Journalismus-Skandal

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Geheime Tagebücher eines Starreporters geleakt

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Viel ist in den letzten Tagen geschrieben worden über den Fall Relotius und den Verfall des Journalismus, auch hier auf unserer Plattform. Wenn Reportagen zu kitschigen Rührstücken verkommen, wird aber oft eines vergessen: der Mensch im Hintergrund. Wer sind diese Journalisten, die sich mühsam rührselige Geschichten ausdenken, um uns zu erfreuen? Wie ergeht es ihnen, was treibt sie um? Wir lechzen nach einer empathischen, authentischen Innensicht, mit der die menschliche Dimension hinter der Zuckerguss-Fassade zum Vorschein kommt.

Unseren Reportern ist es gelungen, an die geheimen Tagebücher einer sogenannten Edelfeder zu gelangen, die erstaunliche Einsichten zutage fördert. Der Whistleblower, der diese Dokumente geleakt hat, möchte seinen Namen nicht in der Zeitung lesen, wir nennen ihn daher "C.R.". Das R steht für "reliable".

15.03.2007

Liebes Tagebuch,

Mama sagt, jetzt, wo ich bald 30 werde, soll ich weniger Schundromane lesen und endlich etwas aus meinem Leben machen. Werde ich halt auch Romanautor. Ideen hab ich ja genug.

20.06.2008
Liebes Tagebuch,

der Suhrkamp-Verlag hat meinen Romanentwurf mit dem Kommentar "kitschtriefende, bollywoodeske Schmonzette, von welcher man Brechdurchfall bekommt" abgelehnt. Egal, mache ich daraus eben eine Reportage über einen erzkatholischen Waffennarren aus Bochum mit Erektionsstörungen und Mutterkomplex, welcher davon träumt, einmal in seinem Leben das noch schlagende Herz eines Büffels essen zu können. Vielleicht nimmt sie ja wer.

03.12.2008

Liebes Tagebuch,

meine Reportage über den Waffennarren ist als "Paradebeispiel für die kongeniale Verquickung sprachlicher Präzision, empathischer Feinfühligkeit und knallharter Recherchearbeit" zur Reportage des Jahre gekürt worden. Alle großen Zeitungen reißen sich um mich. Nimm das, Suhrkamp!

13.01.2009
Liebes Tagebuch,

habe heute das Wochenend-Sudoku der New York Times gelöst. Werde mich fortan als deren freier Mitarbeiter ausweisen. Macht sich immer gut im Lebenslauf.

26.05.2009
Liebes Tagebuch,

habe heute eine E-Mail an die Rechercheabteilung beim Spiegel geschickt. Kurze Zeit später kam eine automatische Antwort mit dem Text "Wir befinden uns im Weihnachtsurlaub. Ihre Anfrage werden wir nach dem 7. Januar 1996 bearbeiten" zurück. Irgendwie seltsam, oder?

11.07.2010
Liebes Tagebuch,

bin den ganzen Tag vor dem Fernseher auf der Couch gelegen und hatte wieder schlimme Blähungen von den Tomaten im Ketchup. Werde dieses Erlebnis zu einer rührseligen Geschichte über illegale Tomatenpflücker auf Sardinien ausbauen. Vielleicht zahlen sie mir auch eine Recherchereise. Der Urlaub wird mir guttun.

17.02.2012
Liebes Tagebuch,

habe heute mit einer Hausfrau über ihr bestes Gulaschrezept gesprochen. Fände es aber besser, wenn sie der Boss eines mexikanischer Drogenkartells mit einem Faible für sinnlose Gewalt und Andrea Bocelli wäre. Naja, zwei mal drei ergibt ja auch vier.

19.08.2012

Liebes Tagebuch,

ich soll irgend so ein Kaff in Ohio besuchen, um herauszufinden, warum sich die Amerikaner jetzt gegen Obama wenden. Naja, warum wohl, ein demokratisches Wahlsystem und eine Bevölkerung mit dem IQ eines Rosettenmeerschweinchens sind nun mal selten eine gute Kombination. In den Köpfen von Beallsville sieht es sicher genau so flach und bewölkt aus wie auf den Kornfeldern. Sowas will doch keiner lesen, das bekomme ich mit Streetview und einem Telefonbuch garantiert viel besser hin! Die Menschen werden es mir danken!

26.11.2013
Liebes Tagebuch,

habe gestern mit Tom Kummer telefoniert. Er nennt sich jetzt Tabea Khoraly und schreibt als Palastinsiderin über die geheime Dreiecksbeziehung zwischen Boris Becker, Helene Fischer und Prinz Hakon von Norwegen. Dass ich nicht selbst draufgekommen bin! Werde gleich mit Michael Schumacher ein Interview über diese Affäre führen.

13.03.2014

Liebes Tagebuch,

bin heute in der Badewanne eingeschlafen. Werde daraus eine Geschichte über rituelles Waterboarding in lettischen Kindertagesstätten in den 1970ern stricken. Wahrscheinlich war es ja auch so. Den verdammten Russen ist schließlich alles zuzutrauen!

23.09.2014

Liebes Tagebuch,

meine Freundin hat sich endlich ihre Nase machen lassen. Beim Besuch in der Klinik habe ich eine asiatisch aussehende Frau gesehen, welche gerade frisch aus dem OP gekommen war. Habe sie heimlich fotografiert. Werde sie Kim Song Fun nennen, die illegitime Halbschwester des nordkoreanischen Führers, die vom Geheimdienst entführt und gefoltert wurde und nur mithilfe eines transsexuellen Opernsängers ihren sadistischen Peiniger entrinnen konnte. Er hat einfach so lange Puccinis "Nessun dorma" gesungen, bis auch der letzte Wärter eingeschlafen war. Ein bewegendes Lehrstück über den langen Arm des Regimes und die alles überwindende Kraft der italienischen Oper. Und irgendwie scheinen meine Geschichten besser anzukommen, wenn Gesang darin vorkommt.

26.06.2015

Liebes Tagebuch,

Ich hatte ja letztes Jahr aus einem Passfoto von der jungen Angela Merkel eine Reportage um eine in den 1960er Jahren in der Ukraine geborene Punkrockerin gestrickt. In der Story füllt die gute Frau zwar immer noch Konzerthallen in Aserbaidschan, trauert aber insgeheim doch jeden Abend um Stalin. Habe heute für die "literarische Wucht des schonungslosen Dokumentarstils" den Georg-Büchner-Preis bekommen.

Wie laut muss ein Hilferuf eigentlich sein?

10.03.2016

Liebes Tagebuch,

bin in Damaskus. Also im Hotel Damaskus auf Hawaii. Meine Redaktion wollte mich doch ernsthaft nach Syrien schicken. Wusstest du, dass dort Krieg ist??? Ich schreibe nun eine achtteilige Serie aus Damaskus. "Assads Kartenhaus" wird sie heißen. Als erstes rechne ich mit dem Oberkellner ab, das Frühstücksei heute Morgen war viel zu hart. Er wird als der Kastrator von Homs in die Journalismusgeschichte eingehen. Kann den Applaus der nächsten Laudatio schon hören. Aber erst noch kurz an den Strand. Das Leben ist schön.

17.08.2016
Liebes Tagebuch,
habe mich neulich verklickt und einen Artikel abgegeben, in welchem über der Bildunterschrift "Abdullah Al Islam, Schlächter von Idlib" ein Bild eines niedlichen Häsleins eingefügt war. Den Peter-Scholl-Latour-Preis gab‘s aber zum Glück trotzdem.

22.10.2016
Liebes Tagebuch,

Heute ist gar nichts, aber auch gar nichts von Relevanz passiert. Werde daher eine rührselige Geschichte über eine Gruppe von Kindersoldaten aus dem Kongo schreiben, welche von der Flucht nach Deutschland und einem gut bezahlten Job an der Kasse einer LIDL-Filiale in Bad Kreuznach träumen. Kinder ziehen sowieso immer, Migration gerade auch.

12.01.2017
Liebes Tagebuch,

habe dem Spiegel heute eine rührselige Reportage über zwei jemenitische Kindersoldaten in den Händen des abscheulichen und menschenverachtenden Isländischen Staates geschickt. Sie haben sie gleich abgedruckt. Bin stolz auf mich.

04.03.2017

Liebes Tagebuch,

die Story über den terroristischen Isländischen Staat ist so gut angekommen, dass ich gleich eine Folgereportage schreiben soll. Das trifft sich gut, ich habe sowieso schon seit einiger Zeit so ein Ziehen in der rechten Schulter. Ein paar Bäder in den heißen Quellen werden mir guttun. Ganz nebenbei werde ich aufdecken, dass es diesen angeblichen Vulkan mit dem unaussprechlichen Namen gar nicht gibt, und der Flugverkehr in Wahrheit von Mikroschallwellenexperimenten der wahnsinnigen Elektrosound-Terroristin Björk lahmgelegt wurde. Damit rechnet niemand. Die Kollegen werden vor Neid platzen.

09.08.2017

Liebes Tagebuch,
hast du gewusst, dass Björk wirklich wahnsinnig ist? Ich auch nicht! Wer hätte das denn ahnen können! Sie verfolgt mich jetzt seit zwei Wochen auf Schritt und Tritt. Gestern sprang sie im LIDL hinter einem Regal hervor, breitete ihre Arme aus und imitierte das knisternde Geräusch von Elektrizität. Natürlich sind keine Blitze aus ihren Händen geschossen, und es hat auch nicht gedonnert. Ich habe sie mit meinem Einkaufswagen in die Müslistraße geschoben und bin einfach weitergegangen.

Werde daraus eine rührselige Geschichte über von Chemtrails ausgelöste extreme Wetterphänomene stricken, welche einen Kleinbauern in Minnesota um den seit Generationen im Familienbesitz befindlichen Hof bringen.

03.12.2018
Liebes Tagebuch,

habe leider erst im letzten Moment bemerkt, dass Elon Musks Palast auf dem Mars noch gar nicht fertig ist. Egal, verkaufe ich dem Spiegel eben eine rührselige Reportage über einen einsamen Wehrmachtssoldaten, der seit 1943 ganz alleine im geheimen Kommandobunker auf der dunklen Seite des Mondes ausharrt und auf die Ankunft der Reichsflugscheibe mit dem Führer an Bord wartet. Henri Nannen wäre stolz auf mich.

23.12.2018

Liebes Tagebuch,

Tom Kummer hatte recht, es geht doch nichts über ein gutes Pseudonym. Habe mich als mein eigener Kollege ausgegeben und mich selbst öffentlichkeitswirksam in die Pfanne gehauen. Meine Journalistenkarriere liegt jetzt definitiv hinter mir. Wollte schon länger aus dem Hamsterrad raus. Werde mich jetzt auf meinem Landgut zur Ruhe setzen und nur noch Ghostwriting betreiben und eventuell ein paar Landkrimis schreiben. Mein erster Auftrag steht schon fest. Ich soll die Autobiographie eines arabischen Prinzen verfassen. Ich habe schon die Bilder im Kopf: sein Vater, die Ölfelder, die Rennpferde, die Reitpeitsche, eine gebrochene Kinderseele. Sein humanistisches Engagement gegen alle äußeren und inneren Widerstände. Die geifernde Hetze der ausländischen Presse. Und dann Fatima, die wieder das Licht in seine erloschenen Augen bringt. Zweitverwertung als Netflix-Serie nicht ausgeschlossen. Ich freu mich.