Jeffrey Sachs und die "wahre Geschichte des Ukraine-Krieges"

Die Rolle der Nato muss bei der Analyse des Ukraine-Krieges neu bewertet werden, meint Jeffrey Sachs. Erst dann könnten Wege zum Frieden gefunden werden. Ein kommentierter Essay.

"Die wahre Geschichte des Krieges in der Ukraine", so lautet der Titel eines Beitrags des US-Wirtschaftswissenschaftlers Jeffrey Sachs: "Eine Chronologie der Ereignisse und Argumente für eine Diplomatie zu seiner Beendigung". Sachs hat den Text für die Website The Kennedy Beacon der US-Plattform Substack geschrieben. Bei Telepolis erscheint er mit freundlicher Erlaubnis des Autors in deutscher Übersetzung.

The Kennedy Beacon (deutsch etwa: Das Kennedy-Leuchtfeuer) ist eine gerade neu gegründete US-Publikation, mit der die Bürgerbewegung unterstützt werden soll, die Robert F. Kennedy Jr. ins Weiße Haus bringen will.

Wie ich schon in einem vorherigen Telepolis-Artikel2 dargelegt habe, vertritt Jeffrey D. Sachs auch in seinem oben aufgeführten Text die Einschätzung, dass der Krieg in der Ukraine vor allem einen geopolitischen Hintergrund hat und die Osterweiterung der Nato um die Ukraine in dessen Mittelpunkt steht. Dieser Analyse dient auch seine Chronologie des Ukraine-Krieges.

Somit handelt es sich nach Sachs in der Ukraine um einen Stellvertreter-Krieg zwischen den USA und den Nato-Staaten einerseits und der Russischen Föderation andererseits, die in der geplanten Erweiterung der Nato um die Ukraine eine existenzielle Bedrohung sieht, die sie nicht hinnehmen will.

Für diesen Konflikt gibt es nach Sachs eine einfache Lösungsmöglichkeit.

Der erste Schritt wäre, dass die verantwortlichen Politiker beider Seiten wieder miteinander reden und dabei auch vonseiten der USA das Prinzip der unteilbaren Sicherheit anerkannt wird.

Dieser Grundsatz der OSZE besagt, dass ein Staat seine militärischen Kapazitäten nicht in einer Weise ausbauen darf, die die Sicherheit eines Nachbarstaates im selben geopolitischen Raum bedroht. Niemand dürfe seine eigene Sicherheit zu Lasten derjenigen eines anderen Staates erhöhen, hat Russland als Ausgangspunkt für Verhandlungen noch kurz vor der Invasion in die Ukraine im Februar 2021 vorgeschlagen, wie die Chronologie von Sachs aufzeigt.

Abschließend möchte ich noch auf ein ganz aktuelles in deutscher Übersetzung vorliegendes Interview von Jeffrey D. Sachs eingehen, in dem er zum Ukraine-Krieg, aber auch zu weiteren damit zusammenhängenden Problemen, eindeutig Stellung bezieht.3 Das Interview wurde am 05.10.2023 auf der Seite Activism Munich veröffentlicht.

In diesem Interview werfen wir zunächst einen Blick auf ein 2014 erschienenes Buch von Sachs über John F. Kennedy mit dem Titel To Move the World: JFK's Quest for Peace (deutsch etwa: Um die Welt zu bewegen: JFK's Streben nach Frieden). Der Autor erläutert, welche Lehren heute daraus zu ziehen sind, um Frieden in der Ukraine zu erreichen.

Danach geht es um die verschiedenen Hypothesen, die über den im September 2022 erfolgten Bombenanschlag auf die Nord-Stream-Pipelines im Schwange sind, und welche davon heute als die plausibelste anzusehen ist. Sachs sagt, dass die US-Regierung es getan habe und Kanzler Scholz das wahrscheinlich auch wisse und führt überzeugende Begründungen für diese Einschätzung an.

Sachs meint, dass die Ukraine im Sommer eine vernichtende Niederlage mit Zehntausenden toter und verletzter Soldaten und einer umfassenden Zerstörung der militärischen Ausrüstung erlitten habe, die vom Westen geliefert worden ist, so dass die geplante Gegenoffensive als gescheitert anzusehen sei.

Gleichzeitig schwinde im Westen die Bereitschaft für die weitere Unterstützung der Ukraine. Deshalb sei es auch im Interesse der Ukraine dringend notwendig, so schnell wie möglich mit Russland ein Friedensabkommen zu schließen, bevor die Zerstörung des Landes durch den Krieg noch weitergeht.

Nach einem Blick auf die jüngsten internationalen politischen Entwicklungen in den USA und Europa im Zusammenhang mit der Ukraine stellt der Interviewer von Activism Munich zum Schluss Sachs die Frage nach dem Weg, der auf der internationalen Bühne eingeschlagen werden müsste, um sicherzustellen, dass die Menschheit im 21. Jahrhundert in Frieden, Harmonie und Sicherheit leben kann. Sachs dazu:

Wir brauchen eine Welt, in der die Charta der Vereinigten Nationen gilt und in der die Nato ihre unaufhaltsame Erweiterung stoppt. Die USA haben Militärbasen in 80 Ländern und mehr als 800 Stützpunkte weltweit. Damit muss Schluss sein. Wir brauchen eine Welt, in der eine regelbasierte Ordnung die Charta der Vereinigten Nationen meint und nicht die Ordnung der Vereinigten Staaten.

Wir verfügen über Regeln, die als internationale Regeln oder Verträge bezeichnet werden. Die Vereinigten Staaten sollten diese Verträge ratifizieren, denn sie haben seit Jahrzehnten wichtige UN-Verträge nicht ratifiziert. Regeln bedeuten hier, dass man nicht nach den eigenen Regeln lebt, sondern nach denen der internationalen Gemeinschaft.

Es ist gegen das Gesetz, wirtschaftliche Zwangsmaßnahmen zu verhängen. Es verstößt gegen die Regeln der Welthandelsorganisation, einseitige Handelsbeschränkungen zu verhängen. Es verstößt gegen internationale Währungsregeln, die Devisenreserven anderer Länder zu beschlagnahmen. Aber die Vereinigten Staaten handeln immer wieder so.

Die Vereinigten Staaten befinden sich fast in einem Dauerkrieg. Sie haben sich an Dutzenden verdeckter Regime-Change-Operationen beteiligt. Wir brauchen eine Welt, in der Regime-Change-Operationen aufhören und in der die Vereinigten Nationen respektiert und gestärkt werden. Wir brauchen eine Welt, in der Verträge ratifiziert und eingehalten werden.

Wir brauchen eine Welt, in der die Vereinigten Staaten aufhören, China zu bedrohen, die Nato-Erweiterung zu fordern und anfangen, mit anderen Ländern zu verhandeln. Wir brauchen eine Welt, in der die Vereinigten Staaten aufhören, Verträge wie den ABM-Vertrag und den INF-Vertrag einseitig zu kündigen. Das ist es, was eine Welt des Friedens begründet.

Zu diesem Zweck haben wir die Vereinigten Nationen gegründet. Wir sollten sie ehren, sie wahren, die Charta der Vereinigten Nationen respektieren und eine multipolare und multilaterale Welt, die im Rahmen der Vereinigten Nationen funktioniert, stärken.

Jeffrey D. Sachs

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