Kein Airbag für Fußgänger

Die EU will mehr Sicherheit für Fußgänger im Straßenverkehr schaffen und kann sich doch nicht richtig dazu durchringen

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Für Insassen wurden in den vergangenen Jahrzehnten zahlreiche lebensrettende Verbesserungen Pflicht. Sicherheitsgurte, Airbags und stabilere Karosseriekonzepte machen Autos für die, die drinnen sitzen immer sicherer. Doch was ist mit denen draußen, mit den Fußgängern? Die kommen bei Verkehrssicherheitsdiskussionen seit Jahrzehnten zu kurz. Bei der EU möchte man ja gern was tun, aber der Autoindustrie auf die Zehen steigen, traut man sich auch nicht.

40.000 Menschen sterben jedes Jahr auf europäischen Straßen. 5.842 Menschen waren es nach Angaben des Statistischen Bundesamtes im vergangenen Jahr in Deutschland. 440.126 Verletzte gab es, davon 37.132 Kinder.

Verbesserte Stoßstangen

Immerhin hat sich die Europäische Union in punkto Verkehrssicherheit Ziele gesetzt. Bis Ende 2010 soll die Zahl der Verkehrstoten halbiert werden. Jetzt im Oktober tritt die erste Phase der neuen Fußgänger-Sicherheitsdirektive in Kraft. Danach müssen neue Fahrzeugmodelle freundlicher auf Zusammenstöße mit menschlichen Wesen reagieren.

Üblicherweise ziehen Fußgänger beim Zusammenstoß mit einem Auto immer den Kürzeren: Der Aufprall mit der Stoßstange zieht dem Betroffenen die Füße weg, Kopf und Oberkörper prallen gegen die Motorhaube und werden schwer verletzt. Wie der New Scientist in seiner aktuellen Ausgabe meldet, kommen in Europa 80 Prozent der Verkehrstoten bei solchen Zusammenstößen ums Leben.

Nach der neuen EU-Direktive müssen die Stoßstangen künftig die Wucht des Aufpralls stärker absorbieren. Stoßstangen sollen größer und tiefer werden. Dazu soll eine „Knautschzone“ unter der Motorhaube die Wucht der Kollision abfangen und die Schwere von Kopfverletzungen mildern. Solche Maßnahmen sind bei den meisten Autotypen realisierbar durch einen Hohlraum von 10 Zentimetern zwischen Motorhaube und Motor. Bei kleineren Autos oder Sportwagen ist das aufwändiger zu bewerkstelligen, doch der größte Widerstand kommt von der Autoindustrie, die am charakteristischen Design ihrer Modelle nichts verändern will.

Dabei arbeitet das Unternehmen Robert Bosch in Stuttgart laut New Scientist bereits an einer schicken Lösung: eine computergesteuerte Motorhaube, die sich um 10 Zentimeter ausdehnen kann und mit druckempfindlichen Stoßstangen verbunden ist. Diese können sogar zwischen Mensch, Baum und Laternenpfahl unterscheiden.

Airbags an der Motorhaube

Auch Japan will bis 2007 mit einer entsprechenden Gesetzgebung nachziehen, einzig die USA zögern – auch aus Kostengründen, denn aufwändigere Ausstattung bedeutet eine Verteuerung. Aus Erfahrung wissen Autobauer, dass viele Autofahrer dieses Geld lieber in eine nette Audioanlage investieren. Außerdem ist in den USA der öffentliche Druck geringer, denn es gibt weniger Fußgänger und damit auch weniger Unfälle mit Fußgängern. Laut Gesetz müssen Stoßstangen in den USA einen Zusammenstoß mit einem soliden Gegenstand bei 4 km/h unbeschadet überstehen. Die amerikanischen Autofahrer setzen solche Stoßstangentests mit Verkehrssicherheit gleich. Resultat: US-Stoßstangen sind extrem hart und damit extrem fußfängerunfreundlich.

Über die zweite Phase des EU-Projektes, die im Jahr 2010 in Kraft tritt, gab es lange Diskussionen. Ursprünglich beauftragte die EU das Transport Research Laboratory (TRL) in Wokingham, Berkshire mit einer Machbarkeitsstudie hinsichtlich neuer Sicherheitsstandards. TRL forderte dass Maßnahmen durchgesetzt werden, die Fußgänger bei einer Geschwindigkeit bis zu 40 km/h schützen, um die Hersteller zu zwingen, schärfere Maßnahmen zu ergreifen. Doch dann überzeugte die Autolobby die EU, dass so etwas unnötig ist, weil Anti-Blockier-Bremsen (ABS) ausreichen.

Dabei hatten Sicherheitsexperten gehofft, dass „äußere Airbags“ endlich Pflicht würden. Bereits 1999 zeigte TRL bei Experimenten mit Airbags an der Motorhaube, die bei Kontakt mit Fußgängern aufgehen, dass dadurch Kopfverletzungen um 90 Prozent und Verletzungen am Oberkörper um die Hälfte gesenkt werden können. Für den Autobesitzer haben sie jedoch den Nachteil, dass sie den Lack am Fahrzeug beschädigen – offenbar ein schlagkräftiges Gegenargument.

„Unfallfreie“ Fahrzeuge

Dabei gäbe es noch zahlreiche andere Maßnahmen, die Unfälle vermeiden helfen könnten. 2007 will die EU ein Projekt starten, bei dem ein kollisionsfreies Fahrzeug entwickelt werden soll. Das Unternehmen baut auf Untersuchungen von TRL auf, wo man zusammen mit dem Autobauer Jaguar ein Auto getestet hat, das mit Infrarot und Radar ausgestattet ist und Unfälle frühzeitig erkennt. Ausgereift ist die Technik allerdings noch nicht. Immer noch könnte ein Mensch bei Sonnenschein mit einem Baum verwechselt werden, da beide eine ähnliche Radarsignatur haben.

Es wird Zeit, dass der Gesetzgeber zum Schutz der Fußgänger stärker durchgreift. Und es ist ein Paradox, dass ausgerechnet deutsche Fahrzeughersteller den Fußgängerschutz so vernachlässigen. An der Universität Hannover gibt es seit 30 Jahren ein eigenes Institut für Verkehrsunfallforschung mit einem mobilen Bereitschaftsdienst, der jährlich rund 2.000 Unfälle analysiert. Trotzdem geht nichts vorwärts. Es ist der individuelle Fußgänger, der sich ständig den Gegebenheiten im Verkehr anpassen muss, nicht umgekehrt das System Verkehr.

Auf Europas Straßen sollte kein Mensch mehr schwer oder tödlich verletzt werden – diese Vorstellung hat bereits einen Namen: Vision Zero – Null Verkehrstote. Die Schweiz, Schweden und Holland haben das Konzept schon aufgenommen, Deutschland zögert.