Ist Putin ein Populist?
Das Pauschalurteil großer deutscher Medien: Ist Russlands Präsident Putin ein Vertreter oder sogar ein Anführer der europäischen rechtspopulistischen Bewegungen?
Für die deutsche Presse ist das Urteil schon lange gefällt - Putin ist ein Populist, wenn nicht der größte Populist von allen, Liebling und Leitfigur oder Idol der europäischen rechtspopulistischen Bewegungen. Wenn etwa das ZDF in einem Beitrag die "größten Tricks der Populisten" aufzählt, ist die Reihe der aufgezählten einschlägigen Spitzenpolitiker symptomatisch für deutschsprachige Berichte aus dem Mainstream: Orban, Trump, Le Pen, Erdogan und eben Putin.
Andere Medien gehen noch weiter. So spricht der CSU-nahe Bayernkurier sogar von "Putins Populisten", wenn er entsprechende Bewegungen analysiert und begründet diese Wortwahl mit der Verehrung, die westliche Populisten für den Kremlchef empfinden und den in der Tat guten Kontakten zwischen rechtspopulistischen Parteien und der obersten russischen Administration.
Populismus im Niedergang?
Aktuell - nach der Abwahl von Trump - ist viel die Rede von einem weltweiten Niedergang der populistischen Bewegungen, der auch in Russland bemerkt wird. Trumps Status als Rechtspopulist ist unter russischen Experten unumstritten. Laut Lev Sokolschik vom Moskauer Zentrum für europäische und internationale Studien geriet die gesamte Republikanische Partei vor Trumps Regierungszeit unter den Einfluss einer populistischen Ideologie. Diese basiert für Sokolschik auf einem System strikter Gegensätze "Freund oder Feind", einer moralischen Aufteilung der Gesellschaft in ein "edles Volk" und eine "korrupte Elite", also einer gesellschaftspolitischen Polarisierung.
Trump formte in seiner Amtszeit nach Meinung der russischen Zeitung gazeta.ru das Bild des weltweit bekanntesten Populisten, einen Bezugspunkt für populistische Kräfte in Europa. Diese seien nun geschwächt, nicht nur wegen Trumps Abwahl. Sondern auch weil Populisten in verschiedenen Staaten im Laufe der Zeit selbst ins Establishment hineinwuchsen, anstatt es zu bekämpfen und damit ihren radikalisierenden Schwung einbüßten.
Putin ist kein Teil der Bewegung
Die russischen Journalisten zählen bei ihrer Analyse in etwa die Beispiele auf, die das ZDF erwähnt - nur ein Beispiel fehlt: Russland selbst und Putin. Liegt das daran, dass die Zeitung sich nicht traut, den negativ besetzten Populisten-Begriff auf den eigenen Präsidenten anzuwenden?
Etwas ganz anderes ist der Fall: Es ist aus russischer Sicht völlig abwegig, Putin überhaupt als Teil dieser Bewegung zu sehen. Das zeigt zum Beispiel ein Artikel aus der sehr regierungskritischen russischen Onlinezeitung Republic von 2017, der mit der Aussage "Warum Putin kein Populist ist" überschrieben ist. Der Beitrag kritisiert den generellen Gebrauch des Populismusbegriffs für die pauschale Beschreibung aller möglicher als negativ empfundener politischer Bewegungen. Im Gegensatz dazu müsse man das Phänomen genau definieren. Was ist eigentlich Populismus?
Es gehe im Populismus um die Gegenüberstellung von "uns" (dem Volk) und "denen" (der Elite) in der Rhetorik, die zum Kampf gegen das Establishment gehört. Oder von "uns" (den Inländern) und "denen" (die Migranten), wenn es um die Rhetorik zur Abwehr von Einwanderung gehe. Beide Gegenüberstellungen bilden homogene Gemeinschaften, Zwischentöne gibt es nicht, beschreibt Republic das Weltbild von Bewegungen wie der AfD oder der Front National.
Die Konflikte seien für Populisten essentiell und vertragen sich am schlechtesten mit dem liberalen Versuch des balancierten Ausgleichs. Bei dieser Definition stimmen die Autoren von Republic mit der herrschenden Meinung im Westen überein.
Putin ist Establishment
Putin jedoch sei schon seit seinem ersten Regierungsantritt in Russland vor 20 Jahren das absolute Gegenteil eines Populisten. Er ist ein Vertreter des russischen Establishments, ins Amt gebracht von Jelzins Umfeld und Oligarchen. Wo Populisten ihre Anhänger politisieren möchten, um sie an ihrem Kampf zu beteiligen, strebe Putin laut Republic nach einer Entpolitisierung der Gesellschaft. Denn die russische Elite habe Angst vor dem Volk, jede Umwälzung sei ein Alptraum, alles solle bleiben, wie es ist. Das sei bei einer weitgehend politikfernen Bevölkerung am besten gewährleistet.
So klingen Selbstbild und Grundstrategie von Putins Umfeld mitnichten wie ein Abbild von Pegida-Demonstranten oder wütenden sogenannten "Querdenkern", sondern eher ein bisschen nach ländlicher, niederbayrischer CSU: Alles war in guten Zeiten immer so, wie es jetzt ist, lasst es uns im politischen Bereich ja nicht verändern, sondern Ruhe und Stabilität bewahren. Wer Veranstaltungen der Putinpartei in der Provinz miterlebt, wird noch auf weitere Parallelen zu deutschen Konservativen stoßen.
Inhaltliche Unterschiede zu AfD und Co.
So wie Putin und das ihn stützende russische Establishment mit Populisten, was Selbstverständnis und innenpolitische Strategie betrifft, nichts gemein haben, so sind auch die inhaltlichen Positionen trotz des bei beiden vorherrschenden, konsequenten national orientierten Konservativismus nicht so identisch, wie liberale westliche Medien ihren Zuschauern glauben machen wollen.
So eint alle rechtspopulistischen Bewegungen in Europa eine heftige Islamkritik und die Angst vor Überfremdung. Putin hingegen findet über den Islam in seinen Reden ausschließlich salbungsvoll-positive Worte, die nur Beobachter erstaunen, die vergessen haben, dass Russland die zahlenstärkste muslimische Bevölkerung Europas hat, deren Unterstützung sich der Präsident sichern will.
Fremdenfeindliche Töne wird man in Putins Reden ebenfalls nicht finden - im Gegensatz dazu betont er stets positiv den Charakter der Russischen Föderation als Vielvölkerstaat und die große Bedeutung einer multiethnischen Zusammenarbeit. All das natürlich pragmatisch vor dem Hintergrund der Bewahrung des Status quo. Dafür ist es nötig, die vielen in Russland lebenden Minderheiten wie Tataren, Baschkiren, Osseten, Mari und viele andere hinter dem von den Russen dominierten Moskauer Establishment zu vereinen.
Ebenso inhaltlich nicht auf einer Linie mit den Rechten Westeuropas ist das russische Establishment rund um Putin übrigens beim Spaltthema "Corona und Impfung" - die generelle Wissenschaftskritik vieler Rechtspopulisten ist unter den Konservativen Russlands weniger verbreitet. Hier besteht in Russland eher eine Fortschrittsgläubigkeit, die noch aus der sowjetischen Tradition des Raumfahrer- und Wissenschaftsvolks stammt.
Populisten in Russland
Das bedeutet übrigens nicht, dass es in Russland keine Populisten gäbe. Ganz offiziell im Putinschen System füllt diese Rolle - handzahm - Wladimir Schirinowski mit seiner Partei LDPR aus. Er ist der Mann für scheinbar einfache Lösungen, für einen latenten Fremdenhass, aber auch eine offizielle Verbundenheit mit dem "einfachen Volk".
Daraus entwickelt sich in diesem russischen Sonderfall jedoch keine echte Opposition, denn bei allen wirklich wichtigen Entscheidungen sitzen Schirinowski und Co wieder mit im Regierungsboot. Schlägt ein LDPR-Politiker über die Stränge und fällt wie Ex-Gouverneur Furgal in Chabarowski in Ungnade der Mächtigen in Moskau, wird er von Regierungsvertretern gerne des Populismus beschuldigt. Er erfüllte vor Ort nicht mehr die Rolle von Schirnowskis Gefolgsleuten: Mittler für Putinsche Politik für eine Zielgruppe, die sonst für oppositionellen Populismus empfänglich wäre.
Keine Berührungsängste
So hat das russische Establishement schon aus der innenpolitischen Erfahrung kein Problem damit, populistische Kräfte für sich einzuspannen, denn zähmen lassen sich solche Bewegungen durchaus über eigene Interessen, wie man an der handzahmen Linie der AfD gegenüber russischer Regierungspolitik sieht. Ein Bündnis mit westlichen Rechtspopulisten fällt der russischen Regierung da nicht schwer.
AfD und Front National sind zudem der innere Feind des dortigen Establishments, mit denen der Kreml im außenpolitischen Dauerkonflikt steht und so ist der Feind meines Feindes mein Freund. Auch wenn eine echte Polarisierung im eigenen Land ein Schreckgespenst wäre - in verfeindeten Staaten kann man sie nutzen.
Das ist nach Meinung mancher russischer Politikexperten für die eigene Regierung nicht ungefährlich. Wenn sich Putin international als Herausforderer des vom Westen dominierten Establishments inszeniere, könnte das heuchlerisch wirken, meint dazu die außenpolitische Expertin Julia Guranus vom Moskauer Carnegiezentrum. Denn in Russland sei er das Gegenteil davon. Das passe nicht wirklich zusammen.
So ist es also inzwischen richtig, von der russischen Regierung als Bundesgenossin westlicher Rechtspopulisten zu sprechen. Da sich der außen- und rüstungspolitische Gegensatz zwischen Russland und dem Westen kaum abschwächen wird, wird sich daran so schnell nichts ändern.
Alle Bundesgenossen in einen Topf zu werfen und mit einem unzutreffenden Etikett zu versehen, wie das große deutschen Medien tun, schadet jedoch dem genaueren Blick auf russische Verhältnisse und Zusammenhänge. Hier haben sich Bewegungen mit recht verschiedenen Weltsichten und komplett unterschiedlicher Soziologie zusammengefunden, um der liberalen Dominanz des Westens die Stirn zu bieten.