Kopftuch gegen Militärschlag?

Die türkische Armee ist in den Nordirak einmarschiert - auch aus innenpolitischen Gründen

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Zum inzwischen 27. Mal sind türkische Landstreitkräfte gestern Abend in den Nordirak eingerückt. Der türkische Generalstab bestätigte am Freitag, mit 10.000 Soldaten die Grenze zu dem Nachbarland überschritten zu haben, um „die im Nordirak verschanzten Mitglieder der Terrororganisation PKK/KONGRA-GEL auszuschalten und die logistischen Strukturen der Organisation zu zerschlagen“. Der Zivilbevölkerung werde, so heißt es in der Erklärung, kein Schaden zugefügt. Gleichzeitig sollen die Truppen angeblich „nach Erfüllung aller Planziele innerhalb kürzerster Zeit“ wieder zurückgezogen werden.

In der Darstellung des türkischen Generalstabes ist der jetzt erfolgte Übergang zu einer Invasion mit Bodenstreitkräften die logische Folge der insgesamt sechs massiven Luftschläge, die türkische Flugzeuge seit dem 16. Dezember vergangenen Jahres gegen Stellungen der PKK im Nordirak geflogen haben. Nach Angaben des Militärs soll die kurdische Guerilla bei den Luftoperationen schwere Verluste erlitten haben und bereits entschieden geschwächt worden sein. Der Angriff mit Bodentruppen ist demnach nun „der letzte gezielte Schlag“, mit der die PKK vollends ausgeschaltet werden soll.

Militärischer Sieg über die PKK unwahrscheinlich

Von der PKK werden die Angaben der türkischen Streitkräfte naturgemäß heftig bestritten. Insgesamt sollen bei den Luftschlägen allenfalls als ein knappes Dutzend Kämpfer ums Leben gekommen sein und die Strukturen der Organisation keinerlei Schaden davongetragen haben.

Tatsächlich scheint es unwahrscheinlich, dass es dem türkischen Militär gelingen kann, die Guerilla durch militärische Operationen auszuschalten oder auch nur entscheidend zu schwächen. Denn trotz eines mit milliardenschwerem Aufwand und dem Einsatz von ganzen Armeekorps bereits seit 25 Jahren gegen die PKK geführten Krieges, ist es den Generälen bislang nicht gelungen, die PKK selbst innerhalb der türkischen Staatsgrenzen in die Knie zu zwingen – geschweige denn in der unwegsamen Bergregion jenseits der türkisch-irakischen Staatsgrenze, die der Guerilla als Rückzugsraum dient. Mit bis zu 30.000 Mann ist die Türkei auch in der Vergangenheit wiederholt bis zu 50 Kilometer in den Nordirak vorgedrungen – ein durchschlagender Erfolg gegen die Guerilla konnte dabei allerdings nicht erzielt werden.

Das Beispiel der USA in Afghanistan zeigt, dass ein militärischer Sieg über eine bewaffnete Organisation in unzugänglichen Bergregionen, die über die logistische Unterstützung von Teilen der Zivilbevölkerung verfügt, trotz modernster Waffentechnik und militärischer Aufklärung, die auch der Türkei im Kampfe gegen die PKK zur Verfügung gestellt wird, kaum möglich ist. Nicht zuletzt aus diesem Grunde hat sich die Regierung unter Ministerpräsident Tayyip Erdogan bis in den Herbst vergangenen Jahres auch geweigert, dem heftigen Drängen des türkischen Generalstabes nachzugeben und grünes Licht für eine Operation jenseits der Staatsgrenzen zu erteilen. Wiederholt stellte Erdogan klar, dass aus Sicht der türkischen Regierung ein übereilter Einmarsch in den Nordirak, wie er von Generalstabschef Yasar Büyükanit seit April 2007 ultimativ gefordert wurde, unerwünscht sei.

Kopftuch gegen Militärschlag?

Warum ein türkischer Vorstoß in den Nordirak nun doch erfolgte, lässt sich an der nur wenige Stunden vor dem Angriff am Donnerstag abgehaltenen Tagung des türkischen „Sicherheitsrates“ ermessen. Als bei der Sitzung des Gremiums unter dem Vorsitz von Staatspräsident Abdullah Gül am Donnerstag morgen die Spitzen von Militär und Regierung zusammenkamen, standen türkischen Presseberichten zufolge nur zwei Themen auf der Tagesordnung: Die Frage eines weiteren Militärschlages gegen den Nordirak – und die Haltung der Militärs in der brisanten Kopftuchfrage.

Gerade die Mischung dieser beiden Programmpunkte scheint wichtige Hinweise auf die Hintergründe des Militärschlages liefern. Denn noch im April vergangenen Jahres hatten die türkischen Generäle mit einem offenen Putsch gedroht, falls die Regierung Erdogan die Islamisierung des Landes weiter vorantreiben sollte. Doch als nun vor knapp zwei Wochen Erdogan eines seiner politischen Hauptziele, die Freigabe des Kopftuches an türkischen Universitäten, durch zwei Verfassungsänderungen umsetzte, blieben die türkischen Generäle bemerkenswert gelassen – obwohl bislang gerade die Kopftuchfrage geradezu ein rotes Tuch für die Militärs darstellte. Die Freigabe der religiösen Kopfdeckung, der im laizistischen Staatsgefüge eine hohe symbolische Bedeutung zukommt, wäre noch vor wenigen Monaten Grund genug für einen Putsch gewesen. Um so bedeutender ist, dass die Generäle jetzt noch nicht einmal protestierten, als Erdogan das Tragen des Kopftuches an den Universitäten legalisierte.

Spiel mit dem Feuer

Vor diesem Hintergrund scheint es sich durchaus nicht um eine krude Verschwörungstheorie zu handeln, wenn etwa die Abgeordnete der kleinen kurdischen „Partei der demokratischen Gesellschaft“ (DTP), Aysel Tugluk, behauptet, das türkische Militär und die Regierung Erdogan hätten „auf dem Rücken der Kurden“ einen faulen Kompromiss geschlossen. Freie Hand in der Kopftuchfrage gegen freie Hand bei der Beseitigung des PKK-Problems – so lautet nach Darstellung der DTP der Deal von Ministerpräsident Erdogan und Generalstabschef Büyükanit.

Doch die plötzliche Eintracht zwischen Militärs und Regierung könnte sich für Erdogan schon bald zu einem ernsten Problem entwickeln. Denn es stellt sich die Frage, warum die Generäle überhaupt derart vehement über Monate hinweg auf grünes Licht für einen Angriff im Nordirak gedrängt haben. Dass sich die Militärführung selber Chancen ausrechnet, die PKK durch Militäroperationen im Nordirak dauerhaft in die Knie zwingen zu können, ist dabei kaum wahrscheinlich – zumal eine ganze Reihe hochrangiger Militärs in der Vergangenheit ebenfalls erklärt haben, dass „eine militärische Lösung des Terrorproblems unwahrscheinlich“ ist.

Vielmehr dürfte auch das Drängen auf einen Militärschlag vor allem innenpolitische Gründe haben. Denn die Putschdrohung der Militärs im vergangenen Frühjahr war auch darauf gemünzt, die Kandidatur des Regierungskandidaten Abdullah Gül für das Amt des Staatspräsidenten zu verhindern. Durch taktisch geschicktes Vorgehen boxte Erdogan seinen Intimus Gül damals dennoch gegen den Willen des Militärs durch. Die Brisanz dieser Affäre liegt darin, dass es seit Gründung der Republik noch keiner Regierung gelungen ist, sich dem Willen der als politisch allmächtig geltenden Generäle zu widersetzen. So war die Wahl Abdullah Güls zum Präsidenten am 28. August auch ein Tag, an dem der Nimbus vom türkischen Generalstab als mächtigster Institution des türkischen Staates gebrochen wurde. Kommentatoren sprachen damals von einer „entscheidenden Trendwende“, von einem „wichtigen Schritt der Türkei bei der Entwicklung hin zu einer wirklichen Demokratie“, von einem „Ende der politischen Bevormundung“.

Kritische türkische Intellektuelle wie Mithat Sancar von der Universität Ankara warnten schon damals davor, dass sich die türkischen Militärs keinesfalls mit der Beschneidung ihrer politischen Macht abgeben würden - und stattdessen „über die Institutionen und die Kanäle, die ihnen zur Verfügung stehen, für ihren Machterhalt kämpfen“ würden. Der erfolgsversprechendste Weg für eine Rückgewinnung der politischen Macht, so prophezeite Sancar im Gespräch, sei eine gewaltsame Eskalation der Kurdenfrage. Denn in den neunziger Jahren habe sich gezeigt, wie durch eine Polarisierung der Gesellschaft und insbesondere durch eine auf die Gewalteskalation folgende Verhängung des Ausnahmezustandes über weite Teile des Landes politische Macht anhäufen lässt, ohne dass die Regierung sich dem widersetzen kann.

Dass der groß angekündigten „alles entscheideinenden Frühjahrsoffensive“ des türkischen Militärs gegen die PKK nun auch eine weitere Eskalation der Kurdenfrage innerhalb der türkischen Grenzen auf dem Fuße folgen wird, ist jetzt schon sicher. In mehreren Aufrufen hat die Guerilla ihre zahlreichen Anhänger bereits zur Serhildan, einem kurdischen Pendant zur Intifada, aufgerufen. Auch ein Verbotsverfahren gegen die DTP, der einzigen politischen Vertretung der Kurden in der Türkei, läuft bereits. Alle Brücken für einen Dialog zur friedlichen Lösung werden abgebrochen. Viele besorgte Kritiker warnen deshalb davor, dass sich die Türkei längst „mit Riesenschritten auf dem Weg zurück in die neunziger Jahre“ befinde.

Durch den Angriff am Donnerstag scheinen die türkischen Militärs ihrem Ziele, durch die Erzeugung politischer Instabilität verloren gegangene Privilegien und politische Macht zurückzugewinnen, ein großes Stück näher gekommen zu sein. Ob die türkische Regierung, die bei der Invasion des Nordirak entscheidende Schützenhilfe geleistet hat, sich selbst und der Demokratie in der Türkei damit einen Dienst geleistet hat, scheint zweifelhaft.