Julian Assange: Wie die USA ihre Kriegsverbrecher schützen
Der frühere US-Präsident Barack Obama hat sich nach den Nürnberger Prinzipien strafbar gemacht, sagt UN-Sonderberichterstatter Nils Melzer
Man muss sich das einmal vorstellen: Mitten in Europa - nicht etwa in der Türkei oder in Belarus und auch in keinem der anderen Länder des ehemaligen Ostblocks, die in keinem sonderlich guten Ruf stehen, sondern mitten in einer unserer ältesten parlamentarischen Demokratien - sitzt ein Mann seit nunmehr zwei Jahren im Gefängnis, ohne dass er irgendetwas verbrochen hat. Einfach nur deshalb, weil er etwas veröffentlicht hat, was den Mächtigen der Welt, konkret: den Vereinigten Staaten von Amerika und Großbritannien, nicht in den Kram passt.
Und nicht etwa nur in einem einfachen Gefängnis ist der Journalist Julian Assange inhaftiert, sondern in dem berüchtigten Londoner Hochsicherheitsgefängnis Belmarsh, wie ein Terrorist oder ein Serienmörder. 23 Stunden am Tag befindet er sich in vollkommener Isolation, was eine moderne Foltermethode darstellt.
Und die öffentliche Meinung in Europa - wo man sich sehr schnell darüber empört, wenn der russische Oppositionelle Alexej Nawalny verhaftet wird, wo man sich auch keineswegs ein Blatt vor den Mund nimmt, wenn belorussische Behörden ein Flugzeug zur Landung zwingen, in dem der Blogger Roman Protasewitsch sitzt - übt sich hier in einer merkwürdigen Zurückhaltung, nimmt diese Vorgangsweise weitgehend hin oder schweigt überhaupt dazu. Auch die hohe europäische Politik reagiert nicht, es gibt keine Forderungen nach Sanktionen, es gibt keine Warnungen und Drohungen, wie das mit ziemlicher Sicherheit der Fall wäre, wenn der Australier Julian Assange nicht ein von den USA und Großbritannien, sondern von Russland inhaftierter Journalist wäre.
Wie die westliche Wertegemeinschaft ihre Glaubwürdigkeit verliert
Wie konnte es so weit kommen? Wie ist so etwas überhaupt möglich? Welche Entwicklungen sind es, die dazu geführt haben? Um dies zu erörtern, fanden sich am 2. Juli, dem Vorabend des 50. Geburtstags von Julian Assange, der UN-Sonderberichterstatter für Folter, der Schweizer Nils Melzer, sowie sein Vorgänger in diesem Amt, der Österreicher Manfred Nowak, zu einer Gesprächsrunde in den Räumlichkeiten des Österreichischen Journalist:innen Clubs (ÖJC) in Wien ein. Mitveranstalter war der Schweizer Presse Club. Anschließend gab es eine Präsentation von Melzers Buch "Der Fall Assange. Geschichte einer Verfolgung". Moderiert wurde beides von Fred Turnheim, der bis vor kurzem Präsident des ÖJC war.
Dieser Beitrag bezieht sich zu einem großen Teil auf die Informationen, die bei dieser Veranstaltung inklusive Fragerunde sowie in Melzers Buch Thema waren, sowie auf Auskünften, die mir der UN-Sonderberichterstatter im Nachhinein zukommen ließ.
Natürlich ging es dabei nicht nur um den inhaftierten Journalisten Assange. Präsent waren bei der Diskussion genauso die Schicksale der Whistleblower Edward Snowden und Chelsea Manning. Sie "sind die Leichen im Keller des Westens", wie es schon in der Ankündigung hieß. "Ihre Verfolgung und Misshandlung zerstört die Glaubwürdigkeit der westlichen Wertegemeinschaft."
Melzer, Nowak und Moderator Fred Turnheim erzählten gemeinsam die Geschichte nach. Vieles von dem, was sie sagten, war zwar nicht grundlegend neu für diejenigen, die die Weltpolitik in den letzten 20 Jahren kritisch beobachtet haben. Und trotzdem ist es wichtig, diese Dinge immer wieder in Erinnerung zu rufen, weil der öffentliche Diskurs leider nur über ein miserables Langzeitgedächtnis verfügt und allzu vieles blitzschnell vergisst.
Bush: die Wiedereinführung von Foltermethoden durch die USA
Also ließen die Diskutanten die Ereignisse Revue passieren: Ausgangspunkt ist natürlich 9/11, der Anschlag auf das World Trade Center in New York im Jahr 2001, den die Administration des damaligen US-Präsidenten George Bush als Vorwand für ihren "Krieg gegen den Terror" und damit für teils massive Einschränkungen der Menschenrechte genutzt hat. Auf dieses Geschehnis gehen letztlich alle weiteren Entwicklungen zurück, in deren Sog auch die europäischen Verbündeten der USA sich weitgehend kritiklos reißen ließen. Es kam zum Einmarsch in Afghanistan, später zur Invasion im Irak. Damit einher ging aber die Schaffung rechtsfreier Räume.
Nowak legte dar, um was für eine einschneidende Zäsur es sich dabei handelte. Die Folter, die grundsätzlich seit der Aufklärung ein geächtetes Instrumentarium gewesen war - das man zwar vielleicht dennoch anwandte, aber ohne dass irgendjemand etwas davon wissen durfte - wurde wieder salonfähig gemacht. Die Regierung Bush verkündete ungeniert, dass sie sich bei der Bekämpfung ihrer Gegner nicht durch den Rechtsstaat behindern lassen würde. Verhör- und Folterzentren außerhalb der USA wurden geschaffen.
Man braucht dabei nicht nur an Guantanamo zu denken. Ähnliche Einrichtungen wurden von der CIA in verschiedenen Staaten Osteuropas wie Rumänien, Polen und Litauen betrieben. Gleichzeitig wurden Massaker an Angehörigen der Zivilbevölkerung der bekriegten Länder Alltag, ohne dass die Täter Konsequenzen zu befürchten hatten. Dies schon deswegen nicht, weil es bis zum Auftauchen von Wikileaks praktisch kein Bewusstsein in der Weltöffentlichkeit darüber gab, dass solche Dinge überhaupt passieren.
Zwar gab es vorübergehend eine gewisse allgemeine Empörung - eine Handvoll Soldaten wurde zu geringfügigen Strafen verurteilt, nachdem 2004 der Folterskandal von Abu Ghraib ans Tageslicht gekommen war. Dabei landeten aber bloß die Harmlosesten der Täter auf der Anklagebank, die ganz kleinen Fische. Um einiges schrecklicher als Mitglieder der US-Armee, so erläutert Nowak, agierten in dieser Hinsicht nämlich die Angehörigen der CIA. Von denen wurde aber ebenso wenig jemand zur Rechenschaft gezogen wie von den Angestellten der im Irakkrieg sehr zahlreich vertretenen privaten US-Militärunternehmen, die nach Aussage der Folteropfer die Allerschlimmsten gewesen waren.
Obama: der Meister der Drohnenmorde
Einige Jahre später fällte US-Präsident Barack Obama mehr als nur eine verheerende Entscheidung. Ein Teil der US-Kriegsverbrechen gelangte nun doch an die Öffentlichkeit. In Zusammenarbeit mit Manning veröffentlichte Wikileaks Material, das die Kriegsverbrechen der USA belegte. Das sogenannte "Collateral Murder Video" wurde davon am bekanntesten. Überdies gab es das Problem mit Guantanamo, das zu schließen Obama vor seiner Wahl vollmundig der Weltöffentlichkeit versprochen hatte. Eine vollständige Schließung ließ sich jedoch nicht bewerkstelligen.
Wie reagierte Obama auf diese beiden Herausforderungen? Zum einen entdeckte er das Drohnenmorden. Zwar hatte es schon unter der Regierung Bush die illegalen Tötungen mittels fliegender Roboter gegeben, aber Obama ordnete eine deutliche Erhöhung der Anzahl der Einsätze an. Auf seine Veranlassung hin wurden statt wie bisher durchschnittlich zwei Drohnenangriffe im Monat nun fünf in der Woche geflogen. Obama ließ demnach während seiner Regierungszeit im Schnitt 20 derartiger Einsätze im Monat und 240 im Jahr durchführen.
Da aber fast jede dieser Militäraktionen gleich mehrere Personen einschließlich Unbeteiligter umbrachte, kann man erahnen, wie viele Menschenleben er auf dem Gewissen hat. Das Drohnenmorden war Obamas Spezialität und seine Alternative zu Guantanamo. Seine Logik war folgende: Leute in Guantanamo inhaftieren und foltern, das schaut nicht gut aus, das macht kein gutes Bild in der Weltöffentlichkeit, das dürfen wir also nicht. Daher — töten wir die Verdächtigen gleich.
So sah also, das möchte ich hier persönlich hinzufügen, der vorgebliche Humanismus des Lieblings der linksliberalen Szene hinter der Kulisse aus, das muss man an dieser Stelle einmal offen aussprechen, und man muss sich nach wie vor darüber wundern, was Obama hat alles tun können, ohne dass es an seinem Image allzu viel gekratzt hat. Nicht nur aber, dass er damit gegen ein grundlegendes Rechtsprinzip der Genfer Konvention verstoßen hat, welches derartige Tötungsbefehle klipp und klar verbietet, er hatte damit auch seinem Nachfolger im Amt, Donald Trump, eine Steilvorlage geliefert — der da nicht müde zurückstehen wollte und die Anzahl der Drohneneinsätze gleich auf drei am Tag erhöhte.
Straffreiheit für US-Kriegsverbrecher statt für Whistleblower
All das zeigt, wie die USA im Laufe der letzten 20 Jahre ihre Gewalttätigkeit immer mehr verstärkt haben. Auf der anderen Seite lehnte Obama es strikt ab, die von Whistleblowern aufgedeckten Kriegsverbrechen einer ernsthaften gerichtlichen Verfolgung zuzuführen, obwohl hohe Beamte der UNO darauf drängten. Stattdessen tat er etwas ganz anderes: Er ließ die Whistleblower - und da ging es nicht bloß um Manning - so hart verfolgen wie kein US-Präsident vor ihm.
Übrigens ist es auch unwahr, dass, wie oft behauptet wird, Obama Manning schließlich "begnadigt" hätte. Deren Strafe wurde lediglich herabgesetzt, aber nach ihrer Freilassung wurde sie sehr bald wieder inhaftiert, bis sie durch einen Selbstmordversuch fast gestorben wäre. Den sogenannten Nürnberger Prinzipien zufolge, die nach dem Zweiten Weltkrieg im Völkerrecht Geltung erlangten und die auf Kriegsverbrechen Bezug nehmen, hat Obama sich aber, so führt Melzer aus, mit seinem Verhalten selbst schuldig gemacht. Die Anordnung zur Nicht-Verfolgung von Kriegsverbrechen ist demnach selbst ein Vergehen und strafbar.
Im Grunde ist es also Obama, der vor ein Gericht gehört hätte, und nicht Manning oder Assange, so kann man Melzers Aussagen an diesem Punkt weiterdenken, obwohl er das nicht explizit ausspricht. Denn diese beiden wiederum hätten, so sagt er, für das, was sie getan haben, überhaupt nie zur Rechenschaft gezogen werden dürfen. Assange war ohnehin nie ein "Whisteblower" - auch wenn er fälschlicherweise manchmal als ein solcher bezeichnet wird -, sondern ein Journalist, der im Grunde nur das getan hat, was Journalisten tun.
Im Fall Manning stelle sich die rechtliche Situation zwar etwas anders dar, räumt Melzer ein, weil es sich hier um ein Mitglied der US-Armee handle, aber wenn Rechtsbrüche oder gar Kriegsverbrechen vorlägen, könne natürlich von einer Bindung an die Schweigepflicht keine Rede mehr sein. Zumal Manning Vorgesetzte auf die Menschenrechtsverletzungen hingewiesen hatte, diese aber keine Konsequenzen daraus gezogen hatten.
Die Verzögerungstaktik der britischen Justiz
Dieselbe perverse Logik, die für Obamas Strategie gegenüber Kriegsverbrechern und Whistleblowern maßgeblich war, ist es aber, die sich im Prozess gegen Assange geradewegs fortsetzt. Und hier ist man sogar einen Schritt weitergegangen. Denn mit dem vorläufigen Urteil eines britischen Gerichts im Auslieferungsverfahren gegen Assange, das am 4. Januar gefällt wurde, ist genau das eingetreten, was man befürchtete: Auf einmal stehen nicht nur Whistleblower, sondern auch diejenigen, die kraft ihrer journalistischen Tätigkeit als "geheim" deklarierte Dokumente entgegen nehmen, explizit unter Strafandrohung, selbst wenn sie damit Verbrechen und Korruption ans Licht bringen.
Das britische Gericht unter dem Vorsitz der Richterin Vanessa Baraitser gab nämlich dem amerikanischen Auslieferungsgesuch in allen Punkten recht. Der einzige Grund, warum es den Antrag abwies, war der schlechte gesundheitliche Zustand des Journalisten. Entgegen jeder nachvollziehbaren Logik ließ man jedoch Assange auch dann noch nicht frei.
Mehr ein halbes Jahr nach dem Urteil hat die britische Justiz nun die im Januar eingelegte Berufung der US-Vertretung zugelassen. Das ist ein ungewöhnlich langer Zeitraum. Hinter dieser Verzögerung steckt aber offensichtlich eine bewusste Strategie. Ein rasches Ende des Prozesses liegt nämlich keineswegs im Interesse der USA und Großbritanniens. Sobald der Instanzenweg abgeschlossen ist und ein endgültiges nationales Urteil vorliegt, könnten die Anwälte Assanges den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte anrufen.
Es ist durchaus wahrscheinlich, dass dieser einer Auslieferung des Journalisten nicht zustimmen würde. Deswegen hat man es von britisch-amerikanischer Seite nun auf ein möglichst langes Verfahren angelegt, das sich über Jahre ziehen wird. Der Prozess wird, wie Melzer sagt, in einer "Endlosschleife" gelassen. Oder, wie es die Berliner Zeitung recht deutlich formulierte: "Wer die Mächtigen kritisiert, verrottet im Knast." Und das ohne rechtsgültiges Urteil.
Hingewiesen sei hier aber am Rande auch auf das Schicksal des ehemaligen britischen Botschafters Craig Murray. Der Freund von Assange wurde im Mai in einem gleichfalls bizarren Verfahren verurteilt. Er war ein Augen- und Ohrenzeuge für vieles, und seine regelmäßigen Blogeinträge waren eine der wenigen gründlichen Quellen für das, was im unter weitgehendem Ausschluss der Öffentlichkeit geführten Prozess gegen den Australier wirklich geschah.
Man darf eine Absicht vermuten: Aufgrund des Verfahrens gegen ihn war es ihm nämlich nicht möglich nach Spanien zu reisen, wo in einem weiteren Schlüsselprozess seine Aussage von großer Wichtigkeit gewesen wäre. Dort steht David Morales vor Gericht, der Chef jener Sicherheitsfirma, die Assange jahrelang in der ecuadorianischen Botschaft in London für den amerikanischen Geheimdienst ausspionierte.
Und schließlich ist zu erwähnen, dass der US-Anklage jüngst einer ihrer wichtigsten Zeugen auf kuriose Weise abhanden gekommen ist: Der Isländer Sigurdur Ingi Thordarson hat öffentlich eingestanden, dass seine den Inhaftierten Journalisten belastenden Aussagen auf einem Geschäft mit dem FBI beruhten und frei erfunden waren.
Die unrühmliche Rolle der Medien und der Politik
Ein unrühmliche Rolle spielen die Medien, die über all diese Skandale eigentlich laufend, rund um die Uhr, berichten müssten. Das tun sie in der Regel nicht, oft aber lancieren sie außerdem leider Meldungen über Assange, deren grundlegender Duktus schlicht inakzeptabel ist.
Als durchaus sehr charakteristisches Durchschnittsbeispiel nehme ich eine kürzlich veröffentlichte Meldung der österreichischen Nachrichtenagentur APA her, die wortgleich von mehreren österreichischen Zeitungen wiedergegeben wurde. "Die US-Justiz wirft Assange vor …", heißt es dort, und dann werden die gegen ihn erhobenen Vorwürfe noch einmal alle wiederholt, die inzwischen bereits x-fach widerlegt worden sind, auf eine Weise, als könnte immer noch etwas Wahres daran sein.
Er habe Depeschen "gestohlen", er sei ein "Spion", er habe Menschenleben "in Gefahr gebracht", und dann werden natürlich auch noch die Vergewaltigungssvorwürfe wiedergekäut, die in Schweden mittlerweile fallengelassen wurden. Daraufhin heißt es, ebenso schwebend: "Seine Unterstützer sehen in ihm hingegen einen Journalisten, der mit investigativer Arbeit schlimme Kriegsverbrechen ans Licht brachte."
Nun sehen das nicht einfach nur seine Unterstützer so, sondern das ist er ganz eindeutig, erstens ein Journalist, der für seine publizistische Arbeit mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet wurde, und zweitens einer, der Kriegsverbrechen enthüllt hat. Gleich anschließend wird ja sogar in der Meldung selbst das Video mit der Tötung von irakischen Zivilisten in Bagdad erwähnt. Was also soll dann dieser unsägliche Wahrheitsrelativismus an einer Stelle, an der er vollkommen unangemessen ist?
Machen deutschsprachige Leitmedien so etwas im Fall Nawalny? Redet man hier vielleicht so: "Für die einen ist er ein Oppositioneller, für die anderen hingegen …"? Oder im Fall Protasewitsch: "Für die einen ist er ein seiner Kritik an der weißrussischen Regierung wegen verfolgter Blogger, für die anderen hingegen …"? Nein. Warum also hier, im Fall von Assange? Es gereicht der APA nicht zur Ehre, solche lavierenden Artikel zu verbreiten. Damit wird abermals nur die seichte Diskussion bedient, was Assange nun selbst für ein Mensch ist, was er womöglich falsch oder richtig gemacht hat, anstatt sich ernsthaft mit der brisanten politischen Materie auseinanderzusetzen.
Diese Meldung ist jedoch prototypisch für viele andere, die in einem sehr ähnlichen Stil gehalten sind. Sie haben oft interessante Ansätze, aber dann verlieren sie sich in dem, was die Umgangssprache "Wischi-Waschi" nennt. Und anstatt dass klar und eindeutig für einen von Justizwillkür verfolgten Kollegen Stellung genommen wird, der auf eine Art und Weise inhaftiert ist, die allen Menschenrechten spottet, so dass man meinen sollte, dass es eigentlich kein Wenn und Aber geben dürfte — übt man sich in relativierenden Formulierungen.
Freilich muss man mit einem allzu pauschalen Urteil über die Medien vorsichtig sein. Viele Journalisten machen exzellente Arbeit und halten das Thema am Leben. So etwa in einer hervorragend recherchierten Arte-Doku, deren einziges Manko in der missverständlichen Titelwahl besteht. Mit "Spionageaffäre" ist nämlich nicht etwa die Tätigkeit von Assange gemeint, sondern seine illegale Überwachung durch UC Global.
Was die Politik betrifft, so gibt es zwar immer wieder vereinzelte Abgeordnete verschiedener europäischer Parteien, die sich zu Gruppen zusammenschließen, um gemeinsam Initiativen für Assange zu starten. Leider werden sie dabei aber von der ganz hohen europäischen Politik jämmerlich im Stich gelassen, ohne deren Unterstützung nichts Effektives machbar ist. Man muss sich auf Aufrufe beschränken.
Auf sehr drastische Weise wurde dieses Dilemma im Fall des kürzlich an die deutsche Kanzlerin Angela Merkel (CDU) gerichteten "Briefs der 120" sichtbar, der vom Publizisten Günter Wallraff initiiert und von vielen prominenten Politikern, Journalisten und Künstlern unterzeichnet worden war. Doch obwohl er durchaus einiges an Aufmerksamkeit in den Leitmedien auf sich zog, prallte dieser dramatische Appell an die deutsche Bundeskanzlerin, sich während ihres Besuches in den Vereinigten Staaten beim US-Präsidenten Joe Biden für die Freilassung von Assange einzusetzen, völlig wirkungslos an ihr ab.
Der Genfer Appell und andere Initiativen
Es gibt unzählige Assange-Aktivisten und entsprechende Plattformen, die schier Unglaubliches leisten. Und an ihre Seite hat sich immerhin der UN-Sonderberichterstatter für Folter gestellt. Als die wichtigste derzeit laufende Initiative wird der sogenannte Genfer Appell betrachtet, ein Aufruf zur sofortigen Freilassung des Journalisten, der zwar von den Bürgerinnen und Bürgern der Stadt in der Schweiz gestartet wurde, den zu unterschreiben aber alle Europäer aufgefordert werden, die am Schicksal von Assange Anteil nehmen, denen Pressefreiheit und Rechtsstaatlichkeit nicht gleichgültig sind und die an der Einhaltung der Menschenrechte sowie des Völkerrechts ein Interesse haben.
Auch zu erwähnen ist das Volksbegehren "Staatsbürgerschaft für Folteropfer", mit dem für Assange und in allen ähnlich gelagerten Fällen die automatische Verleihung der österreichischen Staatsbürgerschaft verlangt wird. Und zusätzlich werden in den großen Städten europaweit mit hoher Regelmäßigkeit Mahnwachen für Julian Assange abgehalten - und jede Menge anderer Protestaktionen veranstaltet, gerade zu seinem 50. Geburtstag war dies wieder verstärkt der Fall. Wobei man freilich Realist bleiben muss.
Eine Wirkung kann dies alles nur entfalten, wenn die breite Öffentlichkeit für das Thema Feuer fängt. Hier sind die Journalisten, die Medien- und Meinungsmacher gefragt, und darum hat an dieser Stelle auch an sie ein Aufruf zu ergehen, den Geschehnissen um Assange endlich den gebührenden Platz im Diskurs zukommen zu lassen. Der Genfer Appell richtet sich deshalb nicht zuletzt gleichfalls eindringlich an sie. Ihnen muss man bewusst machen, dass es hier um ihre eigene Freiheit geht.
Eine unseren westlichen Wertegrundsätzen entsprechende Lösung könnte freilich dennoch am Ende nur die Politik herbeiführen. Das würde heißen, dass US-Präsident Joe Biden doch noch einlenkt. Oder aber dass, wie Melzer es formuliert, "sich Großbritannien plötzlich auf die Rechtsstaatlichkeit besinnt und die Auslieferung ablehnt, weil Assange eines politischen Deliktes angeklagt ist, seine Verfahrensrechte schwer verletzt wurden, die ihm vorgeworfenen Handlungen von der Pressefreiheit geschützt sind und ihn in den USA ein unfairer politischer Schauprozess sowie lebenslange Haft unter unmenschlichen Bedingungen erwarten." Allein damit ist ungeheuer viel auf den Punkt gebracht, was sich jede Relativierung verbietet.
Update: Der neueste Trick der USA
Die Arbeit an diesem Beitrag war bereits weitgehend abgeschlossen, als eine neue Meldung hereinflatterte. Eben die, dass ein britisches Gericht den Berufungsantrag gegen die erstinstanzliche Entscheidung endlich zugelassen hat. Der Prozess geht also in die nächste Runde. Fast gleichzeitig wurde aber auch eine andere Neuigkeit publik. Einem Bericht des Wall Street Journal zufolge hat die US-Regierung Großbritannien versprochen, dass im Fall einer Auslieferung Assange nicht in strenge Isolationshaft in einem Hochsicherheitsgefängnis kommen werde, sondern seine Haftzeit in seinem Heimatland Australien absitzen könnte.
Warum es sich bei diesem Vorschlag nicht etwa um eine humanitäre Anwandlung der US-Regierung, sondern nur um einen neuen fiesen Trick, ja, eine Falle für Assange handelt, das sei hier kurz erklärt. Zum einen verstößt eine solche Abmachung, bevor überhaupt ein Urteil gefällt wurde, gegen alle rechtlichen Gebräuche und dient offensichtlich nur dazu, das Urteil zu beeinflussen. Zum anderen: Was wird den USA schon passieren, wenn sie dann ihr Versprechen nicht einhalten? Im Übrigen sei daran erinnert, dass Melzer bereits vor Monaten vor einem solchen Schachzug der amerikanischen Rechtsvertreter warnte. Darin liege eben der Haken der Begründung, mit der Richterin Baraitser am 4. Januar den Auslieferungsantrag zurückgewiesen hat, legte er damals schon dar.
Dadurch dass der Gesundheitszustand Assanges als einziges Hindernis angegeben wurde, welches einer Auslieferung im Weg stünde, bräuchten die USA im Grunde nur eine Garantie abgeben, dass sie ihn gut behandeln würden, und hätten wieder freie Bahn. Das ist anscheinend so in etwa das, was nun tatsächlich versucht wird. In einer aktuellen Stellungnahme bezeichnet Melzer folgerichtig das US-Angebot als reine "Augenwischerei". Eine derartige Überstellung nach Australien könne ja überhaupt erst zur Anwendung kommen, wenn beim Verfahren in den Vereinigten Staaten alle Rechtsmittel ausgeschöpft worden wären, erklärt er, "und das kann zehn Jahre oder mehr dauern". Ähnlich schätzt auch Assanges Verlobte Stella Moris, die selbst Juristin ist, laut einem Bericht im Guardian die Lage ein.
Als ähnlich wertlos betrachtet Melzer die Zusicherung der USA, Assange keinen SAMs zu unterwerfen. Hinter diesem Ausdruck verbergen sich die englischen Worte "Special Administrative Measures", was so viel wie "Spezielle Verwaltungsmaßnahmen" bedeutet. Dabei handelt es sich aber nur um das allerhärteste amerikanische Einzelhaftsystem. "Keine SAMs heißt also noch lange nicht keine Isolationshaft." Melzer weiter: "Abgesehen davon: Was ist mit Pressefreiheit, politischem Delikt, Verfahrensverletzungen durch Botschaftsüberwachung und so weiter? Julian Assange gehört überhaupt nicht ins Gefängnis." Dem ist nichts hinzuzufügen.
Literaturhinweis: Nils Melzer, Oliver Kobold: "Der Fall Julian Assange. Geschichte einer Verfolgung". Piper, München 2021.
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