Kino als Sabotage
Vögel bei Hitchcock, oder: Ist die Sexualneurose die Mutter der Filmkunst?
Neulich war es wieder soweit. Die ARD erinnerte sich an ihren Bildungsauftrag und erklärte uns, wie Kunst entsteht. Diesmal erwischte es Alfred Hitchcock. Über ihn erfuhr man in der Legenden-Reihe Folgendes: Hitchcock träumte davon, ein erfolgreicher Liebhaber zu sein und schöne Frauen zu besitzen. Weil er aber in Wirklichkeit ein fetter, hässlicher und verklemmter Kerl war, lebte er im Filmatelier finstere Triebe aus und fasste seine geheimen Wünsche in bewegte Bilder. Das hat uns einige Meisterwerke der Filmgeschichte beschert. Muss man also eine schwere Sexualneurose haben oder sonst irgendwie durchgeknallt sein, um ein großer Künstler werden zu können? Nicht unbedingt. Versuch einer Ehrenrettung für Alfred Hitchcock.
Ein Baum und viele Vögel
In Rebecca (1940) erzählt die namenlose Heldin von ihrem Vater, einem unverstandenen Künstler, der stets denselben Baum malte. Der Vater hatte die Theorie, dass man, wenn man eine perfekte Sache gefunden hatte, dabei bleiben sollte. Das ist einer jener die eigene Arbeit kommentierenden Dialoge, wie sie in Hitchcock-Filmen oft zu hören sind. Hitchcocks Baum war der Thriller. Er arbeitete ein Leben lang daran, die Form zu perfektionieren. Kaum eines der einzelnen Elemente ging dabei je verloren. Er probierte sie in verschiedenen Zusammenhängen aus, betrachtete sie aus unterschiedlichen Perspektiven und ordnete sie neu an, bis er die perfekte Verwendungsmöglichkeit gefunden hatte. Weil bei Hitchcock nichts nur einmal auftaucht, sitzt nicht nur ein Vogel im Baum, sondern ein ganzer Schwarm. Wer diesen Vögeln folgt, findet den idealen Zugang zu Hitchcocks Werk.
Am besten, man beginnt mit Blackmail (1929), von dem es eine stumme und eine Tonfassung gibt. Alice White, eigentlich mit dem Polizisten Frank liiert, verbringt den Abend mit einem Maler und begleitet diesen in sein Atelier. Der Maler versucht, sie zu vergewaltigen; Alice ersticht ihn, vermutlich in Notwehr (wir sehen nicht, was genau passiert). Der Legende nach war die stumme Fassung weitgehend abgedreht, als der Produzent plötzlich einen Tonfilm wollte. Die beiden Versionen legen aber den Schluss nahe, dass Hitchcock die stumme Fassung von Anfang an so anlegte, dass sie ohne allzu großen Aufwand mit Tonfilm-Teilen angereichert werden konnte. Er reagierte so auf eine Phase des Übergangs. Das Großstadtpublikum verlangte Tonfilme; die Kinos in der Provinz waren auf Stummfilme angewiesen, weil sie die neue Technik noch nicht installiert hatten. Hitchcock lieferte beides. So etwas erforderte Weitsicht und genaue Planung, was nicht recht zum Bild von dem Getriebenen passen will, der aus einem inneren Zwang heraus seine mühsam unterdrückten Sexualphantasien auf die Leinwand brachte.
Signifikante Unterschiede zwischen den Versionen gibt es nur in zwei Szenen. Ihnen kommt deshalb besondere Bedeutung zu. Die eine ist die Vergewaltigungsszene. Die andere zeigt den Morgen nach der Tat. Alice tut so, als habe sie die Nacht schlafend im Bett verbracht, als ihre Mutter mit dem Morgentee ins Zimmer kommt. In beiden Versionen hängt ein Photo von Frank an der Wand. Aber in der Tonfassung ist ein Vogelkäfig hinzugekommen. Der zugehörige Kanarienvogel ist nicht zu sehen, nur zu hören. Er ist gleichzeitig real (die Mutter scheint ihn zu sehen) und imaginär. Sein übermäßig lautes, schrilles Trillern gibt Alices subjektive Wahrnehmung wieder und verdeutlicht ihren inneren Zustand. Sie steht kurz vor einem Nervenzusammenbruch.
Die Mutter berichtet, dass in der Nachbarschaft ein Mord begangen wurde. Als sie sagt, dass die Polizei am Tatort sei, setzt das Vogelgezwitscher ein. Dazu sehen wir das Photo von Frank, in Polizeiuniform. Es hängt über Alices Schminktisch, von wo aus der Uniformierte das Schlafzimmer der jungen Frau überwacht. Das zweite Mal zeigt uns Hitchcock das Photo als stummes Bild, das Gezwitscher wird unterbrochen. Er wechselt innerhalb der Szene vom Ton- zum Stummfilm, was er sonst nur zwischen den Szenen macht. Mit dem Photo liefert er das Bild zum Zwitschern des nie gezeigten Kanarienvogels nach. Offenbar besteht irgendein Zusammenhang zwischen dem Vogel und dem Polizisten. Eine Liebeserklärung an die Vögel ist das nicht. In Hitchcocks Filmen sind beide Gruppen, Vögel und Polizisten, negativ besetzt.
Wen schützt die Polizei?
Die berühmteste aller Hitchcock-Anekdoten ist die vom kleinen Alfred, den der Vater mit einem Zettel zum Polizeirevier schickt, wo der Junge zur Strafe für ein Vergehen in eine Zelle gesteckt wird. Ob sich das wirklich so zugetragen hat, oder ob Hitchcock die Anekdote erfunden hat, ist letztlich unerheblich. Wichtig ist, dass er sie immer wieder erzählte, weil er uns damit etwas sagen wollte. Seine Anekdoten verlangen genauso nach Interpretation wie seine Filme. Die Polizei ist die Institution, die uns die Freiheit raubt. Und sie vertritt ein patriarchalisches System (der Polizist ist mit dem Vater im Bunde, auf dessen Wunsch der kleine Alfred eingesperrt wird). Wenn man das bedenkt, sieht man Hitchcocks Filme plötzlich völlig anders.
Als erster "echter" Hitchcock-Film gilt The Lodger (1926), eine Version der Jack-the-Ripper-Geschichte. In London geht ein Frauenmörder um. Typisch Hitchcock, wird man sagen. Wenn einer in seinen Filmen immer wieder schöne junge Frauen töten lässt, meint der Stammtisch, muss er sexuell frustriert sein. Charakteristisch für Hitchcock scheint die morbide Faszination zu sein, die spektakuläre Kriminalfälle auf ihn ausübten. Er besaß alle Bände der Buchreihe "Notable British Trials", und bis kurz vor seinem Tod arbeitete er an einem Film über den sadistischen Sexualmörder Neville Heath. Im Hitchcock-Porträt der ARD wird dieses letzte Filmprojekt einfach weggelassen, obwohl man äußerst interessante Probeaufnahmen hätte zeigen können. Die Macher der Legenden-Episode dachten wohl, dass so etwas nicht gesund gewesen sein kann. Dem Gebührenzahler wollten sie das nicht zumuten.
Man vergisst leicht, dass solche Kriminalfälle immer auch Teil der Sozialgeschichte sind. Wie unter einem Brennglas, verdichtet und mitunter ins Groteske verzerrt, erlauben sie Rückschlüsse auf den Zustand eines Gemeinwesens. Von den Grenzbereichen der Erfahrung aus sieht man vieles klarer, auch die sogenannte Normalität. Regisseure wie Hitchcock und Fritz Lang (M, 1930/31) haben aus spektakulären Verbrechen Filme über die jeweilige Gesellschaft gemacht, in der sie sich abspielten. Hitchcock wuchs in einem der ärmeren Viertel Londons auf, in einer Welt der Arbeiter und der Unterprivilegierten. Aus dem Ripper-Fall (und aus The Lodger) erfährt man viel über diese Welt, deren Bewohner die Polizei als ein Kontroll- und Unterdrückungsinstrument der Mächtigen wahrnahmen. Dazu hatten sie allen Grund. In Büchern und in Dokumentationen über Hitchcock wird dieser Aspekt meistens auf eine angeblich private Psychopathologie reduziert. Das sagt aber zunächst nur etwas über die Interpreten aus und noch gar nichts über Hitchcock.
Joe, der Polizist in The Lodger, ist der Vorläufer von Frank in Blackmail. Beide sind grob, dominant und besitzergreifend. In den dokumentarischen Anfangssequenzen von Blackmail wird die Polizei als eine rein männliche Institution eingeführt. Frauen werden (von Frank) zur Seite geschoben oder müssen - stumm - den Täter identifizieren. In der Szene, in der das geschieht, steht die Frau in einem Gefängnishof, umgeben von lauter Männern. Irgendeiner davon ist der Verbrecher. Die Szene ist so klaustrophobisch, dass über den Sieg der Gerechtigkeit keine Freude aufkommen will. Nachdem der Haftbefehl ausgestellt ist, trifft sich Frank mit Alice, die er einmal heiraten wird. Jedenfalls denkt er das. Alice hat keine Heiratsabsichten. Hitchcock macht das ganz klar. Die Ehe mit Frank wäre eine andere Form von Gefängnis.
Erpresser und Ehemänner
Der kleine Gauner Tracy weiß, dass Alice im Atelier des Malers war. Nach dem Auffinden der Leiche erpresst er sie und Frank. Vordergründig erklärt das den Titel des Films: Erpressung. Bei Hitchcock sind solche Titel allerdings immer mehrdeutig. Als Frank zum Tatort kommt, pfeift er (wie ein Vogel). Er findet einen von Alices Handschuhen. Das ist der einzige Beweis gegen sie. Frank könnte den Handschuh vernichten oder ihn Alice geben. Aber er zeigt ihn nur vor. Dann sehen wir mit Alice, wie Frank den Handschuh in seine Tasche steckt. Frank besitzt jetzt ein Druckmittel gegen Alice, die ihn bisher nicht heiraten wollte. Das ist wirklich "typisch Hitchcock". Er gibt uns die visuellen Informationen, die wir brauchen, um aus der Geschichte Sinn zu machen. Für die Interpretation sind wir selber zuständig.
Die Handschuh-Szene spielt sich in einer Telefonzelle ab. Draußen vor der Zelle steht Tracy, der zweite Erpresser. Weil bei Hitchcock nichts verloren geht, wird sich Melanie Daniels mehr als 30 Jahre später in eine Telefonzelle flüchten (The Birds). Draußen warten die Vögel auf sie. Tracy erzwingt mit seinem Wissen ein Frühstück im Kreise der Familie White. Was man mit einer idyllischen Familienszene verwechseln könnte, wird so als Zwangsveranstaltung entlarvt. Jetzt pfeift Tracy wie ein Vogel wie zuvor Frank. Weil Hitchcock die Frauen zwar quälte, aber auch Mitgefühl mit ihnen hatte, wird Alice am Schluss nicht für ihre Tat zur Rechenschaft gezogen - so jedenfalls die ARD-Legenden. Hitchcock hätte dem vermutlich freundlich lächelnd zugestimmt, wie es seine Art war. Aber entscheidend ist der Film und nicht das, was wir über die privaten Obsessionen des Regisseurs zu wissen glauben. Am Ende wird Alice Frank doch heiraten, obwohl sie das am Anfang überhaupt nicht wollte. Diese Ehe ist das Resultat der eigentlichen Erpressung, die dem Film den Titel gegeben hat.
Mit einem recht merkwürdigen Detail wartet The 39 Steps (1935) auf. Richard Hannay wird von der Polizei gejagt, die irrtümlich glaubt, dass er eine Frau ermordet hat. Als die verfolgenden Polizisten das Haus erreichen, in das Hannay geflüchtet ist, gesellt sich plötzlich ein Vogel zu ihnen, der von rechts unten in das Bild fliegt. Die Einstellung wurde im Studio gedreht. Man "sieht" gleichsam den Requisiteur im Off, der das Tier im richtigen Moment losfliegen lässt. Der britische Hitchcock war verspielter als der Hollywood-Regisseur. Der Vogel scheint da nur herumzufliegen, weil Hitchcock ihn der Polizei gern beigeben wollte. Trotzdem ist es mehr als ein privater Spaß. Wie in Blackmail wird der Vogel wieder den Repräsentanten eines männlichen Systems zugeordnet.
Terror des Alltäglichen
In Sabotage (1936) werden die Vögel zu einem handlungstragenden Element. Standen sie bisher der Polizei nahe, so haben sie sich jetzt den Anarchisten angeschlossen. Verloc, einer der Saboteure, lässt die Bombe vom "Professor" bauen, der im bürgerlichen Teil seiner Existenz eine Tierhandlung betreibt. Der Professor versteckt den Sprengsatz in einem Käfig mit zwei Kanarienvögeln und teilt verschlüsselt mit, wann die Bombe explodieren wird: "Die Vögel singen um 1 Uhr 45." Verloc betreibt zur Tarnung seiner eigentlichen Aktivitäten ein Kino, in dem "Who Killed Cock Robin?" gespielt wird, ein Zeichentrickfilm der Disney-Studios mit Hühnern und anderem Federvieh. Die Vögel sind jetzt also ein Symbol für Chaos und Gewalt, wo sie vorher eher die bürgerlich-patriarchalische Ordnung symbolisierten. Das heißt aber nicht, dass Hitchcock seine Haltung radikal geändert hätte. Er lässt Leute umbringen, um die strukturelle, meist unsichtbare Gewalt in der Gesellschaft deutlich zu machen. Und bei ihm stehen die Guten immer in einem spiegelbildlichen Verhältnis zu den Bösen. Darum gibt es am Ende seiner Filme auch keine Selbstgerechtigkeit (oder wenn, dann höchstens bei den Interpreten).
In The Secret Agent, der Romanvorlage von Joseph Conrad, wird genau erläutert, was mit den Bombenanschlägen erreicht werden soll. In Sabotage scheinen die Attentate nichts weiter zu sein als der "McGuffin", Hitchcocks Bezeichnung für die geheime Formel, den Code oder den Mikrofilm, hinter dem alle her sind und der zum Vorantreiben der Handlung dient. Hitchcock hat in Dutzenden von Interviews mit treuherzigem Augenaufschlag versichert, dass der McGuffin für sich genommen keine Bedeutung hat, und so kann man es auch in vielen Büchern über ihn lesen. Man muss nur Notorious (1946) sehen, um zu wissen, dass es komplizierter ist. Da versucht eine von Südamerika aus operierende Nazi-Organisation, sich in den Besitz der Atombombe zu bringen.
Deutsche Zensoren, die sich gelegentlich hinter Kürzeln wie FSK verstecken, weil die Zensur laut Grundgesetz abgeschafft ist, haben auf ihre Weise bestätigt, dass dieser McGuffin durchaus eine Bedeutung hat. Bei uns konnte Notorious erst nach einigen Änderungen in die Kinos kommen. Aus dem Uran war in der Synchronfassung (Verleihtitel: "Weißes Gift") Rauschgift geworden, die Nazis hatten sich in Drogendealer verwandelt. Besonders widerlich: die Rauschgifthändler sind "Kosmopoliten" - das war ein in der Nachkriegszeit noch sehr geläufiges Schimpfwort der Nazis für die Juden. Hitchcock-Filme sind so konstruiert, dass der Betrachter (in diesem Fall: die Bearbeiter) Gelegenheit erhält, sich selbst zu enttarnen. Das macht sie so subversiv.
In Sabotage (erfahren wir nie wirklich, was die Männer im Hintergrund mit den Anschlägen bezwecken. Es wäre leicht gewesen, ein paar Dialogsätze über den Umsturz des politischen Systems oder dergleichen einzufügen. Hitchcock lässt das weg. Aber er zeigt uns das Milieu der unteren Mittelschicht, in dem Verloc und der Professor leben (und aus dem er selber stammte). Einmal trifft sich Verloc mit seinem Auftraggeber im Londoner Aquarium. Der Auftraggeber macht die nächste Zahlung von einer spektakulären, Angst und Schrecken verbreitenden Bombenexplosion abhängig. Zuvor haben wir erfahren, dass das Kino nicht genug abwirft, um eine Familie zu ernähren. Der Film lässt nur einen Schluss zu: Verloc plant das Attentat, um sein bürgerliches Dasein mit braver Ehefrau, regelmäßigen Mahlzeiten und täglich frischem Gemüse abzusichern. Bei Hitchcock ist das der Antrieb hinter den terroristischen Akten. Die Vögel sind deshalb auch bei den Anarchisten sehr gut aufgehoben.
Beim Bombenanschlag kommt der kleine Bruder von Mrs. Verloc ums Leben. Sie erfährt dadurch, wie ihr Mann sein Geld verdient. Hitchcock nützt das darauf folgende Gespräch zwischen den Eheleuten, um den Terror des Alltäglichen zu zeigen. Wenn nicht gerade der kleine Stevie durch eine Bombe zerfetzt worden wäre, hätten wir es mit einem jener Paare zu tun, die längst verlernt haben, miteinander zu kommunizieren. Verloc bringt ein paar lahme Entschuldigungen vor, als wäre er zu spät zum Abendessen gekommen und krönt sein unsensibles Verhalten mit dem Vorschlag, den toten Stevie durch die Zeugung eines eigenen Kindes zu ersetzen. Bald danach ist er tot, erstochen von der Ehefrau.
Mutwillige Zerstörung
Hitchcock inszeniert das wieder so, dass die Schuldfrage offen bleibt. Wie in Blackmail gibt es einen Polizisten, der als einziger weiß, was die Frau getan hat und diese heiraten will. Eine Strafverfolgung bleibt aus. Wer unbedingt will, kann den sehr unbestimmt bleibenden Schluss als mehr oder weniger konventionelles Happy Ending deuten und darin ein Versprechen sehen, dass die Witwe und der Polizist eine eigene Familie gründen werden - muss sich dann aber fragen lassen, ob darin nicht der eigentliche Horror besteht.
Am Anfang des Films füllt der Ausschnitt einer Lexikonseite die Leinwand, eine Definition von Sabotage als "mutwillige Zerstörung von Gebäuden oder Maschinen mit dem Ziel, eine Personengruppe zu beunruhigen oder die Öffentlichkeit zu verunsichern". Das beschreibt nicht nur Verlocs Tätigkeit, sondern auch die des Regisseurs. Hitchcock übernimmt gewohnte Strukturen und Wahrnehmungsmuster, stülpt sie von innen nach außen und macht sie kaputt. Oft merkt man das erst, wenn der Film längst vorbei ist. Hitchcock nannte es das "icebox element". Ein Paar geht vom Kino nach Hause, holt die Reste des Abendessens aus dem Kühlschrank, spricht über den Film und wird sich plötzlich bewusst, dass etwas nicht stimmt. Wenn man von da aus weiterdenkt, kommt man womöglich zum Ergebnis, dass man einen ganz anderen Film gesehen hat als zunächst vermutet. Bei Hitchcock sollte man damit immer rechnen. Deshalb lohnt sich auch ein Wiedersehen.
Mit Vögeln verbinden wir Vorstellungen von Freiheit, Weite und Ungebundenheit. In Young and Innocent (1937) zeigt uns Hitchcock einen Schwarm Möwen, die elegant und scheinbar ohne Anstrengung im Wind treiben. Aber die Tiere sind Teil einer genau durchdachten Bildmontage. Zu Beginn erleben wir in einem Haus am Meer einen Ehekrach mit, der mit der Ermordung der Frau endet. Am nächsten Tag wandert der Geliebte der Frau die Klippen entlang, schaut, aus der Vogelperspektive, nach unten und sieht dort die Leiche, die von der Flut an Land gespült wurde. Er klettert hinunter zum Strand. Über ihm fliegen die Möwen. Zwei Spaziergängerinnen erreichen den Strand, wenden sich erschreckt von der Toten ab, und wir sehen, ihrem Blick folgend, statt des erwarteten Gegenschnitts mit dem davonlaufenden Geliebten die Möwen, die das Ganze aus der Luft beobachten. Ihre Rufe wirken in diesem Zusammenhang - bei Hitchcock kommt es immer auf den Zusammenhang an - unheimlich und bedrohlich.
Die beiden Frauen richten den Blick nach oben. Im Gegenschnitt sehen wir diesmal den Geliebten, was eigentlich nicht möglich ist, weil er sich auf gleicher Höhe befindet. Das ist ein klarer Verstoß gegen die Schnittregeln ("wilful destruction of machinery"). Und ein schönes Beispiel dafür, wie Hitchcock seine Informationen gibt. Wo wir den Mann erwarten, präsentiert er uns die Vögel und umgekehrt. Mann und Vögel wechseln die Plätze und werden einander dadurch gleichgestellt. Natürlich erkennt man das nicht gleich beim ersten Sehen. Aber man spürt, dass etwas nicht richtig, dass die harmonische Abfolge der Einstellungen gestört ist. Und es gibt kein Verbot, einen Film ein zweites Mal anzuschauen. Bei Hitchcock wird mehrmaliges Sehen extra belohnt. Man entdeckt dann, dass man mehr gekauft hat als die DVD mit einem gut gemachten Thriller.
Ein Regisseur hat Angst
Hitchcock, so die ARD-Legenden, war ein äußerst ängstlicher Mensch. Der Beweis: In den USA schlief er hinter einem vergitterten Fenster. Vor den deutschen Bomben hatte er so große Angst, dass er die Schiffsreise nach Amerika aus eigener Tasche bezahlte (offenbar war er ein schlimmer Geizhals). Mag sein, dass er ein Angsthase war. Bestimmt sagen lässt sich dies: Hitchcock war einer aus einer ganzen Reihe von britischen Filmemachern, die kurz vor oder kurz nach dem Beginn des Zweiten Weltkriegs nach Hollywood übersiedelten. Es ist gut belegt, dass das mit Billigung und teils sogar auf Drängen der Regierung geschah. Churchill versprach sich davon, dass Briten in Hollywood Filme drehten, propagandistische Vorteile für sein Land. Er hielt das für wichtiger als ein heldenhaftes Ertragen deutscher Luftangriffe.
In England wurde später eine äußerst populistisch geführte Debatte über die "Vaterlandsverräter" vom Zaum gebrochen, die sich nach Amerika in Sicherheit gebracht hatten. Hitchcock wurde besonders heftig angegriffen. Man weiß von seinen Freunden, dass ihn das sehr betroffen machte. Soweit es sich rekonstruieren lässt, fing er damals an zu erzählen, wie schrecklich ängstlich er doch sei. Das scheint seine Art gewesen zu sein, mit den Vorwürfen umzugehen. Das Furchtsame wurde Teil von "Hitch", dem Snob mit dem Hang zu makabren Scherzen, den wir aus den Kurzauftritten in seinen Filmen, aus Interviews und als Präsentator seiner Fernsehserie kennen. Dieser Hitch war eine Kunstfigur und eine geniale Marketingidee. Sie trug dazu bei, aus Alfred Hitchcock einen sehr reichen Mann zu machen. Das sollten wir ihm gönnen. Für uns, die Zuschauer, ist wichtiger, dass sich Hitchcock mit Hitchs Hilfe einen Status erarbeitete, der ihm mehr künstlerische Freiheit verschaffte als anderen Hollywood-Regisseuren. Den Filmen sieht man an, dass er sie genützt hat. Hitch mit Hitchcock zu verwechseln, wäre aber wohl ein Fehler.
Man kann gute Gründe für Hitchcocks Ängstlichkeit benennen, ohne dafür in den dunklen Ecken seiner Psyche herumstochern zu müssen. Wie wäre es mit dem Aufstieg der Faschisten und dem Zweiten Weltkrieg? Hitchcock verfolgte schon deshalb aufmerksam mit, was in Deutschland geschah, weil seine künstlerischen Wurzeln im Kino der Weimarer Republik zu finden sind (er lernte viel von F.W. Murnau und Fritz Lang). Der Krieg spielt in seinen Filmen eine wichtige Rolle. Er war einer der ersten Regisseure, die danach fragten, welche Auswirkungen der Holocaust auf unser Menschenbild hat (1943 in Shadow of a Doubt).
Wie leicht die Massen durch das Appellieren an Ressentiments und Vorurteile zu begeistern sind, konnte er in den 1930ern vor der eigenen Haustür sehen. In Sir Oswald Mosley hatten die britischen Faschisten einen charismatischen Anführer, der viele Menschen aus den unteren Schichten in seinen Bann zog. Den meisten Zulauf hatte die Partei in dem Teil von London, in dem Hitchcock aufgewachsen war. Gegen die berüchtigten Aufmärsche der Blackshirts (Mosleys Anhänger trugen schwarze Hemden) wusste die Regierung kein anderes Mittel als die Einschränkung des Demonstrationsrechts. Auch das war nicht wirklich beruhigend.
Vögel beim Admiral
Zum "Mann von der Straße" hatte Hitchcock kein Vertrauen. Das sieht man an einer Szene in The 39 Steps, die so komisch wie erschreckend ist. Richard Hannay wird bei einer Wahlveranstaltung mit einem Politiker verwechselt, hält eine aus inhaltslosen Phrasen zusammengesetzte Rede und begeistert damit das Publikum. Hannay beschwört ein neues Miteinander. Aber seine Zuhörer würden sofort gegen irgendeine Minderheit durch die Straßen marschieren, wenn er dazu auffordern würde. Daraus bezogen die Blackshirts ihr Gemeinschaftsgefühl.
Nachdem Alice den Maler erstochen hat (Blackmail), sehen wir London aus der Vogelperspektive. Die junge Frau irrt wie in Trance durch die nächtliche Stadt, überquert am frühen Morgen den menschenleeren Trafalgar Square und geht dann nach Hause, zum Bild des Polizisten und zum trillernden Kanarienvogel. In Sabotage füttert Stevie, der Bruder von Mrs. Verloc, am Trafalgar Square die Tauben; später wird er von der Bombe in Stücke gerissen, weil er sich nicht von einer Parade losreißen kann (Aufmärsche gleich welcher Art tragen bei Hitchcock immer den Keim von Chaos und Zerstörung in sich). In Foreign Correspondent (1940), Hitchcocks zweitem Hollywood-Film, fahren wir in einem Auto am Trafalgar Square vorbei. Van Meer, die Leitfigur der europäischen Friedensbewegung, schöpft Trost aus der Tatsache, dass die Leute auf dem Platz noch immer die Tauben füttern. Er hält das für ein gutes Zeichen. Aber Van Meer ist ein alter, verwirrt wirkender Mann, der nicht mehr klar zwischen Freund und Feind unterscheiden kann.
Van Meer wird von den Nazis entführt und gefoltert. Ihnen gegenüber singt er noch einmal das Hohelied auf die "kleinen Leute":
Ihr werdet sie nie besiegen. ... Überall kleine Leute, die den Vögeln Krümel geben. Belügt sie, treibt sie, prügelt sie, zwingt sie in den Krieg. Wenn die Bestien wie ihr sich erst gegenseitig verschlingen, dann wird die Welt den kleinen Leuten gehören.
Das ist der schiere Populismus. Der Dialog könnte genauso gut von einem Nazi kommen, auch wenn er vom großen, in die USA emigrierten Albert Bassermann gesprochen wird. Van Meer lebt in einer Welt der Illusionen. Der Regisseur kommentiert den Realitätsverlust durch einen seiner berühmten Kurzauftritte, die vielleicht nicht in jedem Fall, aber doch sehr oft einen Hinweis darauf geben, wie wir den jeweiligen Film lesen sollen. Bei Van Meers erstem Auftreten kreuzt Hitchcock seinen Weg. Er ist in eine Zeitung vertieft, die 1940, im Produktionsjahr von Foreign Correspondent, bereits voller Nachrichten über den Zweiten Weltkrieg war, den Van Meer durch wirkungslose Konferenzen und ein Appellieren an das Gute im "kleinen Mann" verhindern will. Der Titelheld meint denn auch, er habe jetzt genug "bird talk" gehört.
Ein Vogel ist des anderen Vogels Wolf
Ein Vogelliebhaber der etwas anderen Art ist Norman Bates (Psycho, 1960). Er stopft die Tiere aus und seine Mutter ebenfalls. Das ist nicht Hitchcocks perverser Phantasie entsprungen. Das Vorbild für Norman war Ed Gein, ein Farmer aus Wisconsin, der die Leiche seiner Mutter konservierte und sich als Kannibale versuchte. Norman tötet Marion Crane (= Kranich), von der er sagt, sie esse wie ein Vogel. Man könnte also meinen, die Vögel seien diesmal weiblich und die Opfer. Aber ganz so einfach ist die Sache wieder nicht. Norman trägt beim Morden Frauenkleider, doch darunter steckt ein Mann (die Erklärung eines Psychiaters, dass die Mutter Besitz von ihrem Sohn ergriffen habe, ist für Hitchcock nur heiße Luft).
Die Morde werden auf der Tonspur durch geschundene Violinen untermalt, die wie Vogelgekreisch klingen. Mit seinem Messer hackt Norman auf Marion und später Arbogast ein wie mit einem Schnabel. Während des Dialogs über sein Hobby (die Taxidermie) nimmt ihn die Kamera in Untersicht auf, den Kiefer weit vorgestreckt, vogelartig. Zugleich sitzt er unter ausgestopften Vögeln, ist also visuell sowohl als einer von ihnen (durch Aussehen und Körperhaltung) als auch als deren Opfer (durch die Stellung unter ihnen) ausgewiesen. Merke: Kein Vogel ist vor dem anderen Vogel sicher.
Psycho beginnt damit, dass die Kamera eine Art Vogelflug unternimmt und auf einem Fenstersims landet. Das geschieht in Phoenix, Arizona (Phönix = der Vogel, der aus der Asche kam). Wo wird einer wie Hitchcock einen Film mit dem Titel The Birds (1963) anfangen lassen, in dem eine Familie namens "Brenner" eine tragende Rolle spielt? Genau: in San Francisco. Der Legende nach predigte der Heilige Franziskus zu den Vögeln. Den Muslimen schlug er vor, durchs Feuer zu gehen, um zu beweisen, dass sein Glaube der richtige sei. Weil er die Wundmale Jesu getragen haben soll, wird er oft mit roten Flecken auf den Handflächen dargestellt. Das alles findet sich - in abgewandelter Form - auch in The Birds. Der Heilige taucht bereits in Strangers on a Train (1951) auf. Dort wird er von der Mutter des verrückten Frauenmörders Bruno Anthony gemalt. Das ist ihr Hobby. Er sieht aus wie das Bildnis des Dorian Gray in der Endphase. Ein Heilsbringer ist der Patron der Tierschützer bei Hitchcock wohl eher nicht.
Wie oft hatte Alfred Hitchcock Sex?
In den ARD-Legenden kommt ein "Filmhistoriker" zu Wort, der uns endlich sagt, was wir schon immer über Hitchcock wissen wollten: Alfred hatte vor der Ehe mit Alma keinen Sex, und nach der Hochzeitsnacht bald auch nicht mehr. Offenbar wurde er sehr früh impotent. Gern hätte man gewusst, woher der Filmhistoriker seine Informationen bezieht. Er kann nicht einmal theoretisch unter Hitchcocks Bett gelegen haben, weil er dafür zu jung ist. Ich persönlich habe dank solcher Einlassungen wenigstens verstanden, warum die Rundfunkgebühren zwangsweise erhoben werden. Freiwillig würde ich für diesen Mist nicht einen Cent bezahlen.
Hat der Marquis de Sade all das gemacht, worüber er in seinen Büchern schreibt? Sicher nicht. Wenn die Helden von Edgar Allan Poe tote oder scheintote Frauen ausgraben und in geistiger Umnachtung Leute umbringen, heißt das nicht, dass ihr Erfinder ein nekrophiler Irrer war; er fuhr auch nicht zum Südpol wie Arthur Gordon Pym. Mit Gleichsetzungen der Psyche eines Autors mit der seiner Figuren domestiziert man die schöpferische Phantasie. Der künstlerische Prozess wird so zur Tagebucheintragung einer "gequälten Seele" herabgestuft. Den Legenden nach hatte Hitchcock einen Mutterkomplex wie Bruno Anthony und Norman Bates. Seine erotischen Verklemmungen überwand er nur im Filmatelier, wo er anzügliche Sachen zu den Darstellerinnen sagte. Die ideale Frau war für ihn aufopferungsvoll, dem Mann emotional überlegen und ihm doch in Liebe hörig.
Thomas Mann zufolge gibt es in Deutschland nur sieben Menschen, die Ironie verstehen. Zur ARD hat sich keiner von den Sieben verirrt. Als Beleg für seine nach filmischer Sublimierung schreiende Triebunterdrückung (das muss gewesen sein, bevor er impotent wurde) wird Hitchcock bierernst mit der Aussage zitiert, er sei bestimmt homosexuell geworden, wenn er Alma nicht getroffen hätte (hier mein Tipp für eine neue Folge: Murnau drehte den Südsee-Film Tabu nur deshalb, weil er schwul war und unbedingt schöne Männer mit nacktem Oberkörper zeigen wollte). Nach allem, was man weiß, verband Hitchcock und Ingrid Bergmann eine enge Freundschaft. Allerdings sagte Hitch einmal, Ingrid habe ihn zum Sex gezwungen. Damit ist bewiesen, dass er sie körperlich begehrte, dies jedoch nicht zugeben konnte. Sagt die ARD.
Hitchcock war unfähig, mit Frauen normal umzugehen. Deshalb ließ er sie in seinen Filmen dauernd ermorden. Bei The Birds befriedigte ihn das allein nicht mehr. Tippi Hedren wurde zum Freiwild für seine dunkelsten Triebe. In Legenden berichtet das Donald Spoto. Ihm gelang 1983 mit der Hitchcock-Biographie The Dark Side of Genius ein sensationeller Verkaufserfolg. Spoto ist der Held aller Trivialpsychologen und Society-Experten, die uns inzwischen im Fernsehen erklären, warum die Fernsehprominenz so verrückte Dinge tut, wenn die Kameras des Fernsehens dabei sind. Über Hitchcock fand er heraus, dass seine Mutter intime psychologische (und vielleicht auch sexuelle!) Forderungen an ihn stellte, von denen er sich zeitlebens nicht erholte. Das führte irgendwie zu einer schon pathologisch zu nennenden Obsession mit dem Sadomasochismus, deren Gefahren er sich nicht stellen wollte.
Spoto hat viel recherchiert, aber kaum Spektakuläres ausgegraben, das über das reine Hörensagen hinausgehen würde. Deshalb muss er aus den Filmen auf Biographie und Psyche seines Forschungsobjekts schließen. Mit Hilfe der aus den Filmen gewonnenen Erkenntnisse zu Hitchcocks Psychobiographie interpretiert er dann die Filme. Dieses geschlossene System wirkt sehr überzeugend, wenn man schon vorher wusste, dass Leute, die Filme über Mörder machen, mindestens eine schwere Neurose haben. 1983 schrieben Kritiker, dass Spotos Buch die Art und Weise verändern werde, wie wir Hitchcocks Filme sehen. Damit hatten sie leider Recht. Jetzt beurteilen wir das Werk wieder durch die biographische Person oder durch das, was wir dafür halten. Seit Ende des 19. Jahrhunderts galt das eigentlich als überwunden.
Filmregie als Triebstörung
Am glücklichsten war Hitchcock, wenn er mit Grace Kelly drehen konnte. In den Filmen mit ihr wurde das "Dunkle, Böse" in der Psyche des Regisseurs mehr und mehr zurückgedrängt. Man sieht das daran, dass sie in Dial M for Murder noch erwürgt werden soll, ihr Selbiges in Rear Window (beide 1954) aber nicht mehr widerfährt (das ist der Film, in dem James Stewart gespannt dabei zuschaut, wie Grace Kelly in das Apartment des Mannes einsteigt, der seine Frau getötet und zerstückelt hat). Doch dann heiratete Grace den Fürsten von Monaco. Über diesen schmerzlichen Verlust kam Hitchcock nicht hinweg. Seine sexuellen Frustrationen reagierte er an Tippi Hedren ab. Er konnte seine unterdrückten Wünsche nun nicht mehr geheim halten. Als Konsequenz davon entstanden The Birds und Marnie (1964). So stellt sich der Laie die Kunstproduktion vor. Filme werden von triebgesteuerten Lüstlingen gemacht, entstehen aus einem Impuls heraus. Und die Klecksereien, mit denen Picasso zum Millionär wurde, könnte jedes Kind viel besser.
Statt sich wegen seiner Sexualprobleme in psychiatrische Behandlung zu begeben, drehte Hitchcock also - den Legenden nach - diese Filme, in denen immer Frauen erwürgt oder erstochen werden oder vom Kirchturm fallen (Männer fallen in seinen Filmen übrigens viel öfter). Bei The Birds befriedigte es den Regie-Triebtäter nicht mehr, Filmheldinnen leiden zu lassen. Jetzt quälte er auch die Hauptdarstellerin Tippi Hedren. Es begann schon bei den Probeaufnahmen und wurde dann immer schlimmer. Das ist, leicht abgewandelt, die Logik der Zensoren: Wer Gewalt sieht oder zeigt, ist selbst ein latenter Krimineller. Deshalb müssen Filme verboten und Regisseure therapiert werden. Für die Gebühren, die ich regelmäßig bezahlen muss, damit die ARD solche Sendungen ausstrahlen kann, hätte ich mir etwas mehr intellektuellen Ehrgeiz erwartet.
Bei Hitchcock war es so: Er las Zeitungen und viele Bücher. Wenn er einen geeigneten Stoff gefunden und die Rechte gekauft hatte, suchte er sich einen Autor, mit dem zusammen er das Drehbuch entwickelte. Sobald er eine ungefähre Konzeption hatte, verteilte er die ersten Aufträge an seine Mitarbeiter. In Shadow of a Doubt sagt der Witwenmörder, dass die Details entscheidend sind. In der für Hitchcock typischen Selbstironie wird er so zum Sprachrohr des Regisseurs. Wenn alle Details stimmen sollen, erfordert das viel Zeit und eine minutiöse Vorbereitung. Bei Drehbeginn zu The Birds war etwa der Produktionsdesigner Robert Boyle schon mehr als ein Jahr an der Arbeit.
Wenn das Drehbuch fertig war, wurde das Storyboard gezeichnet: eine Art Comic, in dem jede Einstellung skizziert war. Jede Kleinigkeit war genau durchdacht. Hollywood-Veteranen, die Hitchcock beim Drehen erlebt haben, erzählen heute noch voller Bewunderung von seiner Übersicht und davon, wie er nie die Gesamtkonzeption aus den Augen verlor. Trotz aller Vorbereitungen erforderte das eine enorme Konzentration. Das war noch nicht alles, was er zu bewältigen hatte. Weil Hitchcock seine eigenen Projekte entwickelte, statt sie von einem Produzenten zugeteilt zu bekommen, tüftelte er während der Dreharbeiten schon am nächsten Film. Hitchcock war 63 Jahre alt und nicht mehr ganz gesund. The Birds war - technisch gesehen - der schwierigste Film seiner Karriere. Er enthält fast 400 virtuos gemachte Trickaufnahmen. Es gibt Bilder, die aus drei, vier oder noch mehr Teilen zusammengesetzt sind. Das ging nur mit höchster Präzision. Und doch war The Birds, den Legenden nach, der Film, bei dem er sich so sehr gehen ließ wie bei keinem anderen. Ich kann mir das schwer vorstellen.
Sadomasochismus im Filmatelier
Die behaupteten Quälereien und Demütigungen gibt es in den Probeaufnahmen mit Tippi Hedren, die ich kenne, nicht. Ihr Partner war Martin Balsam (Arbogast in Psycho). Die beiden spielen je eine Szene aus Rebecca, Notorious und To Catch a Thief, Filmen mit ganz unterschiedlichen Frauenrollen. Hitchcock sitzt neben der Kamera und gibt Anweisungen. Zu sehen und zu hören sind zwei nette Herren, Hitchcock und Balsam, die sich alle Mühe geben, einer völlig unerfahrenen Darstellerin die Nervosität zu nehmen. Ganz gegen seine sonstige Gewohnheit sprach Hitchcock mit Tippi Hedren auch sehr genau das Drehbuch durch. Er hielt es wohl für nötig, sie an ihre Rolle heranzuführen. Diese Besprechungen wurden aufgezeichnet. Die Transkripte kann man in Hitchcock's Notebooks von Dan Auiler nachlesen. Sadomasochistische Gemeinheiten wird man da nicht finden.
Eine fundierte Schauspielausbildung schützt die Darsteller, weil sie lernen, auf Distanz zur Rolle zu bleiben. Wer wie Tippi Hedren eine solche Ausbildung nicht hat, ist schnell ausgebrannt. Sie drehte nicht nur mit Hitchcock. Aber nur in The Birds und Marnie ist sie richtig gut, in Marnie sogar ganz großartig. Eine begabte Schauspielerin war sie vermutlich nicht. Einem Profi wie Hitchcock muss das spätestens nach den Probeaufnahmen klargewesen sein. Er trieb sie zu zwei hervorragenden Leistungen, indem er tat, was nötig war, damit Person und Rolle eins wurden. Tippi Hedren spielt zwei Frauen am Rande des Nervenzusammenbruchs deshalb so überzeugend, weil sie selbst kurz vor dem Nervenzusammenbruch stand. Dank The Birds und Marnie hat sie ihren Platz in der Filmgeschichte sicher; ohne ihn wäre sie längst vergessen. Aber nicht in jedem Fall heiligt der Zweck die Mittel. Das nicht ausreichend berücksichtigt zu haben, kann man Hitchcock durchaus vorwerfen.
Melanie Daniels kommt fast in jeder Szene vor. Tippi Hedren ließ das kaum eine Verschnaufpause. Der Film hätte auch Schauspielerinnen mit viel Berufserfahrung alles abverlangt. Hedren muss deshalb schon ziemlich am Ende mit ihren Kräften gewesen sein, als der Angriff der Vögel auf Melanie gedreht wurde. Es dauerte fünf Tage, in denen Vögel in ihre Richtung geworfen und von Männern mit Schutzhandschuhen vor ihr Gesicht gehalten wurden. Tippi Hedren war nicht geschützt. Am fünften Tag wurde sie von einem Vogel so verletzt, dass sie dabei leicht ein Auge hätte verlieren können.
Aus den Produktionsunterlagen ergibt sich, dass bis zuletzt mit künstlichen Vögeln experimentiert wurde. Keine der Probeaufnahmen sah überzeugend aus. Schließlich entschied man sich für echte Vögel. Hitchcock trug dafür die Verantwortung, und Tippi Hedren musste es ausbaden. Das war schlimm genug, aber scheinbar zu wenig dramatisch für die ARD. Um die These vom sadistischen, die Frauen hassenden Sexualneurotiker zu stützen, braucht es mehr. Also erfahren wir, dass Hitchcock von Anfang an vorhatte, die Hauptdarstellerin dem Vogel-Martyrium zu unterziehen und Hedren nur engagierte, weil sich eine etablierte Schauspielerin zur Wehr gesetzt hätte. Die Belege dafür bleibt man uns schuldig.
Nach den fünf Tagen war Hedren total erschöpft. Der Arzt verordnete Bettruhe. Für Hitchcock war das ein Problem, weil er ohne die Schauspielerin nicht weiter drehen konnte. Die Legenden suggerieren, dass Hitchcock keine Rücksicht auf Tippi Hedrens Gesundheit nahm und sie weiterarbeiten musste. An den Filmbildern lässt sich ablesen, wie es wirklich war. Man braucht nicht lange zu recherchieren, um herauszufinden, dass die letzten Minuten des Films in chronologischer Reihenfolge gedreht wurden. Nach dem Angriff der Vögel wird Melanie von Mitch nach unten getragen. Wir sehen dabei nie ihr Gesicht, weil es sich um ein Double handelt. Tippi Hedren war da schon zur Erholung und Beobachtung in ein Krankenhaus gebracht worden. Hitchcock inszenierte, was ohne sie möglich war. Dann unterbrach er eine Woche lang die Dreharbeiten. Anschließend machte er die Aufnahmen, die noch fehlten.
Bürgerkrieg
Hitchcock-Filme kann man falsch oder richtig interpretieren, aber die Gefahr der Überinterpretation ist gering. An der Oberfläche funktionieren sie als spannende Thriller. Beim genaueren Hinsehen entdeckt man immer mehr Details. Mit großer Wahrscheinlichkeit wird man dann feststellen, dass alles eine Bedeutung hat. Das gilt zum Beispiel für die historischen Schauplätze. Sie haben eine Aura. Bei Hitchcock sind sie mehr als ein dekorativer Hintergrund für eine Verfolgungsjagd (das Britische Museum in Blackmail) oder einen orgiastischen Cliffhanger (Mount Rushmore in North By Northwest, 1959). Er nützt sie, um der Psychogeographie einer Gesellschaft nachzuspüren. Am besten lässt sich das an Vertigo (1958) studieren.
Über die ersten Minuten von The Birds könnte man ein ganzes Buch schreiben. Dieser angeblich Hitchcocks unkontrollierbaren Sadomaso-Impulsen entsprungene Film beginnt nicht irgendwo in San Francisco, sondern am Union Square. Der Platz heißt so, weil dort während des Bürgerkriegs eine Versammlung stattfand, deren Teilnehmer sich für die Union aussprachen. Das muss man nicht wissen. Aber wenn man es weiß, entdeckt man eine neue Erzählebene. In The Birds verläuft die Demarkationslinie zwischen den Männern und den Frauen.
Am Union Square steht ein Hotel, das es zu trauriger Berühmtheit gebracht hat. Im St. Francis (schon wieder dieser Heilige) soll Fatty Arbuckle, einer der größten Stars der Stummfilmzeit, eine junge Frau vergewaltigt haben - mit Todesfolge und anschließendem Sensationsprozess. In der Mitte des Platzes ragt ein phallisches Monument empor, das an die Nelson-Säule am Londoner Trafalgar Square erinnert (Blackmail, Sabotage, Foreign Correspondent). Das ist das Dewey Monument. Ganz oben thront kein Admiral, sondern die griechische Siegesgöttin. Sie wird üblicherweise mit zwei Flügeln dargestellt, hier aber nicht. In den Händen hält sie einen Siegerkranz und - wie Neptun - einen Dreizack. 1898, im Spanisch-Amerikanischen Krieg, besiegte Admiral George Dewey die spanische Flotte. Mit diesem Krieg verloren die USA ihre Unschuld und wurden zur Kolonialmacht. Der Kolonialismus ist eines der Themen in Vertigo, der ebenfalls in San Francisco und Umgebung spielt. Die spanische Kultur erhält dort weibliche Attribute, die angloamerikanische wird durch einen Ex-Polizisten und durch einen Mann repräsentiert, der Gavin Elster (!) heißt.
Melanie Daniels überquert am Union Square die Straße. Die Fußgänger haben Grün, die Autos rot; beides sieht man in einer Einstellung. Grün und Rot bestimmen die Farbdramaturgie des Films. Deshalb werden die bisher von Hitchcock bevorzugten Kanarienvögel (gelb) durch zwei Sittiche (lovebirds) mit grünem Gefieder und rotem Kopf abgelöst. Melanie trägt die meiste Zeit ein grünes Kostüm, und Hitchcock zeigt uns regelmäßig ihre rot lackierten Fingernägel. Aber ein Vogel ist sie deshalb nicht. Am Anfang pfeift ihr jemand hinterher. Sie dreht sich um und sieht, dass es ein Junge ist. Dann hört sie ein Kreischen. Sie blickt nach oben, sieht einen Vogelschwarm. Das ist eine der Hitchcock-typischen Kombinationen von Bild und Ton (siehe oben, Young and Innocent): Pfeifen - junger Mann - Kreischen - Vögel. Oder auch, in einem Bild mit zwei gegensätzlichen Paarungen: Frau - Flugzeug - Frau - Vögel. Auf halber Höhe zwischen Melanie und der Siegesgöttin ist ein Reklameschild der British Overseas Airways Corporation (B.O.A.C.) angebracht, und über der flügellosen Göttin sammeln sich die Vögel, die später wie die Luftwaffe über Bodega Bay kreisen werden.
Vögel, Katzen, Hunde und ein Frosch
Daphne Du Mauriers Kurzgeschichte "The Birds" lässt sich als eine Parabel aus dem Kalten Krieg deuten: mysteriöse Vogelattacken als Warnung vor einem möglichen Angriff der Russen. In Hitchcocks Filmen ist der Kalte Krieg ein Vehikel für das, was ihn wirklich interessierte. Der Ost-West-Konflikt war das eher nicht, obwohl Spätwerke wie Torn Curtain (1966) und Topaz (1969) etwas anderes zu belegen scheinen. Topaz handelt vordergründig von der Kubakrise. Hitchcock durchzieht den Film mit Bildern phallischer Aggression, die so überdeutlich sind, dass man sie fast übersieht.
Die kubanische Armee in Topaz ist in erster Linie ein Männerbund. Die Vögel werden zu ihren Hilfstruppen, wie sie sich in den britischen Filmen auf die Seite der (männlichen) Polizei schlagen. Ein Schwarm Möwen macht die Soldaten auf zwei Untergrundkämpfer aufmerksam, die versuchen, russische Raketenstellungen zu photographieren. Das Paar wird entdeckt, gefoltert und zu einer Aussage gezwungen, die zum Tod von Juanita de Cordoba führt. Juanita ist die Chefin der Untergrundbewegung (weiblich). Hitchcock inszeniert ihre Ermordung durch einen Vertreter der männlichen Ordnungsmacht als eine Vergewaltigung. Solche Vergewaltigungen (direkt oder indirekt) gibt es in seinen Filmen oft. Man kann darin Hitchcocks sich Bahn brechende Hassliebe zu den Frauen erkennen, blendet dann aber eine ganze Bedeutungsebene aus, die viel mit einer männlich-erstarrten Gesellschaft und wenig mit den unwiderstehlichen Impulsen eines erektionsgestörten Regisseurs zu tun hat.
Am Anfang und am Ende von The Birds präsentiert Hitchcock je ein Zauberkunststück. Am Schluss öffnet Mitch eine Tür im Brenner-Haus, die es gar nicht gibt (ein reiner Lichteffekt). Die ersten Einstellungen wurden am Originalschauplatz inszeniert. Melanie geht über den Union Square und verschwindet hinter einem Plakat mit der Golden Gate Bridge. Als sie wieder auftaucht, befinden wir uns vor der im Studio gebauten Tierhandlung Davidson (für der Bibel Unkundige: erster Anwärter unter Davids vielen Söhnen ist Amnon, der seine Schwester vergewaltigt und dadurch einen blutigen Bürgerkrieg auslöst). Melanie "blickt zurück" (aus dem Atelier direkt zum Union Square), wir sehen noch einmal die B.O.A.C.-Reklame, dann kommt unser Pilot aus der Tierhandlung: Hitch mit Stanley und Geoffrey, seinen beiden Highland-Terriern.
Ungefähr zeitgleich mit der Werbekampagne für The Birds fing Hitchcock an, sich darüber zu beklagen, dass seine Kurzauftritte zur lästigen Pflicht geworden seien. Er absolviere sie, weil das Publikum es verlange, und zwar möglichst bald, um nicht vom Film abzulenken. Das heißt noch nicht, dass sie beliebig waren. Beim zweiten oder dritten Sehen entdeckt man, wovon Hitch und seine Hunde ablenken. Im rechten Schaufenster sitzt eine Katze. Sie sitzt da, weil Hitchcock sie da haben wollte, und sie schaut Melanie beim Betreten der Tierhandlung hinterher. Die Einstellung wurde wahrscheinlich so lange wiederholt, bis alles stimmte. Das erklärt auch Hitchcocks oft zitierten Ausspruch, dass Schauspieler wie Kühe seien. Manchmal ist ein Schauspieler nur ein Detail von mehreren, und in dem Fall ist er genauso wichtig wie eine Kuh. Hitchcock war da einer Meinung mit Fritz Lang. Im klassischen Hollywoodsystem, das den Stars alles andere unterordnete, galt so etwas als Marotte diktatorischer Regisseure aus Europa. Henry Fonda schimpfte noch viele Jahre nach You Only Live Once (1936) auf Fritz Lang, weil er warten musste, bis ein Frosch so in einen Teich sprang, wie Lang es haben wollte.
Vögel und Vergewaltiger
Mit Davidson's Pet Shop zitiert Hitchcock sich selbst (die Tierhandlung in Sabotage) und einen Kollegen, auf den er mehrfach Bezug nimmt. In Cat People (1942) von Jacques Tourneur geraten die Vögel in helle Aufregung, als Irina, die mit einem Panther gleichgesetzte Katzenfrau, den Tierladen betritt. Die Katzenfrau in The Birds ist Melanie Daniels. Darum sitzt das Kätzchen im Schaufenster. Wir sehen zwei Hunde, zwei Katzen (eine davon ist Melanie) und dazwischen den Regisseur. In Cat People schenkt der Held der sinnlichen, aus Europa stammenden Irina einen Kanarienvogel, der aus Angst vor der Katzenfrau tot von der Stange fällt. In The Birds fliegt der Kanarienvogel einfach davon, und wir sehen zwei hilflose Frauen. Für Melanie lässt das nichts Gutes ahnen. Nur Mitch Brenner fängt den Vogel mühelos ein, sozusagen unter Artgenossen.
Es gibt Filme, die ausreichend beschrieben sind, wenn man eine Inhaltsangabe gibt. Das ist abgefilmtes Theater, das in Hollywood traditionell mit Preisen bedacht wird. Langweilig ist es auch. Deshalb hat man die meisten Oscar-Gewinner bald vergessen. Hitchcock bekam einen Ehrenoscar für sein Lebenswerk, aber nie einen richtigen. Seine Filme haben gut durchdachte, professionell konstruierte Drehbücher, doch primär bestehen sie aus Bildern und - ab Blackmail - auch aus Tönen. Als einen der letzten Schritte vor Beginn der Dreharbeiten strich er alle Dialoge, die nicht unbedingt erforderlich waren. Wenn das Drehbuch fertig war, fertigte Hitchcock nicht nur ein Storyboard mit Skizzen jeder Einstellung an, er listete auch genau alle Töne auf, die außer den Dialogen und der Musik zu hören sein würden.
Wer nicht glaubt, dass Mitch ein Vogel ist, sehe und höre sich die Szene im letzten Akt an, in der die Vögel anfangen, sich mit ihren Schnäbeln durch eine Tür zu picken. Das ist eine in Horrorfilmen sehr beliebte Penetrationsszene. Draußen steht das Monster und bahnt sich mit einem phallischen Instrument (das Messer in Halloween und die Axt in The Shining) einen Weg durch die Tür, hinter der sich die Frau in Not befindet. In The Birds steht zwischen Monster und Jungfrau noch Mitch Brenner. Üblicherweise wird in solchen Szenen ein Schrank vor die Tür geschoben. Hitchcock hat beim Requisiteur einen mannshohen Spiegel in Auftrag gegeben. Mitch nagelt ihn an den Türrahmen. Sein Hämmern wird zum Echo der draußen an die Tür schlagenden Schnäbel. Er wehrt die Vögel ab und sieht dabei sich selbst im Spiegel.
Wenig später geht Melanie hoch in das Zimmer unter dem Dach, in dem Mitchs Bett steht. Auf dem Bett sitzen die Vögel. Die Tiere stürzen sich auf sie wie die Vergewaltiger. Als das vorbei ist, sagt die vormals eloquente und selbstbewusste junge Frau nur noch zwei Worte: "Nein. Nein." Und sie wehrt Mitch ab, den sie mit den Vögeln "verwechselt". Dann wird sie - nach einem Wochenende in der amerikanischen Provinz, wo die Frauen noch baumwollene Nachthemden tragen - zurück nach San Francisco gebracht.
Rufschädigende Botschaft
Ursprünglich sollte es eine Fahrt durch das von den Vögeln zerstörte Bodega Bay geben. Überall sollten tote Menschen herumliegen. Der Film sollte mit einer Einstellung von der Golden Gate Bridge enden, auf der Abertausende von Vögeln sitzen sollten. Das hätte aus The Birds einen Weltuntergangsfilm gemacht. Die Vogelangriffe hätten sich nicht mehr nur auf Melanie konzentriert. Dann tat Hitchcock etwas, was er zuvor noch nie getan hatte: Er änderte während der Dreharbeiten den Schluss. Jetzt endet der Film damit, dass das Auto mit Melanie und der Familie Brenner von deren Haus wegfährt. Überall sitzen Vögel, die womöglich gleich wieder zum Angriff übergehen werden. Das wirkt bedrohlich. Aber wie immer bei Hitchcock erkennt man den wahren Schrecken erst, wenn man sich die nominellen Monster wegdenkt und sieht, was übrig bleibt.
The Birds ist das Mittelstück einer Trilogie, in der gezeigt wird, was in einer männlich dominierten Gesellschaft mit Frauen passiert, die nicht in das Klischeebild von der Hausfrau und der Mutter passen. In Psycho wird Marion Crane (MC) von Norman Bates zu Vogelklängen getötet. Marnie Edgar (ME) wird von einem Mann zur Ehe gezwungen, der sie zähmen will wie eine Raubkatze und sie dabei zerbricht. Tippi Hedren spielt in Marnie die Titelrolle, Sean Connery ist der Raubtierbändiger. Melanie Daniels (MD) fährt in einem Pelzmantel und mit dem laut röhrenden Motor ihres Aston Martin nach Bodega Bay. Das ist das Auto von James Bond. Am Schluss sitzt Mitch Brenner am Steuer, der Repräsentant des amerikanischen Durchschnittsmannes (Hitchcock wollte unter keinen Umständen einen charismatischen Star für die Rolle), der Motor schnurrt wie ein braves Hauskätzchen, und die zuvor ungebändigte Katzenfrau hat die Sprache verloren. Das ist das Resultat, wenn die Vögel aus dem Käfig gelassen werden.
Ist ein Regisseur wie Hitchcock also ein misogyner Triebgestörter, der das Regieführen als Ersatzhandlung betreibt, wenn er Filme inszeniert, in denen Frauen vergewaltigt, ermordet oder zur Ehe gezwungen werden? Oder schlagen wir, indem wir ihn zum sadistischen Sexualneurotiker erklären, den Boten, der uns die schlechte Nachricht überbringt?