Kirche und Kapital - zur Unzeit versöhnt?
Das kapitalismuskritische Profil der katholischen Kirche hat im letzten Jahrzehnt merklich gelitten. Im deutschen Protestantismus nimmt der Streit um die "neoliberale" Anpassung neue Formen an
Vor 2000 Jahren hatte der mittellose Wanderprediger Jesus aus Nazareth seinen Zuhörern verraten: „Eher kommt ein Kamel (bzw. Tauseil) durch ein Nadelöhr als ein Reicher ins Himmelreich.“ Die frühen Kirchenväter haben sich dann den Kopf darüber zerbrochen, wie man den Reichen doch noch einen Ausweg aus dieser heillosen Lage weisen könnte. Die Lösung bestand stets darin, die Güter einer ungerechten bzw. sozial unverträglichen Reichtumsanhäufung den Armen zukommen zu lassen. Aber auch das liegt nun schon wieder mehr als 1500 Jahre zurück.
Heutzutage ermahnen einige Kirchenleute, die sich selbst einer guten wirtschaftlichen Absicherung erfreuen, mit Vorliebe die Armen. Je dreister die Theologen des „freien Marktes“ für ihre auf Glaubensätzen basierenden Wirtschaftsdogmen Unfehlbarkeit reklamierten, desto profilloser wurde – zumal in deutschen Landen – die kirchliche Sozialethik. Doch nicht genug damit. Einige Würdenträger und so genannte Sozialethiker nahmen selbst teil an der „neoliberalen“ Verkündigung. Man darf gespannt sein, wie die Kirchen sich aus dieser aktuell doch recht unzeitgemäßen Anpassungsleistung wieder herauswinden.
Ein skurriles Beispiel: Der „neoliberale Abt“
Hinterher will es natürlich keiner gewesen sein. Besonders kompromittierend dürfte der einsetzende Zusammenbruch der „neoliberalen“ Religion für den weltweiten Chef des Benediktinerordens werden. Abtprimas Notker Wolf, der aus dem Unterallgäu stammt, hat sich wiederholt der Unternehmerdenkfabrik „Neue Soziale Marktwirtschaft“ zur Verfügung gestellt, die von Sozialkatholiken wie Norbert Blüm scharf kritisiert wird. Welche Honorare für seine wirtschaftsfreundlichen Statements und Vorträge fließen, ist öffentlich natürlich nicht bekannt. Eine von Hartz-IV-Empfängern als Hohn empfundene Werbeanzeige zeigt ihn im Habit des abendländischen Mönchsvaters vor einer Arbeitsagentur. Seine Botschaft an die „Kunden“ dieser Einrichtung lautet:
Soziale Gerechtigkeit bemisst sich aber nicht in Euro und Cent. Wir müssen jeden Einzelnen fragen: Bist du wirklich bereit, eine Arbeit anzunehmen, auch wenn sie schlecht bezahlt ist? Willst du dir deinen Lebensunterhalt selbst verdienen oder nicht? … Die Gemeinschaft muss einspringen, wenn der Einzelne sich nicht aus eigener Kraft erhalten kann. Wir fragen aber zu wenig danach, wo wir ohne den Staat auskommen können. Die Bürger verhalten sich zu oft wie Kinder, die keine Verantwortung übernehmen wollen. … Auch die Politik muss erkennen: Nichts zu tun, ist wider die Natur des Menschen. Das Kapitel der Benediktusregel über die Arbeit beginnt mit den Worten: „Müßiggang ist der Seele Feind.“
„Müßiggang“ lautet also das Erzübel. Das Arbeitsethos des Mönchsvaters Benedikt muss überdies dafür herhalten, Billiglöhne zu rechtfertigen, welche die Unternehmensprofite steigern und ergänzende Sozialleistungen durch die Gemeinschaft notwendig machen. Gerechtigkeit misst sich ja eben „nicht in Euro und Cent“. Dabeisein ist alles, egal wie der Arbeitsplatz beschaffen ist.
Welchen sozialen Standort er einnimmt, hat Notker Wolf noch deutlicher in einem Stern-Interview geklärt. Er warnt vor einer „fatale(n) sozialistische(n) Grundströmung im deutschen Denken“ und bewertet es als „enorme Chance“, wenn ein gekündigter Maschinenschlosser in einer Putzkolonne jobbt. Um Arbeitslose aus dem „Käfig der Bequemlichkeit“ und von allzu häufigen Kneipenbesuchen zu befreien, votiert er für eine Senkung des Hartz-IV-Regelsatzes.
Das Rezept des „neoliberaler Abtes“ bei Ermahnungen nach unten und oben lautet gleichermaßen: Der Einzelne soll sich gefälligst zusammenreißen und anständig bleiben. Als 2007 bei uns eine Skandalwelle zur Steuerkriminalität prominenter Spitzenmanager anrollte, hatte der geistliche Kooperationspartner der „Neuen Sozialen Marktwirtschaft“ wieder einen Ratschlag aus der „Regula Benedicti“ parat. Den Spitzenverdienern empfahl er die „discretio“, das weise Maßhalten. Kluge Diskretion und nicht allzu gierig sein, das sind offenbar die Ratschläge, die nach Verabschiedung der strukturellen Erkenntnisse der katholischen Soziallehre übrig bleiben. Für spirituelle Anleihen aus modischen Ratgebern zum „Positiven Denken“ ist dann viel Platz geschaffen. Das besagte Stern-Interview gibt mit flotten Sprüchen über „Glückshormone“ und Liebesbekundungen in einer Arbeitslosenfamilie davon Zeugnis. Nicht nur als passionierter Rockgitarrist beweist dieser Mönch, wie kreativ er ist.
„Ein Laster, das mit Stumpf und Stiel ausgerottet werden muss“
Als – dankbarer – ehemaliger Schüler eines Gymnasiums, das die Missionskongregation von Abbas Notker Wolf im Sauerland unterhält, habe ich schon immer Interesse für die benediktinische Mönchsregel gehegt. In meinem Hausexemplar der Regula Benedicti stehen vor allem auch solche Passagen, die sich für einen Vortrag bei der „Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft“ nicht besonders gut eignen. Kapitel 58 regelt, was beim Klostereintritt eines neuen Mönches zu geschehen hat: „Wenn er Eigentum hat, verteile er es vorher an die Armen oder vermache es in aller Form durch eine Schenkung dem Kloster. Er darf sich gar nichts vorbehalten.“ In Kapitel 33 steht zuvor über den Privatbesitz der Mönche:
Vor allem dieses Laster [des Eigenbesitzes] muss mit der Wurzel aus dem Kloster ausgerottet werden ... Keiner habe etwas als Eigentum, überhaupt nichts, kein Buch, keine Schreibtafel, keinen Griffel gar nichts. … „Alles sei allen gemeinsam“, wie es in der Schrift heißt, damit keiner etwas als sein Eigentum bezeichnen oder beanspruchen kann.
Eine solch rigorose Verdammung auch von persönlichem Gebrauchseigentum ist weder in den biblischen Sammelberichten über die sozialistische Urgemeinde von Jerusalem (Apostelgeschichte Kapitel 2,42-47; 4,32-37; 5,1ff) noch im Kommunistischen Manifest zu finden. In Jerusalem ging es vor allem um Immobilien. Karl Marx interessiert sich nicht für Privatbibliothek oder Sofaecke des Einzelnen; ihm ging es um den Privatbesitz an Produktionsmitteln und um Finanzkapital – also um wirtschaftliche Machtausübung und ungerechtfertigte Besitzvermehrung. Dass kleine Leute gar keine eigenen Waschmaschinen, Kühlschränke, Bücher oder gar Medientechnologien brauchen und sich einfach mit Pullovern aus der Caritas-Kleiderkammer warm anziehen sollen, lehren neuerdings auch erst die Autoren von Expertisen für eine Senkung des Arbeitslosengeldes II.
Als Abt des Klosters Sankt Ottilien hat Notker Wolf wohl kaum persönliche Kleinode seiner Mönche unter strengen Strafandrohungen verboten. Indessen fragt man sich, warum er die Mönchsregel Benedikts nicht zeitgemäß im Dienste einer gesellschaftlich bedeutsamen Kapitalismuskritik auslegt? Gilt die Kritik des „Eigenbesitzes“ nur dem Ideal einer engelgleichen Bedürfnislosigkeit von wenigen besonders Auserwählten? Geht es dem Mönchsvater Benedikt nur um ein individualistisches Heiligkeitsideal, das ohnehin nur eine kleine Elite praktizieren kann? Soll dann wiederum diese geistliche Elite der Wirtschaftselite draußen – am besten gegen kleine Gefälligkeiten an eine Abtei – individualethische Ratschläge erteilen oder gar Rezepte anvertrauen zum Gefügigmachen der hörigen Arbeiterschaft?
Wohin eine solche Seelsorge für Kapitalisten und „heilige Manager“ führt, kann man derzeit auch am Zusammenbruch eines tragenden Sektors des wirtschaftsliberalen Systems ablesen. Möglicherweise ist auch manches Benediktinerkloster vom großen Crash betroffen, wenn der Cellerar sich etwa mit Geldanlagen verspekuliert hat. Ganz sicher aber ist, dass schon jetzt die Ärmsten auf dem Globus die Zeche zu bezahlen haben: mit Hunger und Tod. Da sollte man doch erwarten, dass gemeinschaftliches Wirtschaften – zumal in einem Missionsbenediktinerorden – auch Modellhaftes für die ökonomischen Strukturen in der Welt beizusteuern vermag.
Das neue Profil der katholischen Weltkirche: Goldbrokat und Seidenspitzen
Das letzte Wort in der katholischen Kirche wird freilich ein anderer Verehrer des hl. Benedikts haben, der Papst. Bislang hat dieser vor allem durch seine Vorliebe für exotische – und eigentlich längst abgeschaffte – Bekleidungsutensilien und für schöne Priestergewänder die mediale Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Ob seine roten Schuhe wirklich von Prada sind? Sind sie nicht. Aber einige seiner Papamobile sind ganz sicher Geschenke eines Rüstungsherstellers, worüber sich die Gazetten weniger Gedanken machen.
Die moralische Autorität, die sein Vorgänger Johannes Paul II. in den Augen der Weltöffentlichkeit besaß, hat Joseph Ratzinger bislang als Papst noch nicht erlangen können. Bei seiner USA-Reise im April dieses Jahres sprach er nur ganz allgemein gehaltene Empfehlungen zur Beachtung des Internationalen Rechtes aus und ließ Interpretationen nach allen Seiten hin offen. Man hätte erwarten dürfen, dass er mit Worten etwa des salvadorianischen Märtyrerbischofs San Oscar Romero die Folter als Handwerk von Mördern charakterisiert. Fehlanzeige. Man hätte erwarten können, da Rom eine gerechte Verteilung der Energieressourcen durch die Weltgemeinschaft fordert, dass er eine Exkommunikation über alle Rohstoffkrieger verhängt. Fehlanzeige. (Die röm.-kath. Kirche schließt andererseits schon wiederverheiratete Geschiedene von den Sakramenten aus.) Man hätte erwarten können, dass er angesichts des Endlosthemas „Kindermissbrauch“ zumindest erprobte verheiratete Theologen endlich zum kath. Priesteramt zulässt.
Fehlanzeige. Die Pfarrer der zahllosen nicht eingebürgerten Latinos bzw. Hispanos in den USA hatten erwartet, er werde eine klare Aussage zugunsten ihrer zumeist armen Gemeindemitglieder machen. Fehlanzeige. Der Papst ist zwar Gegner der Todesstrafe, doch auch eine Todeszelle hat er als Seelsorger in den USA nicht besucht.
Stattdessen aber wurde zwei Monate nach dieser Reise US-Präsident George Bush jun. vom Papst zu einem privilegierten Empfang in den Vatikanischen Gärten eingeladen, wie er noch nie einem Staatsoberhaupt zuvor gewährt worden war. Betont hatte man ja schon im Vorjahr das gute Verhältnis mit Washington. In der Gerüchteküche fragten sich aufgeregte Geister nun sogar: „Wird Bush ein Katholik?“ Der US-Präsident hatte im Vorfeld der Papstreise vom April nämlich kundgetan: „Wenn ich in die Augen des Papstes sehe, dann sehe ich Gott.“ War sein nachfolgender Intimbesuch beim Papst möglicherweise ein geschickter Schachzug der Vatikan-Spitze, um ihm bei dieser Gelegenheit einen Krieg gegen den Iran auszureden? Eine andere Rechtfertigung für die Vorzugsbehandlung von George Walker Bush, die auch in der Kurie großes Erstaunen ausgelöst hat, lässt sich jedenfalls schwer ausdenken.
Was ist von einer neuen Sozialenzyklika des Papstes zu erwarten?
Schon im Februar dieses Jahres wurden Ankündigungen einer neuen Sozialenzyklika des Papstes lanciert, was neuerdings von Kirchenmedien wieder aufgegriffen wird. Die Frage stellt sich, ob Anhänger der katholischen Soziallehre überhaupt wünschen können, dass Papst Benedikt eine solche Sozialenzyklika veröffentlicht. Seine bisherigen Ansprachen zum Themenfeld fallen nicht besonders vielversprechend aus. Zur Finanzkrise verkündigte er unlängst, nur das Wort Gottes sei zuverlässig:
Wir sehen jetzt durch den Zusammenbruch der großen Banken, dass Geld einfach verschwindet, dass es nichts bedeutet und dass alle Dinge, die uns so wichtig erscheinen, in Wirklichkeit zweitrangig sind … Wer das Haus seines eigenen Lebens nur auf sichtbare und materielle Dinge – wie Erfolg, Karriere und Geld – aufbaut, der baut auf Sand.
Papst Benedikt XVI
Man spürt, dass sich hier ein Individualethiker einigermaßen ratlos über globale Zusammenhänge äußert. Die Weltmärkte krachen zusammen und die Einzelnen sollen auf Gott und eigene Moral vertrauen. Ein Fachmann für Soziallehre ist der Papst nach eigenem Bekunden nicht.1 Ein solcher würde auch in erster Linie von Sorge um das weitere Massenelend getrieben sein, das der Finanzkollaps unter den wirtschaftlich Schwächsten der Erde unweigerlich nach sich zieht. Stattdessen greift Benedikt seine Predigt von der Lourdes-Wallfahrt im September 2008 auf. Darin hatte er das Streben nach Macht und Geld gegeißelt, aber wieder nur als individuelle Ermahnung an junge Franzosen, sich nicht von „modernen Trugbildern“ wie Geld, Macht und Besitz verführen zu lassen. Die Tragik dieses Papstes besteht darin, dass er in seinem so lange geführten – und bis heute andauernden – Kampf gegen die Befreiungstheologie für die großen Strukturen gesellschaftlicher Machtausübung und gieriger Besitzvermehrung nie ein tieferes – auch theologisch fundiertes – Verständnis gezeigt hat. In seiner persönlichen Theologie kommt den diesbezüglichen Fragen keine herausragende Bedeutung zu.
Er leidet an allererster Stelle an den religiösen Folgen des „Neoliberalismus“, nicht an dessen massenmörderischen Auswirkungen für die Armen oder an der Frage, ob sich die Weltgesellschaft – allein aus ökologischen Gesichtspunkten heraus – die monströse Wirtschaftsform „Konzern“ noch länger leisten kann. Die platonische Grundeinstellung unterscheidet ihn erheblich von Vorgängerpäpsten wie Johannes XXIII., Paul VI. (Gegner des Irrglaubens an die Ordnungskraft des Profitstrebens) und Johannes Paul II. („Vorrang der Arbeit vor dem Kapital“). Zu befürchten ist, dass Papst Benedikt es in einer neuen Sozialenzyklika so hält wie in seinen bisherigen Schriften und das Wort „Kapitalismus“ umgeht, wo es ihm nur eben möglich erscheint. Bislang ist nicht einmal absehbar, ob die Wirtschaftslinken, die es in ausgesprochen konservativen Kreisen der katholischen Kirchenleitung ja durchaus gibt, mit ihren Anliegen bei ihm Gehör finden.
Ob wir auf Überraschungen hoffen dürfen? Auf der Basis der bisherigen Soziallehre müsste der Papst zumindest den Widerspruch thematisieren, dass die politische Klasse der reichen Länder zur Stützung des einbrechenden Finanzsystems viele hundert Milliarden über Nacht – aus nicht näher bezeichneten Hüten – herbeizaubern kann, während sie z.B. Jahrzehntelang die vergleichsweise lächerlichen Sollvorgaben für so genannte Entwicklungshilfe noch nie eingelöst hat. Was hat ein Papst dazu und zum zivilisatorischen Ernstfall auf dem Planeten zu sagen, der – gut augustinisch – erklärt: „Nicht die zukünftige bessere Welt ist Gegenstand der Hoffnung, sondern das ewige Leben.“2 Blickt man auf Lateinamerika, so ist Joseph Ratzinger, der viele für Gerechtigkeit kämpfende Theologen nach seinem Prinzip „Vorrang der Wahrheit vor der Güte“ gemaßregelt hat, schon jetzt von den Zeichen der Zeit widerlegt.
Der Streit um die Unternehmerdenkschrift der Evangelischen Kirche
Speziell die deutschen Kirchen haben sich nach anfänglichem Zögern in der „neoliberalen“ Ära sehr bald als anpassungsbereit erwiesen. Ihrem gemeinsamen Sozialwort Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit vom Februar 1997 folgte schon 2003 auf katholischer Seite ein ganz anderer Ton, nämlich das Positionspapier Das Soziale neu denken. Dieses Werk hat der ehemalige CDU-Generalsekretär Heiner Geißler 2004 auf dem Katholikentag in Ulm als „Widersinn gegen das Evangelium“ und als Annäherung an den „amerikanischen Weg“ abqualifiziert. Profilierte Vertreter des Sozialkatholizismus waren an dem schröderianisch gefärbten Dokument gar nicht beteiligt.
In der evangelischen Kirche ist der Streit unlängst an der Unternehmerdenkschrift der „EKD-Kammer für soziale Ordnung“ entflammt, die wohl mindestens so unpassend terminiert ist wie das jüngste Buch von Friedrich Merz. Federführend beteiligt war der langjährige CDU-Bundespolitiker und Geschäftsführer des „Bundes der Deutschen Arbeitgeberverbände“ Reinhard Göhner, der vehement die Erwähnung eines „Mindestlohnes“ verhindert haben soll; nicht beteiligt war z.B. das Kammermitglied Ursula Engelen-Kefer, eine kämpferische DGB-Frau.3
Das neue „protestantische Profil“ unter EKD-Bischof Wolfgang Huber
Vielleicht gibt es zu diesem Dokument, über das auch einige sozial wache Landesbischöfe unglücklich sein dürften, einen parteipolitischen Hintergrund. Bis 1945 dominierten im deutschen Protestantismus nationalkonservative Strömungen. Nachdem daraus denkbares Unheil für das kirchliche Zeugnis erwachsen war, kam es nach Niederwerfung des Nationalsozialismus zu einer – durchaus fortschrittlichen – Sozialdemokratisierung weiter Teile der Pfarrerschaft. Heute aber ist die SPD eine „neoliberale“ Partei, die den Bezug zu den wirtschaftlich Schwachen fast ganz verloren hat und sozialpolitisch zum Teil rechts von CDU-Politikern wie dem NRW-Ministerpräsidenten Jürgen Rüttgers steht. Entsprechend wirken sich die SPD-Seilschaften im Protestantismus aus. Der derzeitige EKD-Ratsvorsitzende Bischof Wolfgang Huber hatte vor seiner Wahl alternativ eine parlamentarische Karriere für die SPD angestrebt. Den „neoliberalen“ Kurs seines Parteifreundes Gerhard Schröder hat er von Anfang affirmativ begleitet. Unter Huber hat die EKD eine Friedensdenkschrift veröffentlicht, die den Konflikt mit den staatstragenden Kräften spürbar scheut und entsprechend von allen Parteien, die deutsche Kriegseinsätze befürworten, gelobt worden ist.
Derweil fürchtet die „Evangelische Arbeitstelle zur Betreuung der Kriegsdienstverweigerer“ um ihre bisherigen Arbeitsmöglichkeiten und sogar um den Bestand ihrer Zeitschrift Zivil. Die von vielen fortschrittlichen Protestanten getragene Hilfsorganisation „Brot für die Welt“ soll im Zuge einer neuen Zentralisierungslinie weg von Stuttgart und regierungsnah in Berlin untergebracht werden.4 In all diesen Fragen melden sich Gegenstimmen, doch in Fragen der „neoliberalen“ „Markt“-Anpassung ist der Widerspruch offenbar besonders heftig. Der ehemalige Direktor des Diakonischen Werkes der EKD, Jürgen Gohde, trat im Juni 2006 von seinem Amt zurück, nachdem er – im Gegensatz zur katholischen Caritas – weitere Hartz-IV-Kürzungen befürwortet und heftige Kritik von Kirchenmitgliedern geerntet hatte.
Altar und Wirtschaft: „Frieden mit dem Kapital?“
Die Auseinandersetzung um die aktuelle „Unternehmerdenkschrift“ führen auch sozialethisch engagierte Theologen, darunter Prof. Frank Crüsemann, Prof. Ulrich Duchrow, Dr. Heino Falcke und Prof. Franz Segbers, ebenso die Politikwissenschaftler Prof. Siegfried Katterle und Prof. Karl Georg Zinn. In ihrem Aufruf Frieden mit dem Kapital? vom Reformationstag 2008 wenden sie sich gegen den wirtschaftspolitischen Kurswechsel der EKD. Die „Thron-und-Altar-Ehe“ werde jetzt in eine „Wirtschaft-und-Altar-Ehe“ transformiert. Ihre Hauptkritikpunkte:
- Die Realität der herrschenden Wirtschaftsordnung werde grotesk beschönigt; deren verheerende Folgen für die Mehrheit der Erdbevölkerung und das Überleben würden ausgeblendet.
- Der „neoliberale“ Kapitalismus werde mit dem Euphemismus „Soziale Marktwirtschaft“ versehen, und in diesem systemstützenden Kontext wolle man den Eindruck erwecken, individuelles Fehlverhalten sei Ursache für negative Probleme.
- Die bisherigen Grundeinsichten der evangelischen Sozialethik würden verabschiedet, die Ideologie einer „auf das Notwendigste begrenzten“ Regulierung hingenommen.
- Die Evangelische Kirche Deutschlands gefährde mit der Unternehmer-Denkschrift ihre Einheit mit jenen Kirchen im Ökumenischen Rat, im Reformierten und Lutherischen Weltbund, die an der Seite der „ausgeschlossenen und verarmten Weltbevölkerung“ dem „neoliberalen Kapitalismus“ längst eine christliche Absage erteilen.
Der Protestaufruf steht zur weiteren Unterzeichnung offen und soll zu Pfingsten 2009 dem Rat der EKD übergeben werden. Segbers und Duchrow veröffentlichen in diesen Tagen auch ein Buch mit dem Titel „Frieden mit dem Kapital?“, das derzeit wohl zu den passend terminierten Veröffentlichungen gehören dürfte.
Nachsatz zum „Neoliberalismus“
Die Ideologie des „Neoliberalismus“ steht in diesem Beitrag in Anführungszeichen. Mit dieser Wortzusammensetzung wird dem ehrenwerten Liberalismus als Motor der bürgerlichen Revolution nämlich ein großes Unrecht getan. Man wundert sich derzeit unentwegt, wie selbstbewusst sich die langjährigen Verfechter und Mitläufer der „neoliberalen“ Religion noch vor das Forum der Öffentlichkeit stellen. Das Märchen vom Kaiser muss augenblicklich umgeschrieben werden. Dem Kaiser ist es entweder gelungen, die Mehrheit seines Publikums wirklich blind zu machen, oder aber es ist ihm letztlich egal, was das Publikum von ihm denkt. Die nächste Sprech- oder Finanz-Blase kommt bestimmt.