidungsprozessen teilzuhaben.

Es wurde bewusst ein möglichst simples Wahlsystem gestaltet, um auch kleinen Gruppen und Einzelkandidaten den Einzug ins Parlament zu ermöglichen.

Man brauchte nur den 120ten Teil der abgegebenen Stimmen, das war’s. Und weil die einen religiös, die anderen säkular leben wollen, einige Religiöse gar die Existenz des Staats Israel ablehnen, wurde eine Art "leben und leben lassen" eingeführt, mit einigen gemeinsamen Nennern – zum Beispiel, dass öffentliche Einrichtungen grundsätzlich koscher sind und die Verwaltung am Schabbat geschlossen bleibt.

Zudem wurden Ultraorthodoxe vom Militärdienst freigestellt. Und es wurde auf eine Verfassung verzichtet. In vielen Anläufen zeigte sich, dass sie grundsätzlich immer die einen zulasten der anderen eingeschränkt hätte.

Wirklich reibungslos funktionierte dieser Kompromiss nie. Eingeschränkt wurde schon immer. So liegen familienrechtliche Angelegenheiten in den Händen von religiösen Gerichten und richten sich nach religiöser Gesetzgebung.

So kann sich eine jüdische Frau nicht ohne Zustimmung des Ehemannes scheiden lassen. Auch eine zivile Trauung ist nicht möglich. So ist es auch nicht möglich, in Israel über Religionsgrenzen hinweg zu heiraten. Zuerst müsste einer der Partner konvertieren. Oder man müsste im Ausland heiraten.

Doch auch Säkulare greifen öfter mal in die Bedürfnisse von Religiösen ein, zum Beispiel, indem sie fordern, auch Ultraorthodoxe zum Wehrdienst zu verpflichten. Seit Jahren wird darüber gestritten. Ergebnislos.

Die allergrößte Zäsur von allen war aber bislang die Besetzung des Westjordanlands, der Golanhöhen und des Gazastreifens im Sechstagekrieg 1967.

Anfangs dachte die damalige Regierung unter Führung der Arbeitspartei über eine simple Formel nach "Land für Frieden", während auch in der Partei einige forderten, die Gebiete als Sicherheitspuffer zu behalten, samt der palästinensischen Einwohner.

Das aber hätte eben auch eine Auseinandersetzung mit der Frage erfordert, welchen Status diese Menschen dann erhalten könnten. Denn der Definition nach soll Israel ein Staat mit überwiegend jüdischer Bevölkerung sein. Eine Integration der palästinensischen Gebiete samt seinen Einwohnern, hätte das damals geändert.

Doch sehr schnell besannen sich Rechte um den späteren Regierungschef Menachem Begin auf eine Richtung innerhalb der zionistischen Ideologie, die auf ein Groß-Israel abzielt.

Ursprünglich sollte in den 1930er-Jahren auch ein Großteil des heutigen Jordanien dazu gehören. Ab den 1970er-Jahren wurde das auf ein Israel plus Gaza, Westjordanland und Golanhöhen beschränkt, wobei auch innerhalb des Likud, in dem Begins Partei dann Anfang der 1970er-Jahre aufging, heute kaum jemand tatsächlich eine Einstaatenlösung laut fordert, weil damit nämlich ein sehr hässlicher Gedanke einhergeht.

Um die jüdische Natur des Staates zu bewahren, müssten für die palästinensische Bevölkerung unterschiedliche Rechte dauerhaft festgeschrieben werden. Oder aber: Man müsste von der jüdischen Natur abrücken.

Momentan wird das allein durch den Status als besetzte Gebiete begründet, wobei die allermeisten Palästinenser außerhalb von Ost-Jerusalem, die nicht die israelische Staatsbürgerschaft besitzen, innerhalb der palästinensischen Autonomiegebiete leben. Dort haben weder israelisches Zivil- noch Militärrecht Geltung.

Besonders schwierig wurde der Umgang mit den palästinensischen Gebieten aber auch dadurch, dass sich in den 1970er-Jahren eine Siedlerbewegung bildete, die die jüdische Besiedlung der besetzten Gebiete als aus der Torah abgeleitetes historisches Recht und sogar religiöse Aufgabe betrachtet.

Im Laufe der Zeit hat sich diese Bewegung verselbstständigt, auch unter dem Einfluss von sehr jungen Einwanderern aus den USA, Großbritannien und Frankreich, die die Siedlerbewegung idealisieren und romantisieren.

Organisationsstrukturen sind aufgebrochen, es haben sich, sehr oft unter dem Einfluss von rechten Rabbinern aus dem Umfeld der "Religiösen Zionisten", die nun in der Regierung sitzen, Kleingruppen gebildet, die sich unkontrolliert auf Hügeln breitmachen – das sind jene ungenehmigten Siedlungen, die die Regierung auf Betrieben der "Religiösen Zionisten" nun legalisieren will.

Dass man den Obersten Gerichtshof jetzt aushebeln möchte, liegt auch genau daran. Vielfach muss das Gericht seit einigen Jahren darüber befinden, ob Siedlungen geräumt werden müssen, und tut das auch regelmäßig, weil Siedler selbst das israelische Recht häufig brechen, oder der Oberste Gerichtshof feststellt, dass ein Gesetz internationales Recht verletzt.

Die rechten Organisationen, die die Siedlungen dann unterstützen, verschleppen mit hohem Aufwand jedes zeitnahe Urteil. Sehr viel schöner wäre es wohl aus ihrer Sicht, wenn die Regierung den Obersten Gerichtshof einfach per Parlamentsbeschluss abmoderieren könnte.

In den Umfragen ist Netanjahus Likud übrigens abgerauscht, ebenso wie die religiösen Zionisten. In keiner Umfrage hat die Regierung mehr eine Mehrheit. Und es ist absolut ausgeschlossen, dass irgendeine andere Partei mit Netanjahu eine Koalition bilden würde.