Ist Lars Klingbeil der Totengräber der SPD?

Seite 2: Ab 1972: Von nun an ging's bergab

Die traditionsreiche Partei mit einstmals internationaler Ausstrahlung und hoher Popularität sitzt auf einem absterbenden Ast. Bei der Europawahl Mitte letzten Jahres kam die SPD nur auf mickrige 13,9 Prozent der Stimmen. Wer glaubt, die Talsohle sei erreicht, der erinnere sich, dass das in der Vergangenheit auch behauptet wurde.

Es ist auch falsch zu glauben, die Probleme seien durch ein paar Korrekturen und Heftpflaster auszumerzen. Vielmehr befindet sich die SPD seit Jahrzehnten in einer sich verschärfenden Existenzkrise, die politisch begründet ist und tief in ihre Fundamente reicht.

Seit 1972 gehen alle Kurven für die SPD nach unten. Damals errang Willy Brandt rund 46 Prozent der Stimmen. Danach ging es stetig bergab auf nun gut 16 Prozent.

Es gab lediglich eine kleine Verschnaufpause in den 1990er-Jahren im Zug der Wiedervereinigung, nach 16 Jahren Kohlregierung (und dem damit verbundenen Wunsch nach Erneuerung), steigender Arbeitslosigkeit und dem Versprechen auf eine Wende durch die SPD.

Der Agenda-2010-Crashkurs

Die Sozialdemokraten setzten nach ihrem Wahlsieg 1998 die Agenda 2010 und Hartz IV durch. Statt gesellschaftlicher Modernisierung und Aufbruch erhielten die Deutschen in Ost und West Sozialabbau, Druck auf die Mittelschicht und Steuererleichterung für die Reichen.

Seitdem geht es für die SPD weiter in den Keller, während man ehern am neoliberalen Kurs festhält. 1998 machten noch über 20 Millionen Deutsche für die SPD ein Kreuzchen auf dem Wahlschein zum Bundestag, heute sind es nur noch gut acht. Bei der letzten Bundestagswahl erhielt man sogar in der einstigen SPD-Hochburg Nordrhein-Westfalen nur noch 20 Prozent der Stimmen.

Auch die Mitgliederzahlen schrumpfen seitdem, ähnlich wie das in den Kirchen zu beobachten ist. 1990 lagen sie bei rund eine Million. Heute sind es nur noch 357.000, rund ein Drittel vom damaligen Wert.

Im letzten Jahr hat die CDU die SPD sogar überholt und ist mit 365.000 nun die mitgliederstärkste Partei. Währenddessen hat die Linkspartei ihre Zahl seit Mitte 2024 verdoppelt auf 110.000 Mitglieder – mit einer klaren progressiven Agenda, vom Sozialen über das Klima bis zum Flüchtlingsschutz.

Die Basis stirbt

Dazu kommen eine drastische Überalterung der Mitglieder, was auch bei den Wähler:innen zu beobachten ist. Der Partei stirbt die Basis weg, während der junge Nachwuchs andere Wege geht. Marco Bülow, langjähriger SPD-Bundestagsabgeordneter, bis er 2018 die Partei frustriert verließ, schätzt, dass zudem nur etwa zehn Prozent der Mitglieder überhaupt aktiv seien und sich an der Willensbildung beteiligten.

Früher war die SPD eine lebendige politische Plattform. Anfang des 20. Jahrhunderts bis zur Machtergreifung der Nazis betrieb man Verlage und Zeitungen, organisierte Treffpunkte, Gesprächskreise und unterhielt ein Netzwerk von sozialen Organisationen. Es war eine von Arbeiterinnen und Arbeitern bewegte Partei.

Später waren es Ortsvereine, Gewerkschaften und Betriebsräte, die aktiv von unten mitwirken konnten, auch Intellektuelle wurden von Brandts Leitspruch "Mehr Demokratie wagen" angezogen. Das ist heute vielfach zerstört oder nur noch in Rudimenten vorhanden.

Bülow spricht von einer hierarchischen Führung von oben, einer fatalen Beschallung, die die Partei von innen aushöhlt. Die SPD ist eine an der Basis absterbende bzw. in Teilen schon abgestorbene Partei, obwohl viele Genoss:innen in den Kommunen engagierte Arbeit leisten.

Die Deutschen ticken links von der SPD

Es gibt natürlich eine Reihe von Gründen, warum sich die Sozialdemokratie im Niedergang befindet. Aber der Kern besteht darin, dass die SPD keine progressive, sozialdemokratische Politik mehr anbietet und dafür eintritt.

Vielmehr fährt sie, wie Union und FDP, einen Kurs gegen die Präferenzen der Bevölkerungsmehrheit. Die meisten Deutschen verlangen nämlich einen sozialen Ausgleich, faire Besteuerung des Reichtums und einen funktionierenden Sozialstaat, der sich um die Bürger:innen kümmert. Sie wollen eine gerechte Republik.

Dem folgt die Realpolitik der SPD aber schon lange nicht mehr. Das gilt nicht nur für Deutschland. Die Krise der Sozialdemokratie ist in vielen europäischen Ländern zu beobachten, wenn auch in unterschiedlicher Form. Sie startete mit der Durchsetzung des so genannten Finanzkapitalismus und der Investoren- und Konzern-Globalisierung.

Klassenkrieg: Wir siegen!

Das fand in den 1970er-Jahren unter Führung von US-Präsidenten Ronald Reagan und der britischen Premierminister Magret Thatcher statt. Die Finanzindustrie wurde dereguliert, sodass Investoren und Unternehmen über nationale Grenzen hinweg einen Standortwettbewerb um die niedrigsten Arbeitsstandards und Löhne anheizen konnten.

Das führte zu Outsourcing, Deindustrialisierung, Massenarbeitslosigkeit, Kommerzialisierung von staatlichen Dienstleistungen und einer Schwächung der Gewerkschaften, während die Länder des Globalen Südens zu "Werkbänken" für die reichen Staaten wurden, die gleichzeitig durch den Profitdruck von Ausbeutung, Zerschlagung sozialer Strukturen, Schuldenregimen und Umweltverschmutzung geplagt werden.

Die SPD und andere sozialdemokratische Parteien passten sich dem neoliberalen Dogma an. Statt für eine faire, auf die arbeitende Bevölkerung ausgerichtete Wirtschafts- und Handelsarchitektur zu kämpfen, ergaben sie sich der "Alternativlosigkeit". Sie versuchten weiter, Kompromisse mit der Kapital- und Unternehmerseite zu erzielen – und verloren zunehmend den Machtkampf, der von der Gegenseite sehr erfolgreich geführt wurde.

Mehr und mehr löste die Unternehmerschaft den Sozialvertrag auf. Der US-Finanzinvestor und Milliardär Warren Buffet brachte das im Jahr 2006 gut auf den Punkt:

Es gibt Klassenkampf, das stimmt, aber es ist meine Klasse, die reiche Klasse, die Krieg führt, und wir gewinnen.

Die Sozialdemokraten als Krieger

Die SPD trägt eine große Verantwortung dafür, dass dieser Klassenkampf in Deutschland – und darüber hinaus auch in der EU – positiv für die obere Klasse und schlecht für den Rest ausging. Sie erschuf durch gesetzliche Regelungen Anfang der 2000er-Jahre einen der größten Niedriglohnsektoren mit vielen Millionen Arbeitenden in der EU, senkte die Steuern für die Reichen weiter und baute den Sozialstaat und die Sicherungssysteme ab.

Vier SPD-Regierungsbeteiligungen später herrscht in Deutschland die größte Ungleichverteilung der Vermögen in Europa, grassiert Armut und Obdachlosigkeit, verschlechtert sich die Infrastruktur, während der politische Frust wächst. Am Ende erhält die SPD als Quittung 16,4 Prozent der Stimmen, die AfD 20,8 Prozent.

Der Ökonom, Soziologe und SPD-Kenner Oliver Nachtwey warnte im Mai 2020 bei der Wahl der Parteilinken Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans in den Vorsitz, dass die SPD sich damit nicht vor ihrer eigenen Abschaffung schützen könne:

"Ihr verspäteter und verhaltener Kurswechsel stellt somit bloß die nächste Etappe einer andauernden 'Modernisierung' der SPD dar, die in ihrer völligen Auflösung zu enden droht."

Aus einer Massenpartei sei eine "Funktionärskörperschaft" geworden, "die gefühlt nur noch ihre eigene Misere verwaltet".

Sozialdemokratische Palastrevolte?

Die einzige Alternative zum Untergang wäre eine lebendige Erneuerung der Sozialdemokratie, die Werte nicht nur predigt, sondern in reale Politik gießt. Jeremy Corbyn in Großbritannien, Bernie Sanders in den USA oder Jean-Luc Mélenchon in Frankreich zeigen, wie solche Politikangebote aussehen könnten.

Die Partei müsste dafür nur dem folgen, was sie im Namen trägt, was sie groß und erfolgreich gemacht hat. Ohne eine radikale Steuer-Kehrtwende wird es dabei nicht gehen, auch nicht ohne Bekenntnis zu Koalitionen mit sozialdemokratischen Kräften wie der Linken und dem BSW.

Für eine derartige Wende wäre eine Palastrevolte nötig, die von der Zivilgesellschaft, Bewegungen und der Basis stimuliert werden könnte. Keine leichte Aufgabe. 2017 ließ sich beobachten, wie bereits zarte Versuche im Keim erstickt werden.

Der damalige Kanzlerkandidat der SPD, Martin Schulz, sprach von höherer Erbschaftssteuer und höheren Spitzensteuersätzen, was zu einem Umfragehoch führte. Er wurde aber schnell vom Establishment in die Spur gebracht, die SPD landete am Ende auf einem desaströsen 20,5-Prozent-Resultat.

GroKo-Logik und Verrat von 1919

Solange die sozialdemokratische Wende nicht stattfindet, wird sich die SPD-Führungsriege in die GroKo-Logik und die rechtskonservative Merz-Regierung einfügen, während Lars Klingbeil zum Totengräber der SPD werden könnte.

Einiges erinnert historisch an die SPD-Zustimmung zu den Kriegskrediten für den Ersten Weltkrieg und die brutale Niederschlagung von Arbeiteraufständen durch die sozialdemokratische Führungselite 1919, während sie sich an den bürgerlichen Eliten orientierte.

Danach sackte die SPD bei den Wahlen ein, verlor an Bindungskraft für die Arbeiter:innen und bahnte damit auch den Weg für die Machtübernahme der Nationalsozialisten. Heute sind es wieder Militärkredite und unsolidarisches Treten nach unten, gegen "Schmarotzer" und Andersdenkende, bei der die SPD mitmacht, um an der Macht zu bleiben.

Ein gefährliches Spiel mit dem Feuer.