Warum Gesundheit gar nicht unser "teuerstes Gut" ist
Seite 2: Die so genannten Volks- oder Zivilisationskrankheiten
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Die modernen "Volkskrankheiten" kommen vorwiegend dadurch zustande, dass die auf den menschlichen Organismus einwirkenden Belastungen bei Konsum und Arbeit über lange Zeiträume andauern.
Das betrifft die Entstehung einiger Allergien (dauerhafter Kontakt mit allergenen Stoffen), Teile von Diabetes Typ 2 (dauerhaft erhöhter Blutzucker bzw. -fettspiegel, auch infolge von Stress), Bluthochdruck (dauerhafte physische oder psychische Anstrengung, die erhöhte Pumpleistung des Herzens auslöst), Muskel-, Skelett- bzw. Gelenkerkrankungen (u.a. durch anhaltende Überstrapazierung, aber auch durch mangelhafte Ernährung). Diese Krankheitsbilder ergeben sich daraus, dass die schädlichen Belastungen dauerhaft ertragen und ausgehalten werden.
Um das zu erkennen, braucht es nicht einmal ein Studium der Medizin. Aber auch die Wissenschaft weiß um den gesellschaftlichen Charakter der wesentlichen Krankheits-Gründe, wenn sie etwas schräg von "anthropogen" verursachten "Zivilisationskrankheiten" spricht; schräg insofern, als diese Krankheiten nicht den Fortschritten der menschlichen Zivilisation entspringen – wie es da fast philosophisch formuliert wird – sondern dem Zweck und den Wirkungen des Kapitalismus (also einer sehr bestimmten Form von Zivilisation).
Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Krebserkrankungen, chronische Atemwegserkrankungen, Diabetes Typ 2 machen 90 Prozent der Todesfälle und 84 Prozent der "Krankheitslast" in Europa aus – so eine Warnmeldung der WHO.
Zählt man noch Rückenschmerzen, Allergien, Neurodermitis und psychische Störungen hinzu, dann ist schon ein sehr großer Teil der Leiden, die die Leute heute plagen, mittelbar und unmittelbar auf die Krankheitsursache "Kapitalismus" (Produkte, Verkehrswesen, Arbeitswelt, die "Lebensweise" von modernen Konkurrenzsubjekten) zurückzuführen.
Ärzte mit Grenzen
Ebenso klar ist allerdings, dass Ärzte am Grund dieser modernen Volksseuchen nicht rütteln wollen und können: In dieser Ökonomie haben sie mit all ihren Erkenntnissen keinen Einfluss darauf, was wie produziert wird – weder im Hinblick auf die mehr oder weniger schädlichen Produkte, mit denen die Leute sich ernähren, anziehen und wohnen sollen, noch auf den Ablauf des Produktionsprozesses.
All das fällt in die freie Entscheidung der Eigentümer, die damit um ihre Marktanteile und ihren Gewinn kämpfen und deshalb stets die entsprechenden "Fortschritte" ins Werk setzen. Diese Gesetzmäßigkeiten der kapitalistischen Produktion finden selbstverständlich ihren Niederschlag in Körper und Seele des modernen (Arbeits-)Volks – und ebenso selbstverständlich ist in dieser Gesellschaft, dass die behandelnden Ärzte daran nicht rühren.
Vernunft, Aufklärung, Wissenschaft der Medizin – hier stoßen sie unter "den herrschenden Verhältnissen" an klare Grenzen. Offensichtlich gesellschaftliche Ursachen von Krankheitsbildern gelten unter dieser Bedingung als unumstößlich, gewissermaßen natürlich.
Der Arzt, die Ärztin können weder die krankmachenden Lebensmittel aus der Welt schaffen noch ihren Patienten raten, den schädlichen Arbeitsplatz zu verlassen. Also macht er oder sie das unter den gegebenen Umständen Beste daraus, indem sie ihren Patienten dabei helfen, mit all den schädlichen "Voraussetzungen" durch das Leben zu kommen: nicht gesund zwar, sondern "chronisch" krank mit Rückenleiden, Allergien, Rheuma, Neurodermitis, Bluthochdruck, depressiven Phasen usw., aber "immerhin".
Und wenn "die Welt" mit ihrem ganzen Drum und Dran erst einmal als "leider nicht zu ändern" gesetzt ist, dann bleiben aus Sicht der Mediziner natürlich vor allem Ratschläge zu Lebenswandel und Einstellung des Patienten (Alkohol, Rauchen, mehr Sport, überhaupt auf die Gesundheit achten!) das, womit man ihm am besten helfen kann.
Die Anamnese wird zu einer Art Gewissenserforschung, bei der die Krankheitsursachen moralisiert werden und das Eigenverschulden wie die Eigenverantwortung des Patienten in den Vordergrund rückt. Darin, dass Ärzte die bei ihnen ratsuchenden Menschen im Rahmen ihrer Möglichkeiten fit machen für eine Welt, die sie systematisch krank macht – darin besteht insofern ein großer Teil ihrer praktischen Tätigkeit.
Patienten: robustes Verhältnis zur Gesundheit
Im Ziel, möglichst schnell gesund zu werden, um sich wieder "ins Leben" mit seinen Anforderungen und Belastungen stürzen zu können, sind sich die Patienten weitgehend einig mit ihren Docs, Psycho- und Physiotherapeuten oder sonstigen Heilern.
Eine zumindest einigermaßen intakte bzw. wiederhergestellte Gesundheit ist aus ihrer Warte einerseits die wesentliche Voraussetzung für so ziemlich alles, was sie an Interessen und Zielen verfolgen.
In einer kapitalistischen Wirtschaft ist Gesundheit allerdings andererseits noch in einem darüber hinaus gehenden Sinn existenziell wichtig: Wer körperlich oder seelisch nicht einigermaßen fit bzw. stabil ist, ist nicht in der Lage, seinen Arbeitsalltag durchzustehen.
Er und sie muss deshalb auf Dauer die Segel streichen oder wird wegen zu häufiger Fehlzeiten entlassen – laut IG-Metall droht eine "krankheitsbedingte Kündigung", wenn ein Arbeitnehmer drei Jahre lang jeweils mehr als 30 Tage ausfällt – und verliert damit sein Einkommen. Zwar gibt es für die verschiedenen Fälle Lohnersatz-Leistungen4.
Allerdings müssen dafür die gesetzlich geregelten Voraussetzungen vorliegen – was insbesondere bei den inzwischen verbreiteten "prekären" Arbeitsverhältnissen nicht der Fall ist. Und es sind bei allen Varianten Abzüge vom Lohn hinzunehmen, die vom Gesetzgeber vorsorglich eingebaut wurden, um Arbeitnehmer zu motivieren, ihre Arbeit zügig wieder aufzunehmen bzw. sich schnell einen neuen Arbeitsplatz zu suchen.
Das funktioniert in Deutschland so gut, dass das Phänomen des "Präsentismus" beklagt wird: Arbeitnehmer:innen gehen arbeiten, obwohl sie krank sind. Mehr als die Hälfte der Befragten gab in einer 2017 veröffentlichten Studie an, mindestens einmal pro Jahr trotz Krankheit am Arbeitsplatz zu erscheinen, und das durchschnittlich an etwas mehr als sechs Tagen.
Obwohl dieses Verhalten kurzfristig von gelungener Motivation zeugt, bringt es im Fall von Infektionskrankheiten neben der Ansteckung von Kollegen oder Kunden/Patienten mittelfristig noch andere kontraproduktive Folgen hervor. Denn mehr als 70 Prozent der fleißigen Arbeitnehmer:innen erkranken im Laufe des Jahres dann so gravierend, dass sie mehr als zwei Monate ausfallen.
Wenn das schon bei den noch einigermaßen gut abgesicherten "regulären" Arbeitsverhältnissen gilt, ist unschwer zu schlussfolgern, dass all diejenigen, die sich mit prekären bzw. (schein-)selbständigen Jobs durchschlagen, noch erheblich rücksichtsloser mit sich (und anderen) umgehen, wenn sie krank sind.
Und natürlich gilt das auch für den Willen zum Durchhalten im Privaten, wo man einfach nicht ausfallen kann oder will, wenn daran die Kinder mit ihrem Programm, der pflegebedürftige Vater oder auch nur der lange ersehnte Kurzurlaub hängen.
Der weitaus größte Teil des Volks pflegt unter den herrschenden Bedingungen also ein robustes Verhältnis zu seiner Gesundheit. Um mit den ziemlich "alternativlos" gegebenen Notwendigkeiten der eigenen Existenz klarzukommen, werden die Schädigungen von Körper und Psyche, die aus den zahllosen "Ratgebern" bekannt sind (!), praktisch schlicht hingenommen.
Das hat Folgen. Was den lieben langen Tag am Arbeitsplatz, im Großstadtverkehr, bei den Lebensmitteln alles auf Muskeln, Organe und Seele eindrischt, das kann durch ein bisschen gute Luft beim Spaziergang, das Fitness-Center am Feierabend oder ein entspanntes Wochenende beim besten Willen nicht gut gemacht werden.
Die Menschen dieser Gesellschaft sind deshalb längst daran gewöhnt, mit den "üblichen" Malessen zu leben – "muss ja". Sie haben "Rücken", Bluthochdruck und plagen sich mit erworbenen Allergien aller Art herum; Lebensmittelunverträglichkeiten und Neurodermitis breiten sich immer mehr aus.
Mit diesen Krankheiten zu leben, ist eine Aufgabe, die einen beträchtlichen Teil der Lebenszeit beansprucht. Die Betroffenen rennen nicht nur von einem Arzt zum nächsten in der Hoffnung, einen zu finden, der helfen kann; sie sind auch ihre eigenen Versuchskaninchen dafür, verträgliche Nahrung, Medikamente und Therapien zu finden.
Lebensmittelhersteller, Pharmakonzerne, Gastronomie etc. sind dabei mit ihren Produkten natürlich stets zur Stelle, wenn es sich rechnet, aber mit ihren Gratis-Informationen nicht sonderlich hilfreich. Warum nicht? Gehe zurück auf Los!