Jeffrey Sachs und die "wahre Geschichte des Ukraine-Krieges"

Die Rolle der Nato muss bei der Analyse des Ukraine-Krieges neu bewertet werden, meint Jeffrey Sachs. Erst dann könnten Wege zum Frieden gefunden werden. Ein kommentierter Essay.

"Die wahre Geschichte des Krieges in der Ukraine", so lautet der Titel eines Beitrags des US-Wirtschaftswissenschaftlers Jeffrey Sachs: "Eine Chronologie der Ereignisse und Argumente für eine Diplomatie zu seiner Beendigung". Sachs hat den Text für die Website The Kennedy Beacon der US-Plattform Substack geschrieben. Bei Telepolis erscheint er mit freundlicher Erlaubnis des Autors in deutscher Übersetzung.

The Kennedy Beacon (deutsch etwa: Das Kennedy-Leuchtfeuer) ist eine gerade neu gegründete US-Publikation, mit der die Bürgerbewegung unterstützt werden soll, die Robert F. Kennedy Jr. ins Weiße Haus bringen will.

Wie ich schon in einem vorherigen Telepolis-Artikel2 dargelegt habe, vertritt Jeffrey D. Sachs auch in seinem oben aufgeführten Text die Einschätzung, dass der Krieg in der Ukraine vor allem einen geopolitischen Hintergrund hat und die Osterweiterung der Nato um die Ukraine in dessen Mittelpunkt steht. Dieser Analyse dient auch seine Chronologie des Ukraine-Krieges.

Somit handelt es sich nach Sachs in der Ukraine um einen Stellvertreter-Krieg zwischen den USA und den Nato-Staaten einerseits und der Russischen Föderation andererseits, die in der geplanten Erweiterung der Nato um die Ukraine eine existenzielle Bedrohung sieht, die sie nicht hinnehmen will.

Für diesen Konflikt gibt es nach Sachs eine einfache Lösungsmöglichkeit.

Der erste Schritt wäre, dass die verantwortlichen Politiker beider Seiten wieder miteinander reden und dabei auch vonseiten der USA das Prinzip der unteilbaren Sicherheit anerkannt wird.

Dieser Grundsatz der OSZE besagt, dass ein Staat seine militärischen Kapazitäten nicht in einer Weise ausbauen darf, die die Sicherheit eines Nachbarstaates im selben geopolitischen Raum bedroht. Niemand dürfe seine eigene Sicherheit zu Lasten derjenigen eines anderen Staates erhöhen, hat Russland als Ausgangspunkt für Verhandlungen noch kurz vor der Invasion in die Ukraine im Februar 2021 vorgeschlagen, wie die Chronologie von Sachs aufzeigt.

Abschließend möchte ich noch auf ein ganz aktuelles in deutscher Übersetzung vorliegendes Interview von Jeffrey D. Sachs eingehen, in dem er zum Ukraine-Krieg, aber auch zu weiteren damit zusammenhängenden Problemen, eindeutig Stellung bezieht.3 Das Interview wurde am 05.10.2023 auf der Seite Activism Munich veröffentlicht.

In diesem Interview werfen wir zunächst einen Blick auf ein 2014 erschienenes Buch von Sachs über John F. Kennedy mit dem Titel To Move the World: JFK's Quest for Peace (deutsch etwa: Um die Welt zu bewegen: JFK's Streben nach Frieden). Der Autor erläutert, welche Lehren heute daraus zu ziehen sind, um Frieden in der Ukraine zu erreichen.

Danach geht es um die verschiedenen Hypothesen, die über den im September 2022 erfolgten Bombenanschlag auf die Nord-Stream-Pipelines im Schwange sind, und welche davon heute als die plausibelste anzusehen ist. Sachs sagt, dass die US-Regierung es getan habe und Kanzler Scholz das wahrscheinlich auch wisse und führt überzeugende Begründungen für diese Einschätzung an.

Sachs meint, dass die Ukraine im Sommer eine vernichtende Niederlage mit Zehntausenden toter und verletzter Soldaten und einer umfassenden Zerstörung der militärischen Ausrüstung erlitten habe, die vom Westen geliefert worden ist, so dass die geplante Gegenoffensive als gescheitert anzusehen sei.

Gleichzeitig schwinde im Westen die Bereitschaft für die weitere Unterstützung der Ukraine. Deshalb sei es auch im Interesse der Ukraine dringend notwendig, so schnell wie möglich mit Russland ein Friedensabkommen zu schließen, bevor die Zerstörung des Landes durch den Krieg noch weitergeht.

Nach einem Blick auf die jüngsten internationalen politischen Entwicklungen in den USA und Europa im Zusammenhang mit der Ukraine stellt der Interviewer von Activism Munich zum Schluss Sachs die Frage nach dem Weg, der auf der internationalen Bühne eingeschlagen werden müsste, um sicherzustellen, dass die Menschheit im 21. Jahrhundert in Frieden, Harmonie und Sicherheit leben kann. Sachs dazu:

Wir brauchen eine Welt, in der die Charta der Vereinigten Nationen gilt und in der die Nato ihre unaufhaltsame Erweiterung stoppt. Die USA haben Militärbasen in 80 Ländern und mehr als 800 Stützpunkte weltweit. Damit muss Schluss sein. Wir brauchen eine Welt, in der eine regelbasierte Ordnung die Charta der Vereinigten Nationen meint und nicht die Ordnung der Vereinigten Staaten.

Wir verfügen über Regeln, die als internationale Regeln oder Verträge bezeichnet werden. Die Vereinigten Staaten sollten diese Verträge ratifizieren, denn sie haben seit Jahrzehnten wichtige UN-Verträge nicht ratifiziert. Regeln bedeuten hier, dass man nicht nach den eigenen Regeln lebt, sondern nach denen der internationalen Gemeinschaft.

Es ist gegen das Gesetz, wirtschaftliche Zwangsmaßnahmen zu verhängen. Es verstößt gegen die Regeln der Welthandelsorganisation, einseitige Handelsbeschränkungen zu verhängen. Es verstößt gegen internationale Währungsregeln, die Devisenreserven anderer Länder zu beschlagnahmen. Aber die Vereinigten Staaten handeln immer wieder so.

Die Vereinigten Staaten befinden sich fast in einem Dauerkrieg. Sie haben sich an Dutzenden verdeckter Regime-Change-Operationen beteiligt. Wir brauchen eine Welt, in der Regime-Change-Operationen aufhören und in der die Vereinigten Nationen respektiert und gestärkt werden. Wir brauchen eine Welt, in der Verträge ratifiziert und eingehalten werden.

Wir brauchen eine Welt, in der die Vereinigten Staaten aufhören, China zu bedrohen, die Nato-Erweiterung zu fordern und anfangen, mit anderen Ländern zu verhandeln. Wir brauchen eine Welt, in der die Vereinigten Staaten aufhören, Verträge wie den ABM-Vertrag und den INF-Vertrag einseitig zu kündigen. Das ist es, was eine Welt des Friedens begründet.

Zu diesem Zweck haben wir die Vereinigten Nationen gegründet. Wir sollten sie ehren, sie wahren, die Charta der Vereinigten Nationen respektieren und eine multipolare und multilaterale Welt, die im Rahmen der Vereinigten Nationen funktioniert, stärken.

Jeffrey D. Sachs

Jeffrey Sachs: "Biden hat die Ukraine in einen offenen Krieg getrieben"

Es ist sehr wichtig, dass das amerikanische Volk über die wahre Geschichte des Ukraine-Kriegs und die derzeitigen Entwicklungen dort informiert wird. Leider sind die Mainstream-Medien – die New York Times, das Wall Street Journal, die Washington Post, MSNBC und CNN – zu reinen Sprachrohren der Regierung geworden, die nur die Lügen von US-Präsident Joe Biden wiederholen, mit denen die wahre Geschichte des Krieges vor der Öffentlichkeit verborgen wird.

Biden hat erneut den russischen Präsidenten Wladimir Putin verunglimpft und ihm diesmal eine "Gier nach Land und Macht" vorgeworfen, nachdem er im vergangenen Jahr erklärt hatte: "Um Gottes willen, dieser Mann (Putin) darf nicht an der Macht bleiben."

Zugleich ist Biden derjenige, der die Ukraine in einen offenen Krieg getrieben hat, indem er die Nato-Erweiterung um die Ukraine weiter vorantreibt. Er hat Angst, dem amerikanischen und ukrainischen Volk die Wahrheit zu sagen, lehnt Diplomatie ab und entscheidet sich stattdessen für einen ewigen Krieg.

Nato-Erweiterung ist für Russland als Bedrohung

Die Ausweitung der Nato um die Ukraine, die Biden seit Langem propagiert, ist ein Schachzug der USA, der aber gescheitert ist. Die Neokonservativen, einschließlich Biden, dachten seit den späten 1990er Jahren, dass die USA die Nato auf die Ukraine (und Georgien) ausdehnen könnte, trotz des lautstarken und langjährigen Widerstands Russlands. Sie glaubten nicht, dass Putin tatsächlich wegen der Nato-Erweiterung in den Krieg ziehen würde.

Die Nato-Erweiterung um die Ukraine (und Georgien) wird jedoch von Russland als eine existenzielle Bedrohung für die nationale Sicherheit betrachtet, insbesondere wegen der 2.000 km langen Grenze Russlands zur Ukraine und der strategischen Lage Georgiens am östlichen Rand des Schwarzen Meeres. US-Diplomaten haben US-Politikern und Generälen diese grundlegende Realität jahrzehntelang erklärt, aber diese haben arrogant und grob reagiert und darauf bestanden, die Nato-Erweiterung trotzdem voranzutreiben.

Zu diesem Zeitpunkt wusste Biden genau, dass eine Nato-Erweiterung um die Ukraine den Dritten Weltkrieg auslösen könnte. Deshalb hat Biden auf dem Nato-Gipfel in Vilnius hinter den Kulissen bei der Nato-Erweiterung einen Gang zurückgeschaltet. Doch anstatt die Wahrheit zuzugeben, dass die Ukraine nicht Teil der Nato sein wird, macht Biden Ausflüchte und verspricht der Ukraine die letztendliche Mitgliedschaft.

In Wirklichkeit hat diese Politik zu einem anhaltenden Blutvergießen in der Ukraine geführt, und zwar aus keinem anderen Grund als dem der US-Innenpolitik, insbesondere wegen Bidens Angst, vor seinen politischen Gegnern als schwach zu erscheinen. (Vor einem halben Jahrhundert haben die Präsidenten Johnson und Nixon den Vietnamkrieg im Wesentlichen aus dem gleichen erbärmlichen Grund und mit der gleichen Lüge geführt, wie der verstorbene Daniel Ellsberg es brillant erklärt hat.)

Die Ukraine kann den Krieg nicht gewinnen. Es ist wahrscheinlich, dass Russland sich auf dem Schlachtfeld durchsetzen wird, wie es jetzt auch sehr den Anschein hat. Doch selbst wenn die Ukraine mit konventionellen Streitkräften und Nato-Waffen die Frontlinie durchbrechen sollte, würde Russland notfalls bis zu einem Einsatz von Atomwaffen eskalieren, um die Nato-Mitgliedschaft der Ukraine zu verhindern.

Biden und der militärisch-industrielle Komplex sind die Kriegstreiber

Während seiner gesamten Karriere hat Biden dem militärisch-industriellen Komplex gedient. Er hat unermüdlich die Nato-Erweiterung vorangetrieben und Amerikas die Welt zutiefst destabilisierende Kriege in Afghanistan, Serbien, Irak, Syrien, Libyen und jetzt in der Ukraine unterstützt. Er beugt sich Generälen, die mehr Krieg und mehr Auseinandersetzungen wollen und die einen bevorstehenden Sieg voraussagen, um die leichtgläubige Öffentlichkeit bei der Stange zu halten.

Weiterhin scheinen Biden und sein Team (Antony Blinken, Jake Sullivan, Victoria Nuland) ihrer eigenen Propaganda geglaubt zu haben, dass westliche Sanktionen die russische Wirtschaft strangulieren könnten, während Wunderwaffen wie die Himars-Raketenwerfer Russland besiegen würden. Und die ganze Zeit über haben sie den Amerikanern gesagt, dass sie Russlands 6.000 Atomwaffen bei ihren Entscheidungen nicht berücksichtigen müssen.

Die ukrainische Führung hat sich dieser US-Täuschung aus schwer nachvollziehbaren Gründen angeschlossen. Vielleicht glaubte sie den USA, oder sie haben Angst vor den USA, oder sie fürchten ihre eigenen Extremisten, oder sie sind einfach Extremisten, die bereit sind, Hunderttausende von Ukrainern dem Tod und der Verwundung zu opfern, in dem naiven Glauben, dass die Ukraine eine nukleare Supermacht besiegen kann, die den Krieg als existenziell betrachtet. Oder vielleicht machen einige der ukrainischen Führer ein Vermögen, indem sie dieses Geld von den Dutzenden Milliarden Dollar an westlicher Hilfe und Waffen für sich abzweigen.

Nur eine Verhandlungslösung ist der Weg zum Frieden

Der einzige Weg, die Ukraine zu retten, ist ein Verhandlungsfrieden. In einer Verhandlungslösung könnten sich die USA damit einverstanden erklären, dass sich die Nato nicht auf die Ukraine ausdehnen wird, während Russland dem Abzug seiner Truppen zustimmt. Die verbleibenden Themen- die Krim, der Donbass, die Sanktionen der USA und Europas, die Zukunft der europäischen Sicherheitsvereinbarungen- könnten politisch geregelt werden und nicht durch einen endlosen Krieg. Russland hat wiederholt Verhandlungen vorgeschlagen, um zu versuchen,

• der Ost-Erweiterung der Nato zuvorzukommen,
• geeignete Sicherheitsvereinbarungen mit den USA und Europa zu finden,
• interethnische Fragen in der Ukraine nach 2014 zu lösen (Abkommen Minsk I und Minsk II),
• den ABM-Vertrag aufrechtzuerhalten und
• den Ukraine-Krieg im Jahr 2022 durch direkte Verhandlungen mit der Ukraine zu beenden.

In allen diesen Fällen verachtete, ignorierte oder blockierte die US-Regierung diese Versuche und verbreitete oft die große Lüge, dass Russland und nicht die USA Verhandlungen ablehnen.

John F. Kennedy (JFK) hat es 1961 genau richtig gesagt: "Lasst uns niemals aus Angst verhandeln, aber lasst uns niemals Angst davor haben, zu verhandeln." Wenn Biden doch nur JFKs unvergängliche Weisheit beherzigen würde!

Um der Öffentlichkeit dabei zu helfen, das einseitige Narrativ von Biden und den Mainstream-Medien zu durchschauen und zu überwinden, habe ich eine kurze Chronologie der wichtigsten Schlüsselereignisse, die zu dem anhaltenden Krieg in der Ukraine geführt haben, zusammengestellt.

Eine Chronologie des Ukraine-Krieges

31. Januar 1990: Der deutsche Außenminister Hans Dietrich-Genscher verspricht dem sowjetischen Präsidenten Michail Gorbatschow, dass die Nato im Rahmen der deutschen Wiedervereinigung und der Auflösung des sowjetischen Militärbündnisses des Warschauer Paktes eine "Ausdehnung ihres Territoriums nach Osten, d.h. eine Annäherung an die sowjetischen Grenzen", ausschließen werde.

9. Februar 1990: US-Außenminister James Baker stimmt mit dem sowjetischen Präsidenten Michail Gorbatschow darin überein, dass "die Nato-Erweiterung inakzeptabel ist".

29. Juni – 2. Juli 1990: Nato-Generalsekretär Manfred Wörner sagt vor einer hochrangigen russischen Delegation, dass "der Nato-Rat und er (Wörner) gegen die Erweiterung der Nato sind".

1. Juli 1990: Die Ukrainische Rada (Parlament) verabschiedet die Erklärung der staatlichen Souveränität, in der "die Ukrainische SSR feierlich ihre Absicht erklärt, ein dauerhaft neutraler Staat zu werden, der sich nicht an militärischen Blöcken beteiligt und sich an drei atomwaffenfreie Prinzipien hält: keine Atomwaffen zu akzeptieren, herzustellen und zu kaufen".

24. August 1991: Die Ukraine erklärt ihre Unabhängigkeit auf der Grundlage der Erklärung der staatlichen Souveränität von 1990, die das Versprechen der Neutralität enthält.

Mitte 1992: Die politischen Entscheidungsträger der Bush-Regierung erzielen einen geheimen internen Konsens über die Erweiterung der Nato, im Gegensatz zu den Verpflichtungen, die sie kürzlich gegenüber der Sowjetunion und der Russischen Föderation eingegangen waren.

8. Juli 1997: Auf dem Nato-Gipfel in Madrid werden Polen, Ungarn und Tschechien eingeladen, Gespräche über einen Nato-Beitritt aufzunehmen.

September – Oktober 1997: In Foreign Affairs (Sept./Okt. 1997) beschreibt der ehemalige Nationale Sicherheitsberater der USA, Zbigniew Brzezinski, detailliert den Zeitplan für die Nato-Erweiterung, wobei geplant ist, dass die Beitrittsverhandlungen mit der Ukraine zwischen 2005 und 2010 beginnen sollen.

24. März – 10. Juni 1999: Die Nato bombardiert Serbien. Russland bezeichnet die Nato-Bombardierung als "eklatanten Verstoß gegen die Charta der Vereinten Nationen".

März 2000: Der ukrainische Präsident Kutschma erklärte, dass "ein Beitritt der Ukraine zur Nato zurzeit nicht in Frage kommt, da dieses Thema äußerst komplex ist und viele Facetten hat".

13. Juni 2002: Die USA ziehen sich einseitig aus dem Vertrag über die Bekämpfung ballistischer Waffen, dem ABM-Vertrag, zurück, ein Vorgang, den der stellvertretende Vorsitzende des Verteidigungsausschusses der russischen Duma als "extrem negatives Ereignis historischen Ausmaßes" bezeichnet.

November – Dezember 2004: Die "Orange Revolution" findet in der Ukraine statt, Ereignisse, die der Westen als "demokratische Revolution" und die russische Regierung als "ein vom Westen fabrizierter Griff nach der Macht mit offener und verdeckter Unterstützung der USA" charakterisiert.

10. Februar 2007: Putin kritisiert in einer Rede auf der Münchner Sicherheitskonferenz scharf den Versuch der USA, eine unipolare Welt zu schaffen, die durch die Nato-Erweiterung unterstützt wird: "Ich denke, es ist offensichtlich, dass die Nato-Erweiterung ... eine ernsthafte Provokation darstellt, die das gegenseitige Vertrauen verringert. Und wir haben das Recht zu fragen: Gegen wen richtet sich diese Erweiterung? Und was ist aus den Zusicherungen geworden, die unsere westlichen Partner nach der Auflösung des Warschauer Paktes gemacht haben?".

1. Februar 2008: Der US-Botschafter in Russland, William Burns, schickt ein vertrauliches Telegramm an die Nationale Sicherheitsberaterin der USA, Condoleezza Rice, mit dem Titel "Njet means Njet: Russia's Nato Enlargement Redlines" (zu Deutsch: Nein bedeutet Nein: Nato-Erweiterung und Russlands rote Linien), in dem er betont, dass "die Nato-Bestrebungen der Ukraine und Georgiens nicht nur einen wunden Nerv in Russland treffen, sondern auch ernsthafte Besorgnis über die Folgen für die Stabilität in der Region hervorrufen".

18. Februar 2008: Die USA erkennen die Unabhängigkeit des Kosovo trotz heftiger russischer Einwände an. Die russische Regierung erklärt, dass die Unabhängigkeit des Kosovo "die Souveränität der Republik Serbien, die Charta der Vereinten Nationen, die Resolution 1244 des UN-Sicherheitsrates, die Prinzipien der Schlussakte von Helsinki, den Verfassungsrahmen des Kosovo und die Vereinbarungen der hochrangigen Kontaktgruppe" verletzt.

3. April 2008: Die Nato erklärt, dass die Ukraine und Georgien "Mitglieder der Nato werden". Russland erklärt, dass "die Mitgliedschaft Georgiens und der Ukraine in der Allianz ein großer strategischer Fehler ist, der schwerwiegende Folgen für die gesamteuropäische Sicherheit hätte".

20. August 2008: Die USA kündigen an, dass sie ballistische Raketenabwehrsysteme (BMD) in Polen stationieren werden, später sollen solche in Rumänien folgen. Russland wehrt sich vehement gegen die BMD-Systeme.

28. Januar 2014: Die stellvertretende Außenministerin Victoria Nuland und der US-Botschafter Geoffrey Pyatt planen in einem Telefonat, das abgefangen und am 7. Februar auf YouTube veröffentlicht wurde, einen Regimewechsel in der Ukraine, in dem Nuland feststellt, dass "(Vizepräsident) Biden bereit ist, beim Abschluss des Abkommens zu helfen".

21. Februar 2014: Die Regierungen der Ukraine, Polens, Frankreichs und Deutschlands erzielen eine Einigung über die Beilegung der politischen Krise in der Ukraine und fordern Neuwahlen im Laufe des Jahres. Der rechtsextreme Rechte Sektor und andere bewaffnete Gruppen fordern stattdessen (Präsident) Janukowitschs sofortigen Rücktritt und übernehmen die Kontrolle über Regierungsgebäude. Janukowitsch flieht. Das Parlament entzieht dem Präsidenten sofort seine Befugnisse, ohne dass ein Amtsenthebungsverfahren eingeleitet wird.

22. Februar 2014: Die USA erkennen die neue Regierung sofort an.

16. März 2014: Russland hält auf der Krim ein Referendum ab, in dem nach Angaben der russischen Regierung sich die große Mehrheit für eine russische Herrschaft ausspricht. Am 21. März stimmt die russische Duma der Aufnahme der Krim in die Russische Föderation zu. Die russische Regierung sieht eine Analogie zu den Vorgängen im Kosovo. Die USA lehnen das Krim-Referendum als illegitim ab.

18. März 2014: Präsident Putin bezeichnet den Regimewechsel in Kiew als Putsch und erklärt: "Diejenigen, die hinter den jüngsten Ereignissen in der Ukraine standen, hatten eine andere Agenda: Sie bereiteten eine weitere Regierungsübernahme vor. Sie wollten die Macht ergreifen und schreckten vor nichts zurück. Sie griffen zu Terror, Mord und Aufruhr".

25. März 2014: US-Präsident Barack Obama verspottet Russland "als eine Regionalmacht, die einige ihrer unmittelbaren Nachbarn bedroht- nicht aus Stärke, sondern aus Schwäche".

12. Februar 2015: Unterzeichnung des Minsk-II-Abkommens. Das Abkommen wird durch die Resolution 2202 des UN-Sicherheitsrats vom 17. Februar 2015 einstimmig unterstützt. Die ehemalige Bundeskanzlerin Angela Merkel räumt später ein, dass das Minsk-II-Abkommen dazu gedacht war, der Ukraine Zeit zu geben, ihr Militär zu verstärken. Es wurde von der Ukraine nicht umgesetzt, und Präsident Selenskyj räumte ein, dass er auch nicht die Absicht gehabt habe, das Abkommen umzusetzen.

1. Februar 2019: Die USA ziehen sich einseitig aus dem INF-Vertrag (Intermediate Nuclear Force Treaty) zurück. Russland kritisiert den INF-Rückzug scharf als "destruktiven" Akt, der Sicherheitsrisiken schüre.

14. Juni 2021: Auf dem Nato-Gipfel 2021 in Brüssel bekräftigt die Nato ihre Absicht, die Ukraine in die Nato aufzunehmen: "Wir bekräftigen die auf dem Bukarester Gipfel 2008 getroffene Entscheidung, dass die Ukraine Mitglied des Bündnisses wird".

1. September 2021: Die USA bekräftigen ihre Unterstützung für die Nato-Bestrebungen der Ukraine in der "Gemeinsamen Erklärung zur strategischen Partnerschaft zwischen den USA und der Ukraine".

17. Dezember 2021: Putin legt den Entwurf eines "Vertrags zwischen den Vereinigten Staaten von Amerika und der Russischen Föderation über Sicherheitsgarantien" vor, der auf der Nichterweiterung der Nato und der Begrenzung der Stationierung von Mittel- und Kurzstreckenraketen basiert.

26. Januar 2022: Die USA antworten Russland formell, dass die USA und die Nato nicht mit Russland über Fragen der Nato-Erweiterung verhandeln werden, und schlagen damit die Tür für einen Verhandlungsweg zu, mit dem eine Ausweitung des Krieges in der Ukraine hätte vermieden werden können.

Die USA berufen sich auf die Nato-Politik: "Jede Entscheidung, ein Land zum Beitritt zum Bündnis einzuladen, wird vom Nordatlantikrat auf der Grundlage des Konsenses zwischen allen Bündnispartnern getroffen. Kein Drittland hat bei solchen Beratungen ein Mitspracherecht". Kurz gesagt, die USA behaupten, dass die Nato-Erweiterung um die Ukraine Russland nichts angehe.

21. Februar 2022: Bei einer Sitzung des russischen Sicherheitsrats nimmt Außenminister Sergej Lawrow zur Verweigerung der Verhandlungen durch die USA Stellung:

Wir haben ihre Antwort Ende Januar erhalten. Die Bewertung dieser Antwort zeigt, dass unsere westlichen Kollegen nicht bereit sind, unsere wichtigsten Vorschläge aufzugreifen, vor allem die zur Nichterweiterung der Nato nach Osten. Diese Forderung wurde mit Verweis auf die so genannte "Politik der offenen Tür" und die Freiheit jedes Staates, seinen eigenen Weg zur Gewährleistung der Sicherheit zu wählen, zurückgewiesen. Weder die Vereinigten Staaten noch das Nordatlantische Bündnis haben eine Alternative zu dieser Schlüsselbestimmung vorgeschlagen.

Die Vereinigten Staaten tun alles, um den Grundsatz der Unteilbarkeit der Sicherheit außer Kraft zu setzen, den wir für grundlegend wichtig halten und auf den wir mehrfach hingewiesen haben. Indem sie daraus das einzige Element ableiten, das ihnen passt- die Freiheit, Allianzen zu wählen- ignorieren sie alles andere, einschließlich der Schlüsselbedingung, die besagt, dass niemand- weder bei der Wahl von Bündnissen noch unabhängig davon- seine Sicherheit auf Kosten der Sicherheit anderer erhöhen darf.

24. Februar 2022: In einer Ansprache an die Nation erklärte Präsident Putin:

Es ist eine Tatsache, dass wir in den letzten 30 Jahren geduldig versucht haben, mit den führenden Nato-Ländern zu einer Einigung über die Prinzipien der gleichen und unteilbaren Sicherheit in Europa zu kommen. Als Reaktion auf unsere Vorschläge sahen wir uns ausnahmslos entweder mit zynischen Täuschungen und Lügen oder mit Druck- und Erpressungsversuchen konfrontiert, während das nordatlantische Bündnis trotz unserer Proteste und Bedenken weiter expandiert ist. Seine Militärmaschinerie bewegt sich und, wie gesagt, nähert sich unserer Grenze.

16. März 2022: Russland und die Ukraine verkünden bedeutende Fortschritte auf dem Weg zu einem Friedensabkommen unter Vermittlung der Türkei und des israelischen Ministerpräsidenten Naftali Bennett. Wie in der Presse berichtet wurde, beinhaltet die Grundlage des Abkommens "einen Waffenstillstand und einen russischen Rückzug, wenn Kiew seine Neutralität erklärt und die Begrenzung seiner Streitkräfte akzeptiert".

28. März 2022: Präsident Selenskyj erklärt öffentlich, dass die Ukraine zur Neutralität in Verbindung mit Sicherheitsgarantien im Rahmen eines Friedensabkommens mit Russland bereit ist. "Sicherheitsgarantien und Neutralität, der nicht-nukleare Status unseres Staates- dazu sind wir bereit. Das ist der wichtigste Punkt ... Deswegen haben sie den Krieg begonnen".

7. April 2022: Der russische Außenminister Lawrow wirft dem Westen vor, die Friedensgespräche zum Scheitern bringen zu wollen, und behauptet, die Ukraine habe zuvor vereinbarte Vorschläge zurückgenommen. Premierminister Naftali Bennett erklärte später (am 5. Februar 2023), dass die USA das ausstehende Friedensabkommen zwischen Russland und der Ukraine blockiert hätten.

Auf die Frage, ob die Westmächte das Abkommen blockiert hätten, antwortete Bennett: "Grundsätzlich ja. Sie haben es blockiert, und ich dachte, sie hätten sich geirrt". Irgendwann, so Bennett, habe der Westen beschlossen, "Putin vernichten zu wollen, anstatt zu verhandeln".

4. Juni 2023: Die Ukraine startet eine große Gegenoffensive, ohne bis Mitte Juli 2023 größere Erfolge zu erzielen.

7. Juli 2023: Biden räumt ein, dass der Ukraine die 155-mm-Artilleriegranaten "ausgehen" und den USA "die Munition ausgehe".

11. Juli 2023: Auf dem Nato-Gipfel in Vilnius bekräftigt das Abschlusskommuniqué die Zukunft der Ukraine in der Nato:

Wir unterstützen voll und ganz das Recht der Ukraine, ihre eigenen Sicherheitsvorkehrungen zu treffen. Die Zukunft der Ukraine liegt in der Nato ... Die Ukraine ist zunehmend interoperabel aufgestellt und politisch in das Bündnis integriert und hat auf ihrem Reformkurs erhebliche Fortschritte erzielt.

13. Juli 2023: US-Verteidigungsminister Lloyd Austin bekräftigt, dass die Ukraine nach dem Ende des Krieges "ohne Zweifel" der Nato beitreten wird.

13. Juli 2023: Putin bekräftigt:

Was die Nato-Mitgliedschaft der Ukraine betrifft, so stellt sie, wie wir schon oft gesagt haben, ganz offensichtlich eine Bedrohung für die Sicherheit Russlands dar. Tatsächlich ist der drohende Nato-Beitritt der Ukraine der Grund oder vielmehr einer der Gründe für die militärische Sonderoperation.

Ich bin mir sicher, dass dieser auch die Sicherheit der Ukraine in keiner Weise erhöhen wird. Im Allgemeinen wird (die Nato-Mitgliedschaft der Ukraine) die Welt viel verwundbarer machen und zu mehr Spannungen auf der internationalen Bühne führen. Ich sehe also nichts Gutes darin. Unsere Position ist bekannt und seit langem formuliert.

Klaus-Dieter Kolenda, Prof. Dr. med., Facharzt für Innere Medizin – Gastroenterologie, Facharzt für Physikalische und Rehabilitative Medizin/Sozialmedizin, war von 1985 bis 2006 Chefarzt einer Rehabilitationsklinik für Erkrankungen des Herz-Kreislaufsystems, der Atemwege, des Stoffwechsels und der Bewegungsorgane. Seit 1978 ist er als medizinischer Sachverständiger bei der Sozialgerichtsbarkeit in Schleswig-Holstein tätig. Zudem arbeitet er in der Kieler Gruppe der IPPNW e. V. (Internationale Ärztinnen und Ärzte für die Verhütung des Atomkriegs und für soziale Verantwortung) mit. E-Mail: klaus-dieter.kolenda@gmx.de

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