Kann Werbung wirklich Bedürfnisse erzeugen, die es vorher gar nicht gab?

Verwegene Theorien und wüste Mysterien. Wie Werbung wirklich wirkt - Teil 7

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Teil 6: Die Tricks, mit denen die doofen Konsumenten manipuliert werden

Eines der beliebtesten Topoi der linken Kulturkritik über die Werbung lautet: Sie sei ja nur dazu da, Bedürfnisse zu wecken, die es ohne sie gar nicht gäbe. Werbung sei so überflüssig wie ein Kropf, ohne den die meisten Menschen ja auch ganz gut über die Runden kommen.

Alle Werbekritiker sind unerschütterlich davon überzeugt, dass die Werbung überhaupt nur den Zweck hat, am laufenden Band neue Bedürfnisse zu schaffen, damit die Konsumenten stets etwas zu kaufen haben und so dafür sorgen, dass die Industrie immer hübsche Profite einfährt.

Doch es fehlt selbst an Spuren von Belegen für die Richtigkeit dieser Behauptung. Es ist logisch ein Unding, sie zu beweisen. Deshalb müssen abenteuerliche Konstruktionen herhalten, um den "Nachweis" ihrer Richtigkeit zu erbringen: Bevor das Mobiltelefon erfunden wurde, gab es kein Bedürfnis danach, heißt es. Aber das Handy wurde nicht durch Werbung erfunden, sondern durch technische Innovation, und die befriedigt ein schon immer vorhandenes Bedürfnis nach erleichterter Kommunikation über große Entfernungen, das sich selbst in grauer Vorzeit durch den Einsatz von Rauchzeichen oder Trommeln manifestierte.

Die Erkenntnis, dass die Bedürfnisse der Konsumenten im Prinzip unersättlich sind, bildete sich im frühen 19. Jahrhundert heraus. Georg Friedrich Wilhelm Hegel (1770-1831) vertrat die Ansicht, die bürgerliche Gesellschaft neige zur Ausschweifung: "Der Mensch erweitert durch seine Vorstellungen und Reflexionen seine Begierden, die kein beschlossener Kreis sind wie der Instinkt des Tieres, und führt sie ins schlecht Unendliche." Die Maßlosigkeit der Konsumenten erklärte er mit den Worten: "Es wird ein Bedürfnis daher nicht sowohl von denen, welche es auf unmittelbare Weise haben, als vielmehr durch solche hervorgebracht, welche durch sein Entstehen einen Gewinn haben."

Damit sprach Hegel zwei Themen der Konsumkritik an, die bis heute die Diskussion bestimmen: Die Konsumenten sind unersättlich, sie wollen immer mehr und immer etwas Neues. Und in Wirklichkeit wollen sie es gar nicht aus sich selbst heraus. Es wird ihnen durch Industrie und Werbung eingeredet, wenn nicht gar aufoktroyiert. Sie werden manipuliert.

Die marxistische Konsumkritik von Georg Lukács über Theodor Adorno und Max Horkheimer bis Guy-Ernst Debord oder Wolfgang-Fritz Haug argumentiert ähnlich: Die Konsumenten sind Marionetten der Konzerne und Opfer der Verwertungszwänge des Kapitals. Adorno und Horkheimer behaupteten gar, die Konsumenten träfen eigentlich keine eigenen Entscheidungen, die Planungsabteilungen der Konzerne allein entschieden darüber, was ihre Bedürfnisse sind.

Das heute eigentlich die Diskussion bestimmende Bild der überflüssige Bedürfnisse erzeugenden Werbung stammt von dem US-amerikanischen Nationalökonomen John Kenneth Galbraith (1908-2006) Er sprach der Werbung insgesamt die Funktion und Fähigkeit zu, in Überflussgesellschaften unablässig Bedürfnisse zu erzeugen, die den Absatz von Produkten und Produktneuerungen erst ermöglichen.

Auf zur globalen McWorld-Kultur durch Werbung und Bedürfnisproduktion

In seinem 1958 erschienenen Werk "The Affluent Society" [deutsch: "Die Überflussgesellschaft"] schrieb Galbraith, die kapitalistische Überflussgesellschaft produziere nicht mehr nach dem Bedarf der Bevölkerung: Zunächst werde eine Ware hergestellt und anschließend eine künstliche Nachfrage geschaffen - durch Werbung und Marketing.

Und warum das alles? "Nur um die Sucht nach noch eleganteren Autos, nach noch mehr exotischen Leckereien, nach noch mehr erotisch betonter Kleidung, nach noch raffinierterem Amüsement zu befriedigen."

Die Folgen einer solchen wirtschaftlichen Entwicklung malte Galbraith plastisch aus: "Die Familie, die ihr lila-kirschrotes, automatisch geschaltetes, automatisch gebremstes, mit raffinierter Luftheizung und Luftkühlung ausgestattetes Auto aus der Garage holt, um einen Ausflug zu machen, fährt durch Orte mit schlecht gepflasterten und ungereinigten Straßen, verfallenen Häusern, scheußlichen Reklameschildern ... und genießt am Ufer eines verdreckten Flusses die köstlichen Konserven aus der transportablen Kühlbox."

Danach bedient also der Markt nicht nur die Bedürfnisse, die sich aus der Gesellschaft ergeben. Er schafft durch Werbung auch neue Wünsche und gefährdet alte kulturelle Traditionen. So hat angeblich Coca-Cola die ehrwürdige indische Teekultur verdrängt, Fast Food hat den Brauch ausgiebiger Mahlzeiten im Familienkreis zerstört. Alte Gepflogenheiten müssen dem Markt weichen. Durch Werbung und Bedürfnisproduktion wird die globale Kultur von McWorld geschaffen.

Doch das sind kulturkritische Schreckensvisionen ohne Hand und Fuß. Coca-Cola und Fast Food sind überhaupt keine Kreationen der Werbung, die indische Teekultur besteht weiter fort, und Fast Food hat sich auf Grund veränderter Lebensumstände in der entwickelten Welt etabliert, nicht durch Werbung.

Nach Galbraith gehen die Aufgaben von Werbung und Verkaufsförderung weit über die Funktion hinaus, den Preiswettbewerb in Märkten durch oligopolistische und monopolistische Konkurrenz zu ersetzen. Sie seien vielmehr dafür verantwortlich, die Konsumenten von der Dringlichkeit bis dahin unbekannter Bedürfnisse zu überzeugen. Wenn dieser Überzeugungserfolg gelingt, werden die neu entstandenen Bedürfnisse real. Diese Abhängigkeit der Bedürfnisse vom Prozess ihrer Befriedigung nannte Galbraith den Abhängigkeitseffekt ("dependence effect").

Für einen großen Teil der Wirtschaft bedeutet so ein Produktionszuwachs nicht größeren Wohlstand, sondern lediglich ein höheres Maß der Bedürfnisbefriedigung, der wiederum ein höheres Maß an Bedürfnisweckung erzeugt. Zu den Folgen einer solchermaßen permanent expandierenden Wirtschaft zählte Galbraith Inflationen.

Werbung schafft neuen Bedarf - auf der Basis bestehender Bedürfnisse

Wie immer man es auch drehen und wenden mag: Die Behauptung, Werbung schaffe Bedürfnisse, die zuvor nicht existierten, setzt ein festes Wissen darüber voraus, welche Bedürfnisse berechtigt sind und welche nicht. Und diese Festsetzung ist ohne totalitären Anspruch gar nicht möglich. Irgendwo muss stets ein allwissender und alles bestimmender Mensch oder eine allwissende und alles bestimmende Theorie sein, der oder die festlegt, welches Bedürfnis legitim und welches illegitim ist.

Doch die Werbung mit ihren insgesamt ja nur sehr begrenzten Mitteln und sehr schwachen Impulsen kann den Menschen keine neuen Bedürfnisse einpflanzen. Sie kann lediglich die vorhandenen verstärken: Werbung schafft ständig neuen Bedarf - jedoch tut sie das auf der Basis vorhandener Bedürfnisse.

Werbung ist nur ein Instrument der Nachfrageförderung. Neue Produkte und Dienstleistungen, die es vorher nicht gab, entstehen nicht durch Werbung, sondern durch Produktion, Kreation und Innovation. Insofern fördert Werbung in der Tat auch den Absatz von Waren, die früher unbekannt waren und bedient Bedürfnisse, die bis dahin nicht bedient werden konnten, aber schon immer vorhanden waren. Das ist aber etwas grundsätzlich anderes als Produkte, die Bedürfnisse bedienen, die ohne Werbung überhaupt nicht existieren würden. Bedürfnisse können durch Werbung überhaupt nicht erzeugt werden. Bedürfnisse existieren vor aller Werbung.

Daran allerdings sollte auch kein Zweifel bestehen: Wenn es den Werbern und den Werbung treibenden Unternehmen möglich wäre, neue Bedürfnisse zu schaffen, die es vorher gar nicht gab, um derart die Massen von Konsumenten zum Kauf von völlig überflüssigen Produkten zu veranlassen, so würden sie keine Sekunde zögern, das zu tun. Das wäre nur allzu verlockend. Aber es geht nun einmal nicht.

Die Psychologie definiert Bedürfnis als das mit dem Streben nach seiner Beseitigung oder Verringerung verbundene Gefühl eines Mangels. Es ist vorökonomischen Ursprungs und als eine physiologisch, psychologisch oder auch soziologisch zu erklärende Erscheinung deutlich vom Bedarf zu unterscheiden, der die Summe der mit Kaufkraft unterstützten Bedürfnisse ist.

Man kann sich die Sache also einfach machen und konstatieren, rein von der Logik her kann Werbung ein vorökonomisches Gefühl des Mangels erst gar nicht erzeugen. Werbung hat keinerlei Einfluss auf die Bedürfnisse der Verbraucher. Die Bedürfnisse sind längst vor der Werbung da. Deshalb kann es auch überhaupt nicht darauf ankommen, Werbebotschaften mit hohem Werbedruck und permanenter Wiederholung an die Verbraucherin und den Verbraucher zu bringen, um neue Bedürfnisse zu generieren. Im Gegenteil, das ist nichts als zum Fenster herausgeworfenes Geld.

Die Beseitigung der durch die Bedürfnisse erzeugten subjektiven Mangelgefühle ist vielmehr die treibende Kraft des Konsums und der wirtschaftlichen Tätigkeit der in privaten Haushalten lebenden Menschen - aber nicht das Resultat der wirtschaftlichen Aktivitäten anderer. Der Begriff des "Bedürfnisses" ist ein psychisches Konstrukt und fungiert als Motivauslöser, da es ein subjektives Mangelempfinden signalisiert, das ein Individuum nach einer Beseitigung streben lässt.

Bedürfnisse sind biologisch verankert und werden oftmals unbewusst erlebt, das heißt, ihnen fehlt das kognitive Element. Bedürfnisse wirken konativ, das heißt antriebhaft. Allerdings können auch Bedürfnisse kognitiv interpretiert und durch Willen beeinflusst werden. Erlebt beispielsweise ein Konsument einen Mangelzustand wie Hunger oder Durst, so weiß er auf Grund seiner Sozialisation und bisherigen Erfahrungen, wie er diesen am besten beheben kann.

Ohnehin wäre es hilfreich, etwas begriffliche Klarheit in die Terminologie zu bringen. Wenn Bedürfnisse vorökonomischen Ursprungs sind, kann man sie per definitionem nicht durch ökonomische Aktivitäten wecken. Sinnvoller wäre es, im Zusammenhang mit der Werbung von Begehren zu sprechen, also von einer emotional besetzten, auf ein Objekt hin gerichteten und nicht von rationalen Erwägungen getragenen mentalen Vorstellung.

Das Begehren kann motivieren, ist aber kulturell geprägt. Konsumbegehren ist dann ein mentaler Zustand, der vom Verlangen nach einem konkreten Konsumobjekt erfüllt ist. Er ist nicht triebhaft und wird nicht durch eine körperliche Einwirkung des Objekts ausgelöst, kann aber selbst als lustvoll empfunden werden.

Begehrende Konsumenten begehren nicht die Dinge selbst, sondern deren Bedeutung

Konsumbegehren ist etwas anderes als der Erwerb oder der Gebrauch einer Ware. Es besteht auch, wenn das begehrte Objekt nicht gekauft und verwendet wird. Sein Kauf mag mangels finanzieller Mittel unmöglich sein - das Begehren besteht dennoch. Mitunter bezieht sich das Konsumbegehren gar auf den Kaufakt selbst. Das macht den Reiz des Erlebniskaufs aus.

Begehrende Konsumenten "konsumieren" nicht die Dinge selbst, sondern die Bedeutungen, die diese für sie haben. Die Bedeutungen beziehen sie einerseits aus ihrer Sozialwelt: Bereits im Vorfeld möglicher Kaufakte greifen sie auf medial vermittelte Werbebotschaften ebenso zurück wie auf diejenigen Waren, die Menschen in ihrer nahen und fernen Umgebung verwenden, und sie fantasieren auf der Grundlage eigener Konsumerfahrungen, wie die aktuell begehrte Ware die vergangenen in den Schatten stellt.

Andererseits beziehen sie sich, vermittelt durch die Bedeutungen der Konsumobjekte, aber auch auf die umgebende Sozialwelt: Soziale Stellung, kulturelle Differenzen, Generationenzugehörigkeit und regionale Unterschiede werden durch Güter wie Kleidung, Nahrungsmittel, Wohnumgebungen und ästhetische Vorlieben kenntlich. Soziale Anerkennung, Aufstieg und Abgrenzung, Freundschaft und Distanz und Liebe und Partnerwahl basieren auch darauf, dass die Bedeutungen der sichtbaren Objekte soziale Nähe und Ferne bestimmbar - und mitunter sogar beeinflussbar - machen.

Das Konsumbegehren bezieht sich allein auf die Bedeutungen der konkreten Objekte, nicht auf die Objekte selbst. Ihm liegt eine andere Logik als der Bedürfnisbefriedigung zu Grunde: Es begreift Waren nicht als Mittel zum Zweck, sondern bezieht aus deren Bedeutungen eine Erlebnisqualität, die von der Verwendung des konkreten Dings unabhängig ist.

Anders als das Bedürfnis kennt das Begehren deshalb auch keinen Zustand der Befriedigung, es versucht nicht, einen vorab bekannten Mangel zu beheben - es sucht in der Fantasie die permanente Überbietung des Jetzt und zieht daraus Genuss.

Das Konsumbegehren ist also am Ende nichts anderes als eine Erklärung für die Unersättlichkeit der Konsumenten: eine grundlegende Motivationsstruktur der Konsumgesellschaft, die sich durch moralische Urteile nicht eindämmen lässt und auch nicht auf das Kalkül rational handelnder Konsumenten zurückführbar ist.

Die Kontroverse darüber, ob Bedürfnisse durch Werbung geschaffen werden können oder nicht, ist auf einen einfachen Zusammenhang zurückzuführen. In den entwickelten Industriegesellschaften sind die Konsumenten primär nicht an der Befriedigung materieller Grundbedürfnisse interessiert. Diese sind weitgehend gesichert.

Charakteristikum der modernen Überflussgesellschaften ist es ja, dass sich die Angebotsmärkte (Verkäufermärkte) von einst zu Nachfragemärkten (Käufermärkten) gewandelt haben, in denen das Angebot die Nachfrage übersteigt und die Konsumenten ihre Aufmerksamkeit nicht länger darauf richten (müssen), ihre Grundbedürfnisse zu bedienen. Die Zeiten sind vorüber.

Im Mittelpunkt stehen nun ihre eigenen Wünsche nach einer schöneren, angenehmeren, spannenderen Welt, die ihnen sehr viel mehr Zufriedenheit bieten, als materielle Objekte es je könnten. Allerdings wollen die Konsumenten ihre Wünsche auch verwirklichen. Der Konsum ist dafür das Hilfsmittel.

Kaufen unter dem Diderot-Effekt

Die Leute bummeln in Einkaufsparadiesen, sehen Filme und Werbespots, lesen Romane und lassen sich dadurch in ihren Wunschfantasien stimulieren. Die Produktion der Wünsche selbst ist gleichwohl ein individueller Akt. Den Konsumenten geht es allein um die Befriedigung ihrer höchstpersönlichen Fantasien. Sie möchten ein Idealbild von sich selbst als zum Beispiel schön, jugendlich, sportlich, überlegen, edelmütig etc. inszenieren.

Weder das Bedürfnis nach Nachahmung, noch die soziale Statuskonkurrenz spielen eine entscheidende Rolle. Es kommt nicht darauf an, anderen zu gefallen, man muss vor allem sich selbst etwas Gutes tun.

Dieses ichbezogene Motiv findet sich auch in vordergründig altruistischen Konsuminszenierungen, zum Beispiel im "ethischen" Konsum; denn auch hier ist das Wohlgefühl, das man als "guter" Mensch mit sich selbst hat, der entscheidende Antrieb.

Der moderne Konsum ist seiner Natur nach unersättlich. Die Konsumenten können nicht unendlich in ihren Fantasien schwelgen; irgendwann muss der Schritt in die Realität gewagt und der Kauf getätigt werden. Aber jeder Kauf endet in Enttäuschung; denn das gekaufte Objekt bleibt notwendigerweise hinter den Wünschen und idealisierten Erwartungen zurück, die man mit ihm verknüpft hatte.

Manche Konsumenten reagieren auf die Enttäuschung so, dass sie sich zunächst noch nicht von dem Wunsch selbst verabschieden, sondern nur seine Inszenierung durch weitere Käufe zu vervollständigen suchen. Man spricht vom "Diderot-Effekt", nach dem französischen Philosophen Denis Diderot, der einen neuen Morgenmantel geschenkt bekam und daraufhin das Gefühl hatte, seine ganze Wohnung umgestalten zu müssen.

Eine Anschaffung erzeugt so den Bedarf nach weiteren. Man kann die Desillusionierung auch dadurch aufzuschieben versuchen, dass man sich gleich für mehrere Traumwelten gleichzeitig ausstattet. Aber verhindern lässt sich die Desillusionierung auch so nicht: Irgendwann lässt sich nicht mehr verdrängen, dass es sich um Inszenierungen handelt. Dann ist die Enttäuschung so groß, dass die Gegenstände, kaum gekauft, in die Ecke gestellt oder gleich entsorgt werden. Die Enttäuschung bereitet aber nur den Boden für ein umso intensiveres Wünschen, für die Entstehung gänzlich neuer Träume und in der Folge neuer Käufe.

Sehnsucht Kauf Desillusionierung neues Kaufen

Das ist das Muster, nach dem sich der Konsum entwickelt. Die Suche nach Erlebnissen und ästhetischen Stimulierungen treibt das Handeln der Konsumenten an, und diese Suche birgt in sich die Tendenz zur Unersättlichkeit. In den Worten des deutschen Soziologen Gerhard Schulze: "Erlebnisorientierung wird zum habitualisierten Hunger, der keine Befriedigung mehr zulässt. Im Moment der Erfüllung entsteht bereits die Frage, was denn als nächstes kommen soll, so dass sich Befriedigung gerade deshalb nicht mehr einstellt, weil die Suche nach Befriedigung zur Gewohnheit geworden ist."

Gegenstand der kulturkritischen Diskussion über die Schaffung "falscher Bedürfnisse" durch Marketing und Werbung ist vor allem die emotionale Produktdifferenzierung. In Wohlstandsgesellschaften sind die grundlegenden Bedürfnisse gestillt. An ihre Stelle treten Bedürfnisse nach einer die Sinne ansprechenden Anregung und Selbstverwirklichung, nach verfeinertem emotionalem Erleben.

Das Streben nach sinnlicher und emotionaler Stimulierung wird durch die moderne Umwelt verstärkt: Durch die rationalisierten und kühlen Arbeitsbedingungen der Fabriken und Büros, durch die Entfremdung der städtischen Menschen von der Natur etc. Der Konsum wird unter diesen Bedingungen zu einer willkommenen Möglichkeit für emotionales Erleben und für emotionale Ersatzhandlungen. Die funktionalen Produkteigenschaften verlieren an Bedeutung.

Die meisten Konsumgütermärkte stagnieren und sind gesättigt. Diese Entwicklung wird dadurch verstärkt und gestützt, dass die Produkte auf den gesättigten Märkten hoch industrialisierter Gesellschaften weitgehend die sachlichen Qualitätsstandards der Konsumenten erfüllen. Die technische Produktentwicklung ist bei den meisten Konsumgütern so ausgereift, dass technische Qualitätsunterschiede kaum noch wahrnehmbar sind.

Das wahrgenommene Kaufrisiko für diese Güter ist relativ gering, sodass der Kauf dieser Güter für den Konsumenten unproblematisch wird und mit geringer innerer Anteilnahme - mit geringem Involvement - erfolgt. Da die Güter ausgereift sind, weisen auch die Angebote der verschiedenen Hersteller nur geringe Qualitätsunterschiede auf. Die Produkte sind technisch homogen. Ihr unterschiedlicher Markterfolg lässt sich nicht mehr mit der objektiven Qualität erklären, sondern zunehmend aus den unterschiedlichen Gefühls- und Erlebniswelten, die Marken für ihre Zielgruppen repräsentieren.

Wie man emotionale Erlebniswerte schafft

Für eine objektive (substanzielle) Produktdifferenzierung gibt es bei ausgereiften Gütern nur wenige Möglichkeiten. Informative Werbung versagt, weil es über die Qualitätsunterschiede der konkurrierenden Marken nur wenig zu informieren gibt und die wenig involvierten Konsumenten auf gesättigten Märkten nur ein geringes Produkt- und Informationsinteresse haben. Folglich ist die Markenpolitik im Wesentlichen auf eine psychologische Produktdifferenzierung angewiesen.

Ziel der emotionalen Produktdifferenzierung ist es, den Produkten (Marken) einen zusätzlichen Erlebniswert zu geben. Die verschiedenen Marken sollen dem Konsumenten über ihren sachlich-funktionalen Nutzen hinaus auch emotionale Erlebnisse vermitteln wie Freiheit, Emanzipation, Naturverbundenheit, Frische, Natürlichkeit, Exklusivität und Prestige, Urlaubsstimmung, Eleganz, Erotik, soziale Auffälligkeit etc. Es handelt sich um messbare Konsumentenerlebnisse, die reale Bedürfnisse erfüllen.

Nach der "Psychologie des Wohlstandes" von Tibor Scitovsky wird im Konsum nach Aktivierung und emotionaler Stimulierung gesucht. Die emotionale Erlebnisvermittlung durch Produkte und Leistungen spielt auf gesättigten Märkten eine wichtige Rolle. Die Produktpolitik bei solchen Konsumgütern besteht hauptsächlich in der Produktpositionierung durch Vermittlung von Gefühlen und in der Marktsegmentation auf der Basis von gefühlsdefinierten Zielgruppen.

Im kommerziellen Marketing sind Werbung und Produktgestaltung die bevorzugten Techniken, um emotionale Konsumerlebnisse zu vermitteln. Aber auch die Vermittlung von Einkaufserlebnissen im Handel, eine erlebnisbetonte Firmen- und Produktdarstellung auf Messen und Ausstellungen und die Erlebniswirkungen anderer Marketingaktivitäten spielen eine immer wichtigere Rolle. Auch die Freizeitindustrie hat sich der Erlebnisorientierung der Konsumenten angepasst.

Durch Marketingkommunikation können produktbezogene Gefühle ausgelöst und gesteuert werden. Produkt- und Packungsgestaltung, Werbung und Verkaufsförderung, Firmen- und Verkäufererscheinungsbild etc. erlauben es, die mit einer Marke verbundenen Gefühle der Konsumenten zu beeinflussen.

Es gilt als Aufgabe der Markenpolitik, über den Grundnutzen des Produkts hinaus als Zusatznutzen ein Markenerlebnis zu schaffen, das außerhalb objektiver Qualitäts-, Preis- und Distributionsmerkmale eine vorteilhafte Wettbewerbsposition aufbauen kann.

In der Werbung wird die Marke symbolisch dargestellt als Produktabbildung, als Markenname, als Markenzeichen etc. Durch die Werbung soll der Konsument lernen, stellvertretend für Produkte und Marken, zunächst diese Symbole in emotionaler Weise wahrzunehmen und zu erleben.

Die Verknüpfung einer Marke mit emotionalen Erlebnissen erfolgt durch Assoziation. Sie bewirkt einen Bedeutungstransfer von einem Reiz auf den anderen, das heißt, sie funktioniert nach dem Prinzip der klassischen Konditionierung. Die emotionale Produktdifferenzierung durch Werbung folgt im Wesentlichen dieser Gesetzmäßigkeit. Mit anderen Worten: Wenn die Werbung eine Marke wiederholt zusammen mit emotionalen Reizen darbietet, so erhält die Marke einen emotionalen Erlebniswert.

Die Konsumenten sind bei diesem Lernprozess wenig involviert und weitgehend passiv. Sie lernen auf Grund einer werblichen Reizdarbietung, die sie nicht oder nur kaum durchschauen. Oft werden in der Werbung Reize kombiniert, die für die Konsumenten in keinerlei sinnvollem Zusammenhang stehen.

Nach dem gegenwärtigen Stand der Forschung lässt sich die Einstellung zu einer Marke durch rein emotionale Werbung - und ohne jede Produktinformation - ändern. Der emotionale Konditionierungsvorgang entzieht sich weitgehend der willentlichen und kognitiven Kontrolle der Umworbenen. Für die Wirkung der emotionalen Werbung genügt es, wenn die Werbung als solche wahrgenommen wird: Eine gedankliche Auseinandersetzung mit ihr ist nicht erforderlich.

Im Allgemeinen setzt die Verstärkung und Veränderung von Einstellungen gegenüber einer Marke sowohl eine informative wie eine emotionale Beeinflussung der Konsumenten voraus. Unter bestimmten Bedingungen kann man allerdings in der Werbung weitgehend oder völlig auf Informationen verzichten. Das ist vor allem auf gesättigten Märkten der Fall, wenn

  • die Produkte nicht (mehr) erklärungsbedürftig sind und der Konsument an sachlicher Produktinformation wenig interessiert ist;

  • die sachlichen Eigenschaften der konkurrierenden Marken von den Konsumenten als ungefähr gleich gut beurteilt werden.

Die emotionale Produktdifferenzierung lässt sich auch in eine informative Werbung einbeziehen, sodass die Konsumenten mit Argumenten angesprochen werden, um auf ihr Produktwissen und ihre Vernunft einzuwirken, sie jedoch emotional an eine Marke gebunden werden. Durch negative Erfahrungen beim Konsum kann die durch emotionale Differenzierung erzeugte positive Einstellung gegenüber einer Marke allerdings auch wieder zunichte gemacht werden.

Emotionale Erlebniswerte werden verstanden als subjektiv wahrgenommene, gefühlsmäßige Produktbeurteilungen der Konsumenten. Diesen Erlebniswert kann man auf die Beurteilung von Einkaufsstätten und werbliche Darbietungen erweitern. In gesättigten Märkten mit technisch austauschbaren Produkten ist der emotionale Erlebniswert meistens die alleinige Möglichkeit, sich vom Wettbewerber zu differenzieren. Das gilt keineswegs nur für technisch einfache Güter des täglichen Bedarfs.

Emotional orientierte Kommunikation hat einen weiteren Vorteil. Beeinflussungstechniken sind umso wirksamer, je schwerer sie als solche zu durchschauen sind. Die Verwendung emotional wirkender Reize in der Werbung ist vom Empfänger besonders schwer zu durchschauen, ist also auch deshalb geeignet zu beeinflussen.

Zwar vermag die Werbung den Menschen nicht neue Einstellungen und Bedürfnisse einzupflanzen. Sie kann jedoch die vorhandenen verstärken: Werbung schafft ständig neuen Bedarf - jedoch tut sie das auf der Basis vorhandener Bedürfnisse.

Wolfgang J. Koschnick gilt in Deutschland, Österreich und der Schweiz als einer der bestinformierten Kritiker der internationalen Werbeforschung und Werbung. Er hat über 50 anerkannte Nachschlagewerke aus dem weiten Feld von Marketing, Management, Marktkommunikation, Werbe- und Mediaplanung, Markt-, Media- und Sozialforschung geschrieben, mit denen mehrere Generationen von Nachwuchswerbern, Marketingexperten, Werbe- und Mediaforschern ausgebildet werden. Dabei bewahrte er stets seine Unabhängigkeit und eine gewisse Streitbarkeit. Bei Bedarf legt er sich mit Werbungtreibenden, Werbern, Werbeagenturen und sonstigen Interessenvertretern ohne Ansehen der Personen, Organisationen und Institutionen an.

Der 8. Teil der Serie "Wie Werbung wirklich wirkt" erscheint in etwa einer Woche:

Von hinten herum durchs Knie mitten ins Unterbewusstsein
Der Weg ins Herz der Konsumenten ist oft beschwerlich