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Krankenhäuser als Profitcenter

Wie der Versuch, die Kosten des Gesundheitswesens zu kontrollierten, in deutschen Hospitäler zu bizarren Verhältnissen geführt hat (Teil 3 und Schluss)

Krankenhäuser haben sich seit der Einführung von Fallpauschalen 1997 verstärkt zu Unternehmen mit dem Ziel der Gewinnerwirtschaftung gewandelt; Pflegeeinrichtungen sind es seit Einführung der Pflegeversicherung 1995 ebenfalls. Das hatte Konsequenzen. Wenn nämlich die soziale Dienstleistung Mittel einer Geschäftskalkulation ist, dann ist der Zweck einer ambulanten Pflegestation, eines Krankenhauses, eines Altenpflegeheims nicht mehr zwingendermaßen die möglichst gute, dem Patienten zugewandte Pflege oder Behandlung.

Der Zweck ist vielmehr, mit der Pflege eines alten oder behinderten Menschen oder einer Hüft- bzw. Blinddarm-Operation einen Überschuss zu erwirtschaften.

Von diesem gewollten Zweck her muss alles, was dafür notwendigerweise gebraucht wird, als Kosten in den Blick genommen werden – seien es die Löhne der Ärzte und des Pflegepersonals bis hin zum Putzdienst und anderen Hygienemaßnahmen, seien es die Krankenhausbetten, die auch einmal unbenutzt dastehen – was unter diesen Bedingungen kein Glück, sondern eine mittlere Katastrophe ist, weil leere Betten einfach nur dastehen, ohne für Einnahmen zu sorgen.

Diese Kosten müssen selbstverständlich ständig minimiert werden. Das hat zu einer Art von Generalrevision [1] in allen Einrichtungen geführt.

Teil 1: Warum Gesundheit gar nicht unser "teuerstes Gut" ist [2]
Teil 2: Das Gesundheitwesen als Reparaturbetrieb [3]

Auch vor den entsprechenden Reformen und vor der Einführung der diagnosebezogenen Fallpauschalen gab es so etwas wie "Kostendruck", weil Krankenkassen und Träger nicht beliebig viel zahlen wollten/konnten. Der deutsche Sozialstaat hatte sich im Krankenhausbetrieb den Humanismus der Kirchen und Verbände zunutze gemacht, die sich, zum Teil bereits in vorbürgerlicher Zeit, der Armen und Kranken angenommen hatten.

Mit dem Prinzip, die Existenz der von ihnen betriebenen Einrichtungen durch Kostenerstattung zu sichern, konnten sich die jeweiligen Gesundheitsminister Zugriff auf viele Arbeitskräfte verschaffen, die als Glaubensschwestern und Diakonissinnen bereit waren, für "Gotteslohn" zu arbeiten (daher die vielen konfessionellen Krankenhäuser in Deutschland).

Angesichts stetig steigender Krankenhauskosten (allein von 1970 bis 1975 gab es eine Steigerung von 7,5 auf 17,5 Milliarden D-Mark durch teurere medizinische Geräte, höhere Fallzahlen, zunehmend "normale Gehälter" der Pflegekräfte) kam dann umgehend das Bedürfnis nach Änderung, vor allem im Sinne einer Dämpfung der Kosten, auf – das war der Beginn einer ganzen Reihe von Reformen.

Der vorwärtsweisende Einfall: Auch die Krankenhäuser sollten nach dem Vorbild der Privatwirtschaft und des sonstigen Gesundheitsmarktes künftig "wirtschaftlich rechnen". Die Kassen kritisierten beispielsweise, dass im bisherigen System kein Zwang zu besonders haushälterischem Verhalten bestand – worin durchaus ein wahrer Kern lag. Mit einer ganzen Reihe von Reformen [4] des bisher geltenden Prinzips der Kostenerstattung zielte der westdeutsche Sozialstaat ab Mitte der 1980er-Jahre insofern auf eine Beschneidung der "Pfründewirtschaft" der Kirchen und Wohlfahrtsverbände in den Krankenhäusern.

Neoliberalismus: Sündenfall für das Gesundheitssystem?

Aber die Kostendämpfung war nur der eine Teil der Selbstrevision. Der andere gründete in dem Ideal, dass die anfallenden Kosten nach Möglichkeit selbst Mittel eines Geschäfts werden sollten. Mit dem Stichwort "Ökonomisierung"1 [5], das damals zum Modewort in der Sozialpolitik wurde, ist also nicht einfach im eigentlichen Wortsinn "gutes oder besseres Haushalten" gemeint, sondern die in der kapitalistischen Wirtschaft übliche Rechnung: Alles dient dazu, aus Geld mehr Geld zu machen.

Diesem Maßstab der Rentabilität wurde ab Anfang der 1990er-Jahre neben Bahn, Post und Energieversorgern mehr und mehr der gesamte "soziale Sektor" unterzogen. Insofern ist der beklagte "Neoliberalismus" der Sache nach nichts anderes als eine Ausdehnung der guten alten kapitalistischen Logik: Aufgaben, die bisher staatlich erbracht wurden, weil sie für das Funktionieren dieser Gesellschaft nötig, aber selbst kein Geschäft waren, werden nun – im fortgeschrittenen Kapitalismus – privater Anlage überantwortet.

Es gibt dazu auch ein schönes Marx-Zitat aus dem Jahr 1857 – man sieht daran, dass die Sache selbst tatsächlich keine Neuerfindung von irgendwelchen bösartigen Wirtschaftsliberalen ist.

Die Ablösung der travaux publics vom Staat und ihr Übergehen in die Domäne der vom Kapital selbst übernommenen Arbeiten zeigt den Grad an, wozu sich das reelle Gemeinwesen in der Form des Kapitals konstituiert hat. (...)

Die höchste Entwicklung des Kapitals ist, wenn die allgemeinen Bedingungen des gesellschaftlichen Produktionsprozesses nicht aus dem Abzug der gesellschaftlichen Revenue hergestellt werden, den Staatssteuern, sondern aus dem Kapital als Kapital. Es zeigt dies den Grad einerseits, worin das Kapital sich alle Bedingungen der gesellschaftlichen Produktion unterworfen, und daher andererseits, wieweit der gesellschaftliche reproduktive Reichtum kapitalisiert ist und alle Bedürfnisse in der Form des Austauschs befriedigt werden.

Marx: Grundrisse, 437

Aus staatlicher Sicht erspart man sich damit idealiter langfristig einiges an Kosten und bietet zusätzlich anlagewilligem Kapital neue Möglichkeiten. Wie die Konsequenzen für diejenigen aussehen, die auf die Leistungen angewiesen sind, ist eine zweite, offensichtlich nachrangige Frage.

Am hier interessierenden Fall der Krankenhäuser kann man geradezu exemplarisch nachvollziehen, wie dieser Umbau schrittweise vor sich ging.

Die Deckelung der Kostenerstattung war der erste Schritt, das bisher übliche Verhältnis aufzukündigen (1985). Es wurden nicht mehr die gesamten Ausgaben und Lohnkosten ersetzt; damit wurden die Träger gezwungen, ihre Kosten neu zu kalkulieren.

Gleichzeitig erhielten sie erstmals das Angebot, in Zukunft auch Gewinne erwirtschaften zu dürfen. 1992 gab es erste Fallpauschalen; beim vorläufig letzten Schritt, der Einführung der Diagnose-bezogenen Fallpauschalen (2004), wurden dann die Kosten der verschiedenen Häuser verglichen und (landesweit geltende) Durchschnittswerte festgesetzt.

Die über diesen Vergleich objektiv gemachte Konkurrenz zwischen den Kliniken führte zu dem erwartbaren Ergebnis: Die kleinen Häuser schnitten notwendigerweise schlecht ab – sie hatten vergleichsweise hohe Kosten, die ihnen aber nicht mehr vollständig erstattet wurden. Umgekehrt wurden die festgelegten Fallpauschalen für die größeren Häuser zum Mittel dafür, Gewinne zu erwirtschaften; 2019 – im letzten Vor-Corona-Jahr betrug dieser für die vier größten privaten Klinik-Ketten fast eine Milliarde [6].

Ergebnis dieser Reformen ist insofern ein andauerndes (und politisch gewolltes) Kliniksterben, andererseits das Einströmen von privatem Kapital in die "Kliniklandschaft": Unternehmen wie Helios, Rhön-Kliniken und Asklepios haben seitdem mehrere hundert [7] Krankenhäuser und Fach- bzw. Rehakliniken erworben oder eröffnet.

Heute stellt die "betriebswirtschaftliche Rechnung", wie die Gewinnorientierung etwas verklausuliert heißt, ein nicht mehr verhandelbares, sondern objektiv gemachtes "Muss", ein "externes Datum", dar. Damit ist sie so etwas wie ein überall präsentes eigenes Subjekt.

Nichts kann jemals so bleiben, wie es eingerichtet ist. Beständig wird nach Möglichkeiten gefahndet, wie "optimiert" werden kann, wie Arbeitsabläufe mit weniger Personal oder Sachaufwand zu bewältigen sind, wie aber auch umgekehrt, mit neuen Angeboten geworben werden kann, die eigene Institution besser dastehen kann als der Wettbewerber.

Es ist also keineswegs einfach die Verbesserung der gesamten Arbeitsteilung in einer Pflegeeinrichtung/einem Krankenhaus, um die es dabei geht. Das, worauf jetzt zunehmend mehr Zeit und Energie verwandt wird, ist, die entsprechende Institution fit zu machen als Mittel der Konkurrenz auf dem neuen sozialen Markt.

Das Ideal lautet dabei, mit dem Mittel marktwirtschaftlichen Wettbewerbs neuen Wind durch die muffigen Flure der Krankenhäuser und Einrichtungen wehen zu lassen und einen Innovationsdruck zu erzeugen, der auch den Klienten zugutekommen soll. Die Wahrheit besteht darin, dass die Einrichtungen damit einem neuen Zweck, dem der Gewinnerwirtschaftung, unterworfen werden.

An diesem Zweck hat sich jetzt alles zu messen – jede verausgabte Arbeitsminute ebenso wie jede Anschaffung und jeder Materialverbrauch; das betrifft mit Blick auf die Anfangsmonate der Coronapandemie natürlich auch die Lagerhaltung [8] von Masken, Desinfektionsmitteln und medizinischer Schutzkleidung. Vor diesem Zweck muss jetzt alles gerechtfertigt werden.

Da ist die Vorstellung, dass dem Patienten auf alle Fälle Ruhe, Konzentration und Zugewandtheit von Ärzten und Pflegepersonal ganz gut tun würden, eben eher nebensächlich. Und dieser Zweck sorgt unerbittlich dafür, dass die gesamte Institution mit ihren Arbeitsabläufen ständig zu einem einzigen Kampf um Kostensenkung und gegen Wettbewerber wird.

Der selbstproduzierte Pflegenotstand

Klinik-Manager können im Unterschied zu niedergelassenen Ärzten, bei denen das nur relativ beschränkt möglich ist, hervorragend am beschäftigten Personal sparen. Verträge für Assistenzärzte, die die Klinikjahre brauchen, um sich als Fachärzte auszubilden, vor allem aber die Arbeitsbedingungen für das Pflegepersonal werden mit Hinweis auf den neuen Sachzwang der "Wirtschaftlichkeit" nach unten gedrückt.

Von den Tätigkeiten der Pflegekräfte lassen sich viele (Bettenmachen oder Essen austragen) durch Hilfskräfte erledigen, die nur teil- oder gar nicht qualifiziert sind und deshalb schlechter entlohnt werden; zwischen 1996 und 2007 wurden so 50.000 Vollzeit-Stellen abgebaut [9] – bei gleichzeitigem Anstieg der Fallzahlen. Umgekehrt kann die Tätigkeit der Fachkräfte aufgewertet werden, indem ihnen Aufgaben übertragen werden, die bislang Ärzten vorbehalten waren - auch das spart viel an Kosten.

Offensiv werden zu wenig Kräfte für die anfallende Arbeit auf den Stationen eingestellt – mit der klaren Berechnung, dass das Personal es letztlich nicht übers Herz bringen wird, Patienten unversorgt zu lassen. Dass permanent an Lohnkosten gespart wird, indem viele Tätigkeiten an Subfirmen mit miserabel bezahlten Hilfs- und Reinigungskräften vergeben werden, geht durchaus zu Lasten von ehemals selbstverständlichen Hygienestandards.

10.000 bis 20.000 Menschen sterben nach einer Schätzung des RKI [10] jährlich in der Folge in Krankenhäusern an multiresistenten Keimen, die hierzulande wesentlich stärker verbreitet sind als bei den europäischen Nachbarn.

Wenn auf Basis der nach unten gedrückten Löhne und der vermehrten Hetze – wir reden hier übrigens über die Zeiten vor Corona! – ein "Pflegenotstand" ausbricht und nicht einmal die vorgesehenen Stellen besetzt werden können, weil immer mehr Personal in Deutschland die Flucht ergreift [11], heißt der Ausweg keineswegs, dass dann eben marktüblich "Anreize" geschaffen werden müssen, sprich: mehr Lohn, kürzere Arbeitszeiten, besserer Personalschlüssel – wie es Verdi seit Jahr und Tag fordert [12].

Groko-Gesundheitsminister Jens Spahn heuerte lieber ausländische Ärzte und Pflegekräfte aus Osteuropa, Mexiko und Bosnien an, die zum Glück anspruchslos und billig sind. Probleme für Kollegen und Patienten im Krankenhausbetrieb durch die notwendig auftretenden Sprachschwierigkeiten dürfen keine Rolle spielen – ebenso wenig wie die Lücken, die diese medizinischen Fachkräfte in ihren Herkunftsländern hinterlassen.

Für Patienten sind Krankenhäuser heute trotz großer medizinischer Fortschritte durch bessere Diagnosegeräte, Operationstechniken usw. mit wesentlichen Mängeln und Risiken behaftet: In ländlichen Gegenden gibt es sie bzw. wichtige Abteilungen oft nicht mehr, weil sich das unter den geltenden Bedingungen nicht rechnet; das betrifft in besonderem Maß die Geburtsabteilungen.

Die gesetzliche Vorschrift, dass man in Deutschland im Notfall innerhalb von 30 Fahrzeitminuten ein Allgemeinkrankenhaus erreichen kann, wird in der Realität in vielen Regionen klar unterschritten; medizinische Notfälle werden – auch weil vielerorts zu wenig Rettungsfahrzeuge im Einsatz sind – darüber lebensbedrohlich [13].

Die Versorgung in den Kliniken ist gekennzeichnet von wachsender Professionalität und sogar therapeutischen Überangeboten auf der einen, gravierenden Versorgungs- und Hygienemängeln auf der anderen Seite; beides entspringt aus den ökonomischen Bedingungen, denen die Häuser subsumiert sind.

Vorwärtsdenkende Wissenschaftler fordern übrigens, den Konzentrationsprozess der deutschen Krankenhäuser weiter voranzutreiben. So hatte die Bertelsmann-Stiftung 2019, knapp vor Ausbruch der Coronapandemie, mit einer Studie eine "Neuordnung der Krankenhaus-Landschaft [14]" verlangt, bei der eine "bessere Versorgung" "mit halb so vielen Kliniken möglich" sei. Karl Lauterbach, der "Gesundheitsminister der Herzen", hat dieser Stoßrichtung explizit zugestimmt [15] und lediglich verlangt, die "richtigen Krankenhäuser" zu schließen.

Lustige Anekdote in diesem Zusammenhang: NRW-Gesundheitsminister Laumann (CDU) kam kürzlich in der Tagesschau (27.12.2021) – angesichts der sich erneut zuspitzenden "Lage" auf den Intensivstationen und der Meldung, dass die Krankenhäuser wirtschaftlich so schlecht dastehen, wie seit Jahren nicht, auf die glänzende Idee, eine "Krankenhausplanung" zu fordern [16] und ermahnte die Krankenhäuser treuherzig, ihren "ruinösen Wettbewerb" zu beenden und besser zusammenzuarbeiten. Sachen gibt’s!

Besonderheiten des Gesundheitsmarktes

Zusammenfassend lässt sich festhalten: Auf Basis der sozialstaatlichen Maßnahmen, insbesondere der gesetzlichen Krankenversicherung, konnte sich der Gesundheitsmarkt, wie wir ihn heute kennen, etablieren. Vom Standpunkt des Bundesministeriums für Wirtschaft sieht dessen Bedeutung aktuell so aus [17]

Im Jahr 2020 betrug die Bruttowertschöpfung der Gesundheitswirtschaft 364,5 Milliarden Euro. Das entspricht 12,1 Prozent der Bruttowertschöpfung in Deutschland. 2020 waren ca. 7,4 Millionen Erwerbstätige in der Gesundheitswirtschaft beschäftigt, das sind 16,5 Prozent aller Erwerbstätigen in Deutschland. Seit 2011 ist die Zahl der Erwerbstätigen in der Gesundheitswirtschaft um 1 Millionen gestiegen.

Die aktuellen Ergebnisse der gesundheitswirtschaftlichen Gesamtrechnung zeigen, dass die Bruttowertschöpfung der Gesundheitswirtschaft in den letzten 10 Jahren - mit Ausnahme des Jahres 2020 - stabil gewachsen ist, deutlich stärker als die der Gesamtwirtschaft. Im Durchschnitt wuchs sie um 3,3 Prozent pro Jahr, die Gesamtwirtschaft um 2,5 Prozent.

Die wirtschaftliche Aktivität der Gesundheitswirtschaft sorgt für positive Ausstrahleffekte in der deutschen Gesamtwirtschaft.

Der Gesundheitsmarkt ist ein bedeutender Teil der deutschen Volkswirtschaft und gleichzeitig ein besonderer Markt. Denn nur indem der Staat Teile des Lohns zwangsweise vergesellschaftet, stiftet er die nötige Zahlungsfähigkeit auf Seiten der lohnabhängigen Patienten und weitet damit das Geschäftsfeld und -volumen der Gesundheitsbranche kontinuierlich aus.

Die auf diesem Markt gehandelten Leistungen werden aus einer Kasse bezahlt, die ihre Quelle im Lohn der Erwerbsabhängigen hat – einer Quelle, die quantitativ notwendig beschränkt ist. Die Einnahmen und damit die Zahlungsfähigkeit der Sozialversicherung hängen ziemlich unmittelbar an der jährlich gezahlten Lohnsumme.

Diese wiederum soll im Interesse der nationalen Konkurrenzfähigkeit möglichst niedrig sein. Insofern sind die durch die Krankenkassen eingesammelten Gelder, bei allen Erhöhungen der Beiträge, letztlich stets so "knapp", wie die Löhne des Kapitalstandortes Deutschland niedrig sein "müssen".

Die Versorgung, die der Sozialstaat für sein Volk vorsieht, definiert der Gesetzgeber im SGB V (Sozialgesetzbuch V), das die gesetzliche Krankenversicherung rechtlich regelt:

Qualität und Wirksamkeit der Leistungen haben dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse zu entsprechen und den medizinischen Fortschritt zu berücksichtigen." (SGB V, § 2, Absatz 1) und "Krankenkassen, Leistungserbringer und Versicherte haben darauf zu achten, dass die Leistungen wirksam und wirtschaftlich erbracht und nur im notwendigen Umfang in Anspruch genommen werden.

SGB V, § 2, Absatz 4

Damit etabliert der Gesetzgeber ein Dreiecks-Verhältnis, das es in sich hat. Die Patienten haben das Recht auf eine medizinische Versorgung, die dem medizinischen Erkenntnisstand entspricht; die Krankenkassen haben das Recht, Beiträge vom Lohn einzuziehen und die Pflicht, die Leistungen der Medizinbranche zu bezahlen; die Medizinbranche hat das Recht, damit Gewinn zu erzielen. Und alle Parteien haben zusammen die Pflicht, darauf zu achten, dass die Leistungen dem nationalen Lohnniveau entsprechen.

Diese Vorschrift zeugt davon, dass der Staat weiß, wie sehr die von ihm ins Recht gesetzten Interessen notwendigerweise kollidieren: Der Standpunkt medizinischer Versorgung passt mit dem des Geschäfts nicht zusammen; die vom nationalen Lohn einbehaltene Summe beschränkt den Markt, auf den sich wachsende Ansprüche richten; umgekehrt verteuert ein vergrößerter Topf für medizinische Leistungen den Lohn bzw. seine angeblichen "Nebenkosten".

Es macht sich auf diese Art und Weise geltend, dass Gesundheitskosten in der kapitalistischen Gesellschaft grundsätzlich soziale Kosten sind, die – bei allen Fortschritten, die es in Sachen Verfügbarkeit medizinischer Forschung und Behandlung gegeben hat – letztlich niedrig zu halten sind.2 [18]

Es ist klar, welche Interessen in einer kapitalistischen Ökonomie angesichts dieser Gegensätze notwendigerweise am meisten unter die Räder kommt.

Die jeweiligen Gesundheitsminister haben die Aufgabe, dieses System konfligierender Interessen, das sie selbst eingerichtet haben, so zu verwalten, dass es mit seinen grundsätzlichen Widersprüchen funktionell bleibt, also den jeweiligen staatlichen Anforderungen genügt. Ihr Prinzip dabei ist: Der Gesundheitsmarkt soll weiter wachsen – allerdings nicht so, dass das zu dysfunktional steigenden Krankenkassenbeiträgen (sprich: wachsenden Lohnnebenkosten) führt und gleichzeitig soll die medizinische Versorgung des Volks halbwegs funktionieren.

Was der jeweilige Gehalt dieser Versorgung ist, definiert der Sozialstaat mit dem, was er an Regelungen, Aufträgen, Preisgestaltung usw. vorsieht – und legt damit zugleich fest, was "Volksgesundheit" unter seiner Regie heißt: Nicht das, was medizinisch möglich ist, sondern das staatlich festgelegte Maß an Behandlung der notwendig eintretenden Schädigungen in dieser Gesellschaft.

Kein Wunder also, dass das zu viel Unzufriedenheit auf allen Seiten führt – und zu einem gesellschaftlichen Diskurs, der vor allem aus wechselseitigen Schuldzuweisungen besteht, weil er von den oben genannten Gegensätzen und dem staatlichen Zweck der Gesundheitspolitik nichts weiß und wissen mag:

Reformen als Daueraufgabe

Angesichts dieses Widerspruchs sind Gesundheitsreformen, die vorwiegend aus Reformen des Kassenwesens und dessen Ein- und Auszahlungen bestehen, eine notwendige Daueraufgabe aller Regierungen. Ihr Prinzip ist auf der einen Seite die Erhöhung der Pflichtbeiträge und die Senkung bzw. Begrenzung der Leistungen.

Übrigens: Seit dem "Gesetz zur Modernisierung der Gesetzlichen Krankenversicherung" aus dem Jahr 2003 werden diese Maßnahmen explizit mit dem Hinweis auf die Notwendigkeit der Senkung von Lohnnebenkosten begründet.

Einerseits beschneiden diese Reformen die Verordnungs- und Abrechnungsmöglichkeiten für Ärzte und Krankenhäuser (Budgetierung für ärztliche Leistungen und Pharmazeutika; Deckelung des Krankenhausbudgets, dessen Erhöhung sich grundsätzlich nur noch an der Grundlohnerhöhung orientiert, sprich:

Die Budgeterhöhung darf nicht höher steigen als die beitragspflichtigen Einnahmen der Versicherten der Krankenkassen – eine interessante Vorgabe, die für das Krankwerden bzw. seine Behandlung im Krankenhaus aufgemacht wird!).

Andererseits streichen sie den Patienten Leistungen (Brille, Zahnersatz, Fahrtkosten, Sterbegeld, Entbindungsgebühr etc.), verlangen ihnen Zuzahlungen ab (mehr als 2,4 Milliarden zahlten die Patienten in 2018 allein für Medikamente [19]) und wollen die Patienten allgemein zu mehr Verantwortungsbewusstsein gegenüber den Kosten erziehen. Die Folgen sind insbesondere an Alten und Armen zu studieren, die sich einige medizinische Notwendigkeiten schlicht nicht mehr leisten können.

Inzwischen ist sich die Politik parteiübergreifend einig geworden, dass eine allgemeine Gesundheitsversorgung auf Basis des bisherigen Systems "nicht zu leisten ist". Die Wahrheit ist: Die vom Lohn verstaatlichten Teile geben es beim aktuellen Lohnniveau schlicht nicht her, die Leistungen des Gesundheitsmarkts mit seinen staatlich anerkannten Gewinnansprüchen zu finanzieren, wenn die Löhne gleichzeitig dafür taugen sollen, dass Deutschland weiter Europas stärkste Wirtschaft ist und weltmeisterliche Exportüberschüsse bilanziert.

Der vorläufige politische Schluss daraus: Aufsplittung in eine medizinische Grundversorgung über die Krankenkassen und eine private Zusatzversorgung, die jeder aus seinem eigenen Geldbeutel in "eigener Verantwortung" zu leisten hat; oder auch nicht.

So kann der Einzelne zeigen, wie viel ihm seine Gesundheit – bekanntlich unser höchstes Gut – tatsächlich wert ist und die plurale Zivilgesellschaft wird mit Sicherheit noch ein Stück vielfältiger, wenn wieder mehr Menschen ohne Zähne, aber mit viel Würde durch die Fußgängerzonen spazieren.

Dr. Renate Dillmann hat zusammen mit Dr. Arian Schiffer-Nasserie das Buch "Der soziale Staat – Über nützliche Armut und ihre Verwaltung [20]" geschrieben (VSA 2018)


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[1] https://www.jungewelt.de/artikel/379308.ware-gesundheit-im-dauernotstand.html
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[3] https://www.heise.de/tp/features/Das-Gesundheitwesen-als-Reparaturbetrieb-6446476.html
[4] https://www.jungewelt.de/artikel/379308.ware-gesundheit-im-dauernotstand.html
[5] https://www.heise.de/tp/features/Krankenhaeuser-als-Profitcenter-6446484.html?view=fussnoten#f_1
[6] https://de.statista.com/statistik/daten/studie/322501/umfrage/gewinn-der-groessten-privaten-klinikbetreiber-in-deutschland/
[7] https://de.statista.com/statistik/daten/studie/157148/umfrage/anzahl-privater-krankenhaeuser-seit-2004/
[8] https://www.heise.de/tp/features/Der-grosse-Lockdown-war-niemals-alternativlos-6338288.html
[9] https://www.sozialpolitik-aktuell.de/files/sozialpolitik-aktuell/_Politikfelder/Gesundheitswesen/Datensammlung/PDF-Dateien/abbVI32c.pdf
[10] https://www.bibliomedmanager.de/news/39331-rki-erhoeht-schaetzung-zu-krankenhauskeimen
[11] https://www.bibliomedmanager.de/news/36013-deutsche-pflegekraefte-ueberdurchschnittlich-unzufrieden
[12] https://rp-online.de/wirtschaft/verdi-streik-2019-uniklinik-pflegepersonal-legt-arbeit-in-duesseldorf-koeln-und-essen-nieder_aid-36692091
[13] https://www.jungewelt.de/artikel/419365.gesundheitswesen-lebensbedrohlich.html
[14] https://www.bertelsmann-stiftung.de/de/publikationen/publikation/did/spotlight-gesundheit-neuordnung-der-krankenhaus-landschaft
[15] https://www.tagesspiegel.de/politik/bertelsmann-studie-nur-ueberzogen-spd-experte-lauterbach-will-die-richtigen-kliniken-schliessen/24596684.html
[16] https://www.youtube.com/watch?v=zVcm-o-YNMs
[17] https://www.bmwi.de/Redaktion/DE/Textsammlungen/Branchenfokus/Wirtschaft/branchenfokus-gesundheitswirtschaft.html
[18] https://www.heise.de/tp/features/Krankenhaeuser-als-Profitcenter-6446484.html?view=fussnoten#f_2
[19] https://de.statista.com/statistik/daten/studie/162989/umfrage/zuzahlungen-der-gkv-versicherten-fuer-arzneimittel-in-deutschland-seit-2004/
[20] https://www.amazon.de/soziale-Staat-Verwaltung-%C3%96konomische-Historische/dp/389965885X/ref=asc_df_389965885X/?tag=googshopde-21&linkCode=df0&hvadid=311291770451&hvpos=&hvnetw=g&hvrand=1288562052284142780&hvpone=&hvptwo=&hvqmt=&hvdev=c&hvdvcmdl=&hvlocint=&hvlocphy=9044615&hvtargid=pla-524324792093&psc=1&th=1&psc=1&tag=&ref=&adgrpid=64744430787&hvpone=&hvptwo=&hvadid=311291770451&hvpos=&hvnetw=g&hvrand=1288562052284142780&hvqmt=&hvdev=c&hvdvcmdl=&hvlocint=&hvlocphy=9044615&hvtargid=pla-524324792093