Kollaps beim Endspurt
Der Weltgipfel zur Informationsgesellschaft (WSIS) auf der Intensivstation
Was viele bereits befürchtet hatten, ist nun eingetreten. Der seit mehr als zwei Jahren andauernde Vorbereitungsprozess für den Weltgipfel zur Informationsgesellschaft (WSIS) im Dezember 2003 ist auf der Zielgerade kollabiert. Die knapp 2.000 Delegierten aus aller Welt, die in den letzten zwei Wochen in Genf versucht hatten, aus den vorliegenden Entwurfstexten einer Deklaration und eines auf das Jahr 2015 abzielenden Aktionsplanes ein den Staats- und Regierungschefs vorlegbares Abschlussdokument zu produzieren, waren nicht in der Lage, sich zu einigen. Nun soll auf einer außerordentlichen 4. Vorbereitungskonferenz im November versucht werden, das drohende Desaster abzuwenden. Dem WSIS-Prozess zur Weltinformationsgesellschaft könnte das gleiche Schicksal drohen, dass den Doha-Prozess über den Welthandel jüngst auf der WTO-Konferenz in Cancun ereilte.
Vermengung von zwei Konfliktebenen
Die Zuspitzung der Konfrontation kommt nicht unerwartet. Je mehr sich im WSIS-Verhandlungsprozess herausstellte, dass mit dem Thema Informationsgesellschaft nicht nur technische Aspekte einer weltweiten Kommunikationsvernetzung, sondern fundamentale gesellschaftspolitische Fragen der zukünftigen Entwicklung der Menschheit aufgeworfen sind, desto klarer wurde, dass der Versuch, die gravierend unterschiedlichen Weltvorstellungen in einen Konsensus über Grundprinzipien und Marschrichtungen für zu treffende Maßnahmen zusammenzuführen, mit dem berühmten Ansinnen verglichen werden kann, den Kreis ins Quadrat zu setzen.
Dabei vermengen sich zwei spannungsgeladene Konfliktebenen: die zwischen den verschiedenen Blöcken der Regierungen auf der einen Seite und die zwischen der Zivilgesellschaft und einigen Regierungen auf der anderen Seite. Da das eine vom anderen kaum mehr trennbar ist, entsteht ein explosives Gemisch, dessen Zündung an den Grundfesten des aus dem 20. Jahrhundert ererbten Systems der internationalen Beziehungen rütteln kann. Das jüngst in Cancun entfachte Feuer kann so schnell zum Flächenbrand werden, wobei eine gescheiterte WSIS einen ähnlichen Effekt hätte wie eine gescheiterte WTO: Es gäbe nur Verlierer.
In der Tat ähnelt die Gemengelage auf der WSIS-Regierungsbank der WTO-Konstellation. Die Europäische Union und die USA haben zwar im Detail unterschiedliche, im Prinzip aber ähnliche Positionen, wie der Cyberspace zukünftig gemanagt werden soll. EU und USA sind sich durchaus bewusst, dass die Gräben, die die digitale Spaltung aufreißt, zugeschüttet werden müssen, und sie sind bereit, sich dafür zu engagieren. Die Vorstellungen aber, wie diese "Digital Solidarity Agenda" abgearbeitet werden soll, unterscheiden sich essentiell von den Vorstellungen jener Regierungen, die sich mehr oder minder hinter dem neuen Block der G 21 zusammenfinden.
Wie bei WTO in Cancun sind auch bei WSIS in Genf China, Brasilien, Südafrika und Indien die Wortführer der anderen Seite. Auch hier gibt es im Detail Unterscheide, aber grundsätzlich einig ist man sich darin, dass die digitale Solidarität neue Finanzierungsmechanismen benötigt, dass die Souveränität der Regierungen über die Ressourcen des Informationszeitalters, und insbesondere über das Internet, hergestellt werden müsse und dass es der individuellen Rechtsordnung eines jeden Landes überlassen sein muss, wie es Menschenrechte innenpolitisch mit andere Rechtsgütern und Wertvorstellungen ausbalanciert. Der Westen aber sagt Nein zu einem neuen Fonds, räumt den privaten Sektor Priorität bei der Entwicklung der Internet Kernressourcen ein und fordert eine universelle Beachtung grundlegender Rechte und Freiheiten.
Cyberspace oder Absurdistan?
Nun sind solche antagonistischen Konstellationen bei Globalverhandlungen nichts Neues. Das für solche Fälle vorhandene diplomatische Instrumentarium, sich dann eben darüber zu einigen, dass man sich uneinig ist und mit nichtssagenden Allgemeinplätzen den Dissens zu verdecken, funktioniert jedoch immer weniger. Kein Mensch versteht, wenn der Dissens beim Thema "Massenmedien und Informationsfreiheit" mit einer Formulierung im Aktionsplan überbrückt werden soll die da lautet, dass die Regierungen "die Medien ermutigen, weiterhin eine bedeutende Rolle zu spielen".
Über zwei Drittel der Entwurfsdokumente sind noch in sogenannten "eckigen Klammern", d.h. man sucht weiter nach banalen Abstraktionen, die allen Seiten Gesichtswahrung und Zustimmung ermöglichen. Die dabei entstehenden Worthülsen lesen sich dann partiell wie dadaistische Verse. Im Fall der Kontroverse über die Verwaltung der Internet-Kernressourcen heißt zum Beispiel, dass "Aktionen u.a. einschließen können, den internationalen Dialog zwischen allen interessierten Seiten zur Schaffung adäquater Managementstrukturen zu fördern". Mit einer derartigen Blablaisierung ernsthafter Themen landen die Delegierten nicht im Cyberspace sondern in Absurdistan.
Von Input zu Impact
Die Kritik kommt dabei immer stärker aus den Reihen der Zivilgesellschaft, die erstmalig bei einem UN-Weltgipfel in weite Teile des Verhandlungsprozesses integriert ist. Der Hauptvorwurf der im WSIS-Prozess außerordentlich gereiften Zivilgesellschaft ist der, dass die bisherigen Dokumentenwürfe zu bürokratisch und zu technokratisch sind und sich nicht vorrangig auf den Menschen mit seinen Problemen im Informationszeitalter konzentrieren.
Die Ansichten der Zivilgesellschaft können dabei nicht mehr so einfach vom Tisch gewischt werden. Schritt für Schritt hat sie an Einfluss gewonnen und sich durch die Schaffung neuer repräsentativer Arbeitsorgane auch verhandlungsfähiger als früher gemacht. Waren die nicht-staatlichen "Beobachter" bei der PrepCom1 im Juni 2002 noch völlig draußen vor der Tür, so hatten zivilgesellschaftliche Experten bereits auf der WSIS-InterSessional im Sommer 2003 in Paris Zugang zu einigen informellen Verhandlungsgruppen. WSIS-Präsident Samassekou hatte am Vorabend der PrepCom3 verkündet, dass man den als "Innovation im UN-System" bezeichneten "multi-stakeholder approach" weiter ausbauen wolle: Er wolle von "Input" zu "Impact".
Die damit geweckten Begehrlichkeiten erhielten aber nach der ersten PrepCom3-Woche einen herben Dämpfer. Als die Zivilgesellschaft nach Vorlage eines erneuerten Deklarationsentwurfes die Kerngedanken ihrer 89 konkreten Vorschläge suchte, wurde sie fündig wie der Blumensucher in der Wüste. Von einigen Ausnahmen abgesehen, hatten sich Geist und Buchstaben der alternativen oder ergänzenden Formulierungsvorschläge verflüchtigt.
Als das WSIS-Büro der Zivilgesellschaft daraufhin bei einem gemeinsamen Treffen mit dem WSIS-Büro den Diplomaten Ignoranz vorwarf und mit Protestaktionen drohte, traten Samassekou und die Schweizer Gastgeber die Flucht nach vorn an: Auch viele Regierungen hätten ihre Vorstellungen vom Entwurfstext verschwinden sehen und es gäbe durchaus zahlreiche Mitglieder auf der Regierungsbank, die ein stärkeres Mitwirken der Zivilgesellschaft sowohl bei der Erarbeitung der Texte, aber mehr noch dann bei der Umsetzung des Aktionsplanes als dringendes Gebot der Zeit ansehen. Man müsse aber respektieren, dass das UN-Prozedere weitgehenden Konsens verlangt und Fortschritt so allenfalls im Schneckentempo erreichbar ist.
Die Wirkungskraft derartige Beruhigungspillen aber schwindet. Worten müssten Taten folgen - und die müssten sich auch in Texten niederschlagen, heiß es unverblümt. Dabei gibt es auch innerhalb der Zivilgesellschaft zwei Strömungen. Die einen sind mehr für einen "Marsch durch die Institutionen", d.h. für eine Akzeptanz der gesetzten Rahmenbedingungen und das mühselige Bohren dicker Bretter mit noch immer relativ stumpfen Bohrern in Form von formellen und informellen Konsultationen. Die anderen sind mehr für medienspektakuläre Aktionen, die das Bewusstsein der Weltöffentlichkeit auf Defizite und Skandale lenken sollen.
Zivilgesellschaft in der "Drehtüre"
Die Debatte wird weiter angeheizt durch einer Art "Drehtürpolitik" der Regierungen, die zwischen offen und geschlossen hin und her pendelt und dabei das eh vorhandene Chaos noch weiter konfusioniert. So hatte am Tage nach dem "reinigenden Gewitter" zwischen den beiden WSIS-Büros der finnische Vorsitzende der Arbeitsgruppe 2, die sich mit Deklaration und Aktionsplan befasste, zugesichert, Vertreter der Zivilgesellschaft innovativ in die informellen Konsultationen der Unterarbeitsgruppen zu den neun strittigen Themen einzubeziehen. Die letzten Entscheidung über das "Wie" sollte dabei der jeweilige Vorsitzende der Arbeitsgruppe treffen.
In der Gruppe, die sich mit "Internet Governance" befasste, führte das zu der folgenden kuriosen Situation. Während am Mittwoch Abend die Beobachter im Verhandlungsraum geduldet wurden, forderte am Donnerstag der chinesische Delegierte, die Beobachter wieder herauszuschicken. Die EU und die USA ergriffen daraufhin das Wort und sagten, dass sie nichts gegen ein Verbleiben der Beobachter einzuwenden hätten. Da aber der chinesische Delegierte auf einer buchstabengetreuen Interpretation der Prozedurregeln bestand, schickte der kenianische Arbeitsgruppenvorsitzende unter Bedauern die Beobachter wieder hinaus, die ihrerseits energisch gegen dieses Wiederaufleben von "Geheimdiplomatie" protestierte.
Es dauerte aber gar nicht lange, da kamen einzelne Diplomaten, denen der Rauswurf auch nicht gepasst hatte, aus dem geschlossenen Saal und berichteten wortgetreu, was drinnen gesagt wurde. Und schon stand der von einigen Regierungen offensichtlich als "geheim" einzustufende Wortwechsel ob ICANN oder die ITU zukünftig das Internet verwalten sollen, im Internet. Das ist zwar wie im Kindergarten, dieses "Rein oder Raus" aber ist durchaus eine substantielle Frage, geht es doch dabei eigentlich darum, wie traditionelle Mitsprache- und Mitentscheidungsrechte neu aufgeteilt werden.
On the Road, but in the Rain
Natürlich haben Regierungsvertreter Recht, wenn sie sagen, Regierungen stehen in einer anderen Verantwortung als häufig selbst ernannte Repräsentanten der Zivilgesellschaft und müssen insofern vorsichtiger mit ihren Absichtserklärungen umgehen. Das ist zwar grundsätzlich richtig, aber auch hier hat der WSIS-Prozess Dinge in Bewegung gebracht, die es so vorher nicht gegeben hat. Das, was Vertreter der Zivilgesellschaft bei der WSIS artikulieren, hat einen oft sehr langen Diskussionsprozess Online und Offline hinter sich und repräsentiert die Ansichten breiter betroffener Gruppen, denen gegenüber dann auch die Vorsitzenden der rund 25 Facharbeitsgruppen der Zivilgesellschaft wieder verantwortlich sind.
Dieser "bottom up" Politikentwicklungsprozess der Zivilgesellschaft konfligiert strukturell in der Tat mit dem "top down" Entscheidungsprozess der Regierungen. Der einzige Weg aber, dieses Spannungsverhältnis konstruktiv zu gestalten, ist und bleibt der Dialog. Den stellte auf der abschließenden Pressekonferenz WSIS-Präsident Samassekou auch in den Mittelpunkt. Man sei auf dem richtigen Weg, man brauche eben Geduld. Dem wird von der Zivilgersellschaft nicht grundsätzlich widersprochen. Man sei tatsächlich "on the Road", aber stünde halt noch immer "in the Rain".
Das der Geduldsfaden zum Reißen gespannt ist, macht auf der gleichen Pressekonferenz die Sprecherin des zivilgesellschaftlichen WSIS-Büros klar: Man sei nicht bereit, sich für Machtspiele missbrauchen zu lassen und werde dem WSIS-Prozess jene Legitimierung verweigern, die er benötigt. Die Arbeiten an einem alternativen Dokument hätten schon begonnen. Die Weltöffentlichkeit könne dann entscheiden, welche Informationsgesellschaft sie haben wolle.
Ob das Grabenlabyrinth mit der jetzt für den November anberaumten PrepCom4 und vielleicht einer noch unmittelbar vor dem Gipfel möglichen PrepCom5 noch begehbar gemacht werden kann, ist schwierig vorauszusagen. Der zugespitzten Lage kann man aber dennoch eine gute Seite abgewinnen. Die bisher eher in Expertenkreisen oder unter Netzaktivisten diskutierten gesellschaftlichen Themen des Informationszeitalters fangen an, stärker ins öffentliche Bewusstsein zu drängen. Das Läuten der Alarmglocken in Genf kann insofern hilfreich sein, dass die Öffentlichkeit etwas munterer wird und die Prioritäten der Weltdebatten neu sortiert werden.