Kanzler der Reichen? Warum Friedrich Merz die Mittelschicht täuscht
Friedrich Merz steht für "Leitkultur" und Wirtschaftslobby. Er ist sich politisch treu geblieben, weil er nicht dazulernt. Macht ihn das kanzlertauglich? Ein Gastkommentar.
Die bisherige Laufbahn des gemeinsamen Kanzlerkandidaten der Unionsparteien, Friedrich Merz, ist geprägt von seiner nationalkonservativen Grundhaltung, die sich mit einer Glorifizierung der Marktmechanismen, des ökonomischen Leistungsgedankens und der Standortkonkurrenz zu einer neoliberalen Melange verbindet.
Diese qualifiziert Merz aus Sicht des Leitungspersonals der Privatwirtschaft für das wichtigste Staatsamt. Durch seine Aufsichtsratstätigkeit für BlackRock, das weltweit größte Finanzkonglomerat, hat er sich in Führungszirkeln deutscher Konzerne, Banken und Versicherungen den Ruf erworben, gut vernetzt und ein zuverlässiger Repräsentant des eigenen Wirtschaftsstandorts zu sein.
Leitkultur und Nationalstolz als Richtschnur
Typisch für seinen Nationalkonservatismus war, dass Merz im Oktober 2000 als Vorsitzender der Unionsfraktion im Bundestag auf einer Pressekonferenz die Ausländerpolitik zum Thema machte und das vom damaligen Berliner Innensenator Jörg Schönbohm (CDU) als Gegenentwurf zum Multikulturalismus entwickelte Postulat aufgriff, Zuwanderer müssten sich der "deutschen Leitkultur" unterwerfen.
Die Kölner Politikwissenschaftlerin Gudrun Hentges gelangte in einer Untersuchung der sich anschließenden Leitkultur-Diskussion zu dem Ergebnis, dass diese Position untrennbar mit nationalistischen und rassistischen Ideologien verknüpft war:
Die von Merz erhobene Forderung, Ausländer hätten sich einer deutschen Leitkultur anzupassen, rechtfertigte nicht nur bereits existierende rassistische Einstellungen und Meinungen, sondern beförderte sie auch.
Wenig später ging es um die "nationale Identität" und die Salonfähigkeit einer Spielart des Kulturrassismus. In diesem Zusammenhang wurden Vertreter etablierter demokratischer Parteien wie Friedrich Merz zu Kronzeugen rechtspopulistischer und rechtsextremer Publikationsorgane. "Leitkultur" fungierte dabei als neokonservativer Kampfbegriff, der ethnische Minderheiten in Deutschland zur Akzeptanz der normativen, sprachlichen und religiösen Hegemonie der Mehrheitsgesellschaft zwang.
Abgelöst wurde die "Leitkultur"-Debatte von der "Nationalstolz"-Diskussion. Auf dem Höhepunkt teilweise pogromartiger, rassistisch motivierter Übergriffe wie in Hoyerswerda, Rostock-Lichtenhagen, Mölln und Solingen ordnete man die Parole "Ich bin stolz, ein Deutscher zu sein" meist rechten Skins zu. Der damalige CDU-Generalsekretär Laurenz Meyer bekannte allerdings später im Focus (v. 30.10.2000), auch er sei stolz, ein Deutscher zu sein.
Dass beliebte Themenfelder der extremen Rechten – Zuwanderung, demografischer Wandel und Nationalbewusstsein – um die Jahrtausendwende zu Kernthemen der politischen Mitte avancierten, die in den Massenmedien breit erörtert wurden, hat den Aufschwung ultrarechter Kräfte, in deren Tradition heute die AfD steht, stark beschleunigt, wenn nicht überhaupt ermöglicht.
Nunmehr galt jemand, der "Multikulti" für gescheitert erklärte, vor einer "kulturellen Überfremdung" des Landes warnte, seinen Stolz auf Deutschland hervorhob oder im Demografie-Diskurs das "Aussterben" des eigenen Volkes beschwor, nicht mehr als hinterwäldlerisch oder rückwärtsgewandt, sondern als hochmodern. Mittlerweile hatte eine "Politikwende" stattgefunden, wie sie die Union im laufenden Bundestagswahlkampf propagiert.
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Schon im ersten Kapitel der Langfassung des gemeinsamen Wahlprogramms von CDU und CSU wird unter dem Titel "Für ein Deutschland, auf das wir wieder stolz sein können" erneut der Nationalstolz beschworen.
Dass die Unionsparteien versprechen, "Deutschland wieder nach vorne" zu bringen, erinnert zwar fatal an Donald Trumps Wahlslogans "Make America Great Again!" und "America First!", gilt bei Friedrich Merz jedoch als normal. Niemand regt sich groß darüber auf, obwohl sich die nationalkonservative Gesinnung der beiden Politiker nur um Nuancen unterscheidet.
Unter der Überschrift "Leitkultur und Zusammenhalt leben" konstatieren die Unionsparteien auf S. 6 ihres Wahlprogramms:
Es gibt in unserem Land gewachsene Spielregeln und Normen, die von allen, die hier leben wollen, anerkannt und respektiert werden müssen. Wir stehen zu unserer Leitkultur.
Friedrich Merz erklärte kurz nach seiner Wahl zum CDU-Vorsitzenden, die ihm erst im dritten Anlauf gelang, die Stimmen der Alternative für Deutschland (AfD) durch Korrektur von Angela Merkels liberaler Flüchtlingspolitik halbieren zu wollen. Zieht man heute eine Zwischenbilanz, ist das Resultat seines Wirkens allerdings katastrophal, denn Merz hat zwar das Stimmenpotenzial aller demokratischen Parteien neben der Union beinahe halbiert, das Stimmenpotenzial der AfD aber eher verdoppelt.
Steuerpolitik für Reiche als politisches Markenzeichen von Friedrich Merz
Um die Jahrtausendwende erodierte unter dem wachsenden Einfluss des Neoliberalismus in Deutschland wie in vielen anderen kapitalistischen Staaten das Verständnis von sozialer und Steuergerechtigkeit. Merz, seinerzeit stellvertretender Vorsitzender der Unionsfraktion im Bundestag, entwickelte 2003 Pläne für eine radikale Vereinfachung des Einkommensteuersystems, die dazu führen sollten, dass die Steuererklärung der meisten Bürger/innen "auf einen Bierdeckel" passen.
Heute behauptet Merz, nur gesagt zu haben, dass ein Stück Papier von der Größe eines Bierdeckels ausreichen müsse, um darauf die Höhe ihrer Steuerschuld ausrechnen zu können.
Merz schlug eine Reduktion der Progression und die Beschränkung auf drei Steuersätze vor: 12 Prozent bei Einkommen zwischen dem damaligen Grundfreibetrag von 8.000 Euro bzw. 16.000 Euro für gemeinsam Veranlagte im Jahr, 24 Prozent bei höheren Einkommen bis 40.000 Euro im Jahr und 36 Prozent bei Einkommen über 40.000 Euro im Jahr. Dafür sollten bestimmte Steuervergünstigungen wie die Pendlerpauschale gestrichen werden. Statt der sieben Einkunftsarten im deutschen Steuerrecht sollte es nur noch vier geben.
Suggeriert wurde von Merz wie von anderen neoliberalen Modernisierern, dass unser Steuersystem zu kompliziert, einzelfallorientiert und deshalb ungerecht sei, weil es zahlreiche Ausnahmen kennt. Simplizität bietet aber keine Gewähr für mehr Steuergerechtigkeit, sondern kann leicht das Gegenteil bewirken, also die bestehende soziale Ungleichheit noch verstärken.
Das bewies Merz mit seinem dreistufigen Steuermodell, bei dem selbst die inzwischen weit über 30.000 deutschen Einkommensmillionäre fortan denselben relativ niedrigen Steuersatz wie ein Oberstudienrat zu bezahlen hätten. Man muss kein Steuerexperte sein, um zu erkennen, dass dieses Modell besonders sehr reichen Menschen nützen, aber dem Staat Milliardeneinnahmen entziehen würde.
Die von CDU und CSU im Bundestagswahlkampf vorgeschlagenen "Steuererleichterungen" für Durchschnittsbürger/innen sind denn auch fast ausschließlich schlecht kaschierte Steuervergünstigungen für Wohlhabende, Reiche und Hyperreiche, denen es aufgrund ihres hohen Einkommens und/oder Vermögens zu keiner Zeit schwergefallen wäre, mehr Steuern zu zahlen, wenn sie es gewollt und Parlamentsmehrheiten es ihnen zugemutet hätten.
Angesichts der maroden Verkehrs-, Bildungs- und Betreuungsinfrastruktur unseres Landes wäre eben dies nötig, wenn verhindern werden soll, dass sich die wachsende soziale Ungleichheit künftig immer stärker im Alltagsleben der Bevölkerungsmehrheit manifestiert. Nur reiche Bürger/innen können sich einen armen Staat leisten, denn sie brauchen beispielsweise keine öffentlichen Schwimmbäder, weil sie ihren eigenen Swimmingpool in der Villa oder im Garten haben.
Spitzenverdiener stärker und Hochvermögende überhaupt zu besteuern kommt immer mehr aus der Mode. Statt sich mit den Reichen anzulegen, leihen sich regierende Politiker lieber Geld von ihnen, für das sie hohe Zinsen bezahlen müssen. Wenn die etablierten Parteien teure Pläne haben, schlagen sie einen Fonds vor, der sich aus Krediten speist. CDU und CSU wollen den bestehenden Zukunftsfonds weiter ausbauen, SPD und Bündnis 90/Die Grünen einen "Deutschlandfonds" schaffen.
Die zuletzt von Friedrich Merz in seiner Eigenschaft als Oppositionsführer und möglicher Nachfolger von Bundeskanzler Olaf Scholz nicht mehr kategorisch ausgeschlossene Modifizierung der Schuldenbremse wäre ebenfalls kein geeignetes Instrument, um die soziale Verteilungsschieflage zu korrigieren.
Denn im Rahmen seiner "Agenda 2030" und seiner "Neuen Grundsicherung" müssten ärmere Bevölkerungsschichten die laufenden Zinsen für Kredite des Bundes und deren spätere Rückzahlung vermutlich durch Leistungskürzungen im Sozialbereich finanzieren. Umgekehrt würden Reiche, die dem Staat viel eher und mehr Geld leihen können, durch hohe Zinszahlungen der öffentlichen Hand an sie wahrscheinlich noch wohlhabender.
In seiner am 10./11. Januar 2025 beschlossenen "Agenda 2030" kündigte der CDU-Bundesvorstand die umfassendste Steuerreform seit Jahrzehnten an:
Wir werden die Einkommensteuerbelastung deutlich reduzieren. Der Anstieg des Einkommensteuertarifs soll zukünftig flacher verlaufen. Der sog. Spitzensteuersatz soll erst bei 80.000 Euro greifen. Den Grundfreibetrag werden wir jährlich erhöhen. Das führt insgesamt zu einer niedrigeren Steuerbelastung für alle Steuerzahlerinnen und Steuerzahler, insbesondere für die arbeitende Mittelschicht.
Am meisten profitieren würden indes Spitzenverdiener, die allenfalls nach den Maßstäben von Friedrich Merz der "arbeitenden Mittelschicht" angehören.
Statt um "die hart arbeitende Mitte", von der Spitzenpolitiker wie er gern sprechen, geht es Merz um den Wirtschaftsstandort Deutschland. Auch das Hauptaugenmerk der CDU gilt den (großen) Unternehmen, denen sie verspricht: "Wir werden die Körperschaftsteuer schrittweise auf zehn Prozent reduzieren."
Die für Kapitalgesellschaften (GmbHs und AGs) geltende Einkommensteuer soll demnach um ein Drittel sinken. Sie betrug unter Bundeskanzler Helmut Kohl noch 30 bzw. 45 Prozent, je nachdem, ob die Gewinne ausgeschüttet oder einbehalten wurden.
Auf S. 6 des Wahlprogramms von CDU und CSU heißt es: "Wir stärken unsere Sicherheits- und Verteidigungsindustrie." Die Rüstungslobbyisten von Rheinmetall lassen grüßen. Besitzer der Aktien dieses Konzerns, deren Wert sich seit Beginn des Ukrainekrieges mehr als versechsfacht hat, dürften jedoch kaum "Menschen mit niedrigen und mittleren Einkommen" sein, die man "vor allem" zu entlasten verspricht.
Vielmehr sollte eine Rückverteilung des Reichtums von oben nach unten mittels einer tiefgreifenden Reform des Steuersystems stattfinden. Wer aus Gerechtigkeitsgründen darauf hofft, wird Friedrich Merz aber wohl nie an seiner Seite finden.
Prof. Dr. Christoph Butterwegge hat von 1998 bis 2016 Politikwissenschaft an der Universität zu Köln gelehrt und zuletzt die Bücher "Deutschland im Krisenmodus" sowie "Umverteilung des Reichtums" veröffentlicht.
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