Warum Gesundheit gar nicht unser "teuerstes Gut" ist
- Warum Gesundheit gar nicht unser "teuerstes Gut" ist
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In der Pandemie scheint der Schutz des Lebens oberstes Gebot. Blickt man auf den Umgang mit dem menschlichen Wohlbefinden im Kapitalismus, relativiert sich dieses Postulat
Ob die "Ernährungs-Docs" uns "mit Super-Food" "supergesund" machen, die "geheime Kraft der Atmung", "Augen-Yoga" oder der "Darm mit Charme" auf uns warten: Gesundheits-Ratschläge boomen – in Zeitschriften, Büchern oder von alternativen Heilern aller Art.
Bei denen, die Zeit dafür haben oder es sich leisten können, wird eine Welle "gesunder Ernährung" nach der anderen ausprobiert und im Freundinnen-Kreis weiter gereicht. Und nicht erst seit Corona-Zeiten ist Gesundheit das Gesprächsthema Nummer 1 (neben dem miesen Wetter).
Warum ist das so? Wogegen wird da so stetig angekämpft? Und leben wir nicht in einer Gesellschaft, die über gut ausgebildete Mediziner und ein ausgezeichnetes Gesundheitssystem verfügt?
Leistungen der modernen Medizin
Die Krankheiten, an denen die Menschen heute in den westlichen Ländern leiden, sind – Corona ist da ein Ausnahmefall! – im Wesentlichen nicht mehr Seuchen bzw. lebensbedrohende Infektionskrankheiten. Und tatsächlich hat die Medizin ungeheure Fortschritte aufzuweisen.
Ärzte können inzwischen einen großen Teil der Krankheiten, an denen Menschen früher zugrunde gegangen sind bzw. lang dauernde Folgen zu ertragen hatten, relativ verlässlich behandeln: Geburten mit ihren Risiken (Kindbettfieber), Lungen- und Blinddarmentzündungen, Knochenbrüche und vieles andere mehr. Hygienemaßnahmen, Impfungen, Antibiotika und Erkenntnisse zur Ernährung haben zudem viele früher verbreitete Krankheiten irrelevant gemacht.1
Dazu war es nötig, dass der frühe bürgerliche Staat den medizinischen Erkenntnissen auch praktische Schritte folgen ließ: Kanalisation – hauptsächlich in den entstehenden Großstädten – noch 1892 starben in Hamburg 7.000 Menschen an der Cholera – und Versorgung mit sauberem Trinkwasser durch den Bau von Talsperren, Anordnung von Massenimpfungen usw.
Ärzte können inzwischen auch einen Teil von körperlichen Mängeln und Verschleiß, den angeborene Defekte oder das Älterwerden mit sich bringen, entscheidend verbessern: Operationen, auch pränatal, künstliche Gelenke oder Herzklappen, Transplantationen von Organen usw.
Diese Leistungen der modernen Medizin manifestieren sich in einer enorm gestiegenen Lebenserwartung und oft auch einer sehr viel besseren Lebensqualität von Menschen mit Behinderungen und von Senioren.
Um solche Fortschritte zu erreichen, haben Mediziner Wissen und Erkenntnisstand der früheren Gesellschaften grundsätzlich in Frage gestellt und deren Weisheiten vom "natürlichen" bzw. "gottgegebenen" Gang der Dinge aus dem Verkehr gezogen und durch Aufklärung, Forschung und eine zunehmend systematischere Wissenschaft vom Funktionieren des menschlichen Organismus ersetzt.
Viele der Krankheiten, mit denen Patienten aktuell von ihren Ärzten Rat und Heilung wollen, haben ihre Ursachen allerdings nicht in angeborenen körperlichen Defekten, in Unfällen, dem Altwerden oder ähnlichem, sondern ziemlich offensichtlich in der Ökonomie bzw. der Lebensweise dieser Gesellschaft.
Kapitalismus macht krank
Konsum im Kapitalismus macht krank. Weil die zum Leben notwendigen Güter, damit auch die "Lebensmittel" im engeren Sinn als Waren produziert und kalkuliert werden, sind nicht Gesundheit, Geschmack und Genuss der Konsumenten maßgeblich, sondern das Geschäft, das die Anbieter damit machen können.
Die Herstellung verträglicher und gesunder Konsumtionsmittel ist nicht der wesentliche Gesichtspunkt, wenn es darum geht, mit der Herstellung und dem Verkauf von Produkten Gewinn zu erzielen. Kosten müssen gering gehalten, die hergestellten Waren möglichst vielversprechend angeboten werden – das sind die entscheidenden Mittel des Geschäftserfolgs.
Ob Brötchen, Tomaten oder Schnitzel gut schmecken oder auch nur gesund sind, ist dem gegenüber nachrangig – und höchstens wieder als Mittel zur Steigerung des Absatzes interessant.
Bei Herstellung und Verarbeitung aller möglichen Konsummittel werden deshalb risikofreudig Stoffe eingesetzt, deren Wirkung noch gar nicht ausreichend erforscht sind: Antibiotika, Pestizide, krebserregende Herbizide, Baustoffe usw.
Als Nahrungsmittel werden in der Folge Produkte verkauft, die die Konsumenten oft eher schleichend vergiften als dass sie Lebensmittel im Sinn des Wortes darstellen.
Ab und an – dann ist mit schöner Regelmäßigkeit von einem "Skandal" die Rede – bringen sie auch akute Krankheiten mit sich: Dioxine werden in Eiern gefunden, Hormone und Antibiotika im Fleisch; Kinderspielzeug, Wohnungen und Kleidung entpuppen sich als wahre Giftschleudern.
Zum Teil kann man sich von dieser Gesundheitsschädigung freikaufen, wenn das nötige Geld zur Verfügung steht und die Bio-Branche ihre Kunden nicht ebenfalls vergiftet ... In Lebensmitteln und Textilien verwendete Stoffe lösen Allergien aus; Baumaterialien in Häusern, Büros und Schulen verursachen Krebs.
Lohnarbeit macht krank. Weil sie dem Zweck dient, fremden Reichtum zu vermehren, ist sie rücksichtslos gegenüber den Bedürfnissen von Körper und Geist der Arbeitenden, dauert sie allem technischen Fortschritt zum Trotz oft bis zur Erschöpfung und Verblödung, ist sie oft gefährlich, belastend und fast immer vereinseitigend und "stressig".
Die Arbeitskraft ist im auf Gewinn angelegten Produktionsprozess ein Kostenfaktor, aus dem möglichst viel herausgeholt werden muss. Der Einsatz von Arbeit für Gewinn kann an Arbeitsplätzen passieren, an denen die Arbeit schwer, giftig, einseitig, physisch anstrengend ist.
Aber auch wenn die Arbeitswelt des 21. Jahrhunderts weitgehend anders aussieht, die meisten Beschäftigten inzwischen nicht mehr in Gruben einfahren, Stahl kochen oder schwere Lasten bewegen, sondern "nur" in Büros sitzen, sich auf Bildschirme konzentrieren oder LKWs lenken, so dass die geforderten Anstrengungen durch Konzentration und allgemeinen "Stress" eher psychischer Natur sind, handelt es sich um den systematischen Verschleiß der menschlichen Physis und Psyche.2
Übrigens: Diese Argumente gelten für die vielen, sich selbstausbeutenden kleinen und manchmal auch gar nicht so kleinen "Selbständigen" genauso.
Auch die "Umwelt" – Luft, Gewässer, Böden usw. – machen zunehmend krank. Dies ist der Fall, weil sie als Rohstofflager der Produktion ausgebeutet und als kostengünstiges Endlager für die Rückstände der Profiterwirtschaftung genutzt und damit vergiftet werden.
Der ständig zunehmende Verkehr einer Arbeitsbevölkerung, die flexibel und mobil sein soll, und einer Produktion just in time sorgt für krank machenden Lärm, schlechte Luft und jede Menge Stress.
Weil das so ist, fällt auch die Freizeit entsprechend aus. Was eigentlich der immer propagierte Zweck des Gelderwerbs sein sollte – das Leben nach eigenen Interessen gestalten und genießen – gerät für die große Mehrheit zu einer Veranstaltung, die von vielen Notwendigkeiten diktiert ist.
Erstens ist alles Mögliche zu erledigen, was "das Leben" neben der Arbeit verlangt (Kinder in Kita und Schule bringen, einkaufen, die Wohnung putzen, Auto in die Inspektion, TÜV, Steuererklärung, sich über Telefonrechnungen streiten, ein Schnäppchen für die Urlaubs-Buchung finden usw.); zweitens aber wirken die Folgen der Arbeit in diese "freie Zeit" massiv hinein.
Man ist kaputt, soll aber noch Sport machen, damit das viele Sitzen kompensiert wird; man ist "gestresst" und kann nicht abschalten, obwohl man dringend Ruhe und Schlaf braucht; man will sich amüsieren, muss aber daran denken, dass es morgen früh losgeht und man fit sein muss.
Der Einsatz von Stoffen aller Art, die just in time lustig, schläfrig oder fit machen sollen, hat hier seine Gründe und steigt mit zunehmender "Belastung" der Gesellschaft – mit entsprechenden Folgen für Physis und Psyche.
Die Freizeit, von der sich alle so viel erwarten, ist insofern weitgehend bestimmt als Funktion: Erholung für die Sphäre der Notwendigkeit – eine Funktion, die sie angesichts aller widersprüchlichen Anforderungen bei aller in Ratgebern ständig gepredigten "Vernunft" meist gar nicht erbringen kann. Und wenn sich einige nicht "vernünftig" verhalten und es "mal krachen lassen", dann rächt auch das sich schon wieder.
Die Konkurrenz um Noten, Berufskarrieren und damit letztlich um Eigentum als Zugriffsmittel auf alles Wichtige und Schöne ist für die Mitglieder dieser Gesellschaft eine größtenteils lebenslange Notwendigkeit mit erheblichen Folgen für ihre psychische Gesundheit.
Was in Schule und Uni beginnt, setzt sich am Arbeitsplatz fort: Alle werden in ihren Leistungen verglichen und vergleichen sich deshalb auch selbst pausenlos mit den anderen. Das nötigt zu Anstrengungen einer besonderen Art.
Erstens zählt nichts für sich, sondern nur als Mittel dafür, sich gegen andere hervorzutun – weshalb keiner weiß, ob das Gelernte bzw. die geleistete Arbeit reichen, denn der eigene Erfolg hängt immer davon ab, wie viel die anderen "bringen" oder "nicht bringen". Ständige Unsicherheit und die Tendenz, sich selbst und diejenigen, die einem unterstellt sind, immer mehr zu fordern, sind Konsequenzen.
Zweitens ist der eigene Zweck nur zu erreichen, wenn man sich dabei gegen andere durchsetzt. Daraus resultieren u.a. Konkurrenzstrategien, die andere schlecht aussehen lassen und aus dem Rennen werfen sollen – Mobbing, Intrigen, Hetze.
Nicht ganz so harte "Charaktere" halten die ewigen Gegensätze und Gemeinheiten nicht aus, ob als Opfer oder als Täter: Die Fälle von Depressionen und Burnout (mittlerweile zweithäufigste Ursache für Arbeitsunfähigkeit) nehmen massiv zu.3