Konsumrausch 2000

Steigender Wohlstand, stagnierende Zufriedenheit, sinkender Idealismus?

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Für die großen Mehrheiten im EU-Europa sind die Konsummöglichkeiten und die wirtschaftlichen Randbedingungen in den letzten Jahrzehnten zweifellos besser geworden. Aber auf die persönliche Zufriedenheit hat sich dies nicht ausgewirkt. Zugleich ist der Trend zu immateriellen Zielsetzungen, der prognostizierte Wertewandel hin zu Autonomie, Partizipation, Emanzipation, also zu den postmateriellen Werthaltungen, inzwischen ordentlich eingebrochen. Eine Anmerkung zum Alltagsleben nach dem Datumssprung.

Konsumstress...

Dezember ist immer ein "konsumstressiger" Monat. Den weihnachtlichen und sylvestrigen Geschenken, Festen, Feiern und Extras, die man sich und anderen leisten möchte, oder glaubt leisten mögen zu müssen, entzieht man sich längst nicht mehr. Natürlich ist das dieses Jahr, im Spannungsfeld zwischen abgewehrten und verkrampften Y2K-Ängsten und der allgemein atmosphärisch aufgeheizten Stimmung des Besonderen, auch ein spezieller Fall. Der Handel jedenfalls ist zufrieden (siehe Süddeutsche Zeitung, 13. 12. 1999). Und - das US-amerikanische Luxusfieber beim Konsum und bei der Drängelei nach Aufmerksamkeit und Geltung, wie es Robert H. Frank in seinem Buch "Luxury Fever"1 (vgl. Salon Artikel) beschreibt, hat nun auch Europa erfasst. Die früheren Hemmungen gegenüber offensivem Konsum ("Prahlen" oder "Angeben" wurde das einmal genannt) sind heute längst nicht mehr vorhanden.

Lässt man in den letzten Tagen dieses Jahres die letzten Jahrzehnte Revue passieren, fallen zwei große und unerwartete Entwicklungen auf. Die eine: Trotz recht guter wirtschaftlicher Entwicklung in Europa (für die großen Mehrheiten) hat sich die Zufriedenheit der Menschen überhaupt nicht spürbar verbessert. Die andere: Auf dem hohen europäischen Lebensstandard ist es nicht zu mehr Postmaterialismus, sondern zu einer Re-Materialisierung der Wertelagen der Menschen gekommen. Beide Entwicklungen lassen sich im sogenannten "Eurobarometer", das ist eine jährlich wiederkehrende Befragung der EU-Bürger, deren Datenfülle für wissenschaftliche Zwecke übrigens problemlos zur Verfügung steht, verfolgen.

Zufriedenheit stagniert

Im Jahr 1973 waren 21 Prozent der EU-Bürger mit ihren Lebensumständen sehr zufrieden und 19 Prozent unzufrieden. Im Jahr 1997 waren 19 Prozent sehr zufrieden und 22 Prozent unzufrieden. In diesem Zeitraum war das reale Wirtschaftswachstum - das von vielen Ökonomen und natürlich den Politikern gerne als Maßstab für die Qualität der Entwicklung von Wirtschaftsräumen genommen wird - hoch, es hat rund 60 Prozent betragen. Egal ob Deutschland, Frankreich oder Großbritannien: Ende der 80er Jahre steigt für kurze Zeit überall die Zufriedenheit leicht an - wobei insgesamt über die Jahre die Franzosen relativ unzufriedener sind - und sinkt dann auf den Ausgangswert Anfang der 70er Jahre (in Frankreich und Deutschland noch tiefer). Auch von anderen Surveys werden ähnliche Ergebnisse berichtet2 .

Obwohl Geld, ähnlich wie Macht oder Aufmerksamkeit, zu den stärksten (und häufig gut verborgenen) Antrieben der Menschen zählt, verändert es offensichtlich die Zufriedenheit der Menschen nicht wesentlich (bewegt man sich oberhalb der Armutsgrenzen). Nicht nur in Europa, auch in den gern als Wunderbeispiel angeführten USA übrigens, - es gibt keine wesentlichen Unterschiede in der Zufriedenheit bei Menschen mit mittleren, höheren und ganz hohen Einkommen (vgl. All-Consuming Passion).

Re-Materialisierung

Die zweite unerwartete Entwicklung zeigt sich in einer ausgeprägten Schrumpfung der sog. Postmaterialisten ab den 90er Jahren. Seit Anfang der 70er Jahre wurde die Materialismus- und Postmaterialismusneigung der Bürger in den westlichen Industriestaaten mit der Befragungsmethode von Roland Inglehart gemessen. Es hat sich dabei ein stetes Ansteigen der Postmaterialisten gezeigt.

Dies hat zu der post68er These vom Wertewandel geführt, welcher dann letztlich doch verhindern soll, dass der Wohlfahrtskapitalismus die Menschen in konsumtiver Repression gefangennimmt:3 mit zunehmendem Wohlstand werden eben "postmaterielle" Ziele entwickelt. Also statt dem Wunsch nach einem zweiten oder dritten Auto wächst der Wunsch nach angenehmeren Lebens- und Arbeitsumständen, Mitbestimmung, Autonomie, Meinungsfreiheit usw. Klar, die Inglehartsche Postmaterialismusskala ist ein recht derbes Instrument zur Messung des Wertewandels. Aber sie zeigt zumindest die grobe Richtung, wo es hingeht.4

Und hier ist seit 1988, 1989 eine deutliche Umorientierung festzustellen. Damals waren 25 % der Deutschen Postmaterialisten und 18 % Materialisten. Das hat sich inzwischen umgedreht, jetzt sind es 13 % Postmaterialisten und 24 % Materialisten.

"Kontrollorientierung wird in unserer Gesellschaft systematisch erzeugt" meinten Lucia Reisch und Gerhard Scherhorn kürzlich auf der Suche nach Möglichkeiten für ethischen Konsum, diese Kontrollorientierung korreliert ausgiebigst mit Materialismus. Von hierher stehen die Chancen also wohl eher schlecht. Aber eine gesellschaftlich erzeugte, systematisch intensivierte Kontrollorientierung gibt zumindest eine plausible Erklärung für den Konsumrausch ab.5