Krieg in Gaza: Hochproblematische Entgleisungen in Frankreichs Öffentlichkeit
- Krieg in Gaza: Hochproblematische Entgleisungen in Frankreichs Öffentlichkeit
- Unterschiedliche historische Facetten
- Auf einer Seite lesen
Der Nahost-Konflikt als Projektionsfläche: Es gibt grundlegende Unterschiede in der Sicht auf Israel und die Palästinenser links und rechts des Rheins. Wie sie aussehen, (Teil 1).
Unter die hochproblematischen Reaktionen in Frankreich in diesen Tagen fallen etwa die Äußerungen des seit Jahresanfang pensionierten französischen Nationalsportlers Mahiedine Mekhissi-Benabbad (mehrfacher Medaillengewinner im 3.000-Meter-Hindernislauf). Der 37-jährige Hochleistungssportler schrieb am 31. Oktober bei X, früher Twitter: "Adolf Hitler ist ein Chorknabe neben Netanyahu!"
Die Nachricht ist inzwischen gelöscht, der Bürgermeister seiner Geburtsstadt Reims – Arnaud Robinet – bezeichnete ihn als "Schande für unsere Stadt"; Mekhissi-Benabbad entschuldigte sich mittlerweile für seinen "ungeschickten und schlechten Vergleich".
Tatsächlich kann ein solcher Vergleich nur von jemandem kommen, der keine Ahnung darüber hat oder eben nicht haben will, was die Politik Hitlerdeutschlands im von ihm besetzten Polen, in den besetzten Teilen der Sowjetunion und selbstredend in den Vernichtungslagern bedeutete.
Ähnlich wie Mekhissi-Benabbad äußerte sich zuvor der Comedian Guillaume Meurice, er sprach von Netanyahu als einem "Nazi ohne Vorhaut".
Ihm antwortete die liberale Rabbinerin Delphine Horvilleur, unter Benutzung derselben Metapher, sie trete für eine "Beschneidung der Sendezeit" Meurices ein, aber auch für jene "der Amtszeit Netanyahus".
Auf politisch entgegengesetzter Seite rief etwa der Vorsitzende der "Freundschaftsgesellschaft Korsika-Israel", der seit 2015 in Israel lebende französische Konvertit David Antonelli, ebenfalls Entsetzen und Empörung hervor.
"Mir sind die zwei Millionen Einwohner völlig scheißegal"
Er erklärte rundheraus, und auch hier ist zu befürchten, dass er damit nicht nur seine eigene Gemütsregung ausdrückte: "Mir sind die zwei Millionen Einwohner in Gaza völlig scheißegal. Worauf es mir ankommt, das ist die Rache für die 1.300 Israelis", die am 07. Oktober dieses Jahres durch aus dem Gazastreifen eingedrungene Hamas-Kämpfer brutal ermordet wurden: "Die Rache zuerst"
Diese Aussprüche, die kurzzeitig in einer breiten Öffentlichkeit wahrgenommen wurden, jedoch weithin längst wieder vergessen sein dürften, darf man getrost als aktive Befürwortung von erwartbaren Kriegsverbrechen werten.
Hässliche Begleiterscheinungen
Neben mehr oder minder üblen Sprüchen kommt es auch zu anderen hässlichen Begleiterscheinungen der aktuellen Episode des Nahost-Konflikts in Frankreich. An einigen Orten wurden offenbar die von Unbekannten im Rahmen einer Öffentlichkeitskampagne verklebten Porträts von israelischen zivilen Geiseln, die derzeit in Gaza festgehalten werden, gezielt abgerissen.
Ferner wurden in mindestens drei Pariser Arrondissements sowie in den Pariser Vorstädten Saint-Ouen, Saint-Denis und Aubervilliers in den vergangenen Tagen in mehreren Dutzend Fällen mittels einer Schablone blaue Davidsterne, teilweise auf von jüdischen Menschen bewohnte Gebäude, teilweise auf irgendwelche Bauwerke aufgemalt.
Es bleibt allerdings abzuwarten, ob dieser Vorgang tatsächlich eine ideologische, oder nicht doch eher eine psychiatrische Dimension hat; in diesem Zusammenhang wurde mittlerweile ein aus Moldau stammendes, sich "illegal" in Frankreich aufhaltendes Ehepaar festgenommen – bei der Frau wurde eine entsprechende Schablone aufgefunden – und in Abschiebehaft genommen, was leider einen Strafprozess mit entsprechender Aufklärung der Hintergründe verhindern dürfte.
[Nachtrag: Dazu gibt es möglicherweise, wie später berichtet wurde, einen Anstifter oder "Hintermann" auf russischem Territorium; das führt dann zur Spekulation, ob vielleicht sogenannte Putin-Trolle hinter der Aktion stecken und dafür vielleicht auch Verrückte einspannten? Um ein bisschen politisches Chaos in einem der westlichen Hauptländer anzurühren oder auch zu suggerieren?]
850 Übergriffe gegen jüdische Menschen
Unabhängig davon, ob die Sternsprühereien, die Tage lang in den Medien hohe Aufmerksamkeit hervorriefen, nicht hauptsächlich das Werk von Verrückten bildeten, ist unbestritten, dass es zu einer starken Zunahme von jedenfalls bislang verbalen Übergriffen und verbaler Gewalt gegen jüdische Menschen kam. Dazu wurden in nur drei Wochen insgesamt 850 "Zwischenfälle" gemeldet.
Dazu wurden 425 Tatverdächtige ermittelt; 125 von ihnen weisen laut dem Innenministerium eine ausländische Staatsangehörigkeit auf. Innenminister Gérald Darmanin ordnete dazu einen Entzug von Aufenthaltstiteln und systematische Abschiebung an. (Auch wenn Strafverfahren wohl vorzuziehen wären.)
Innenminister Darmanin scheitert mit brachialem Vorgehen
Wesentlich fragwürdiger ist, dass Darmanin pro-palästinensische oder als solche eingestufte Kundgebungen und Demonstrationen – auch solche, die gewiss nicht von Hamas-Anhängern angemeldet wurden – pauschal einem Generalverbot unterzog, was in EU-Staaten einmalig ist. (Wobei ein Zulassen von Protesten etwa gegen Luftangriffe im Gazastreifen ja keinesfalls ausschließt, strafrechtliche Verfolgungsschritte etwa bei festgestellten, klar judenfeindlichen Äußerungen oder Symbolen einzuleiten.)
Zwei Mal scheiterte Darmanin allerdings mit einem derart brachialen Vorgehen bei der Justiz, was ihm als "Dämpfer" ausgelegt wurde.
Es hätte auch als gefährlicher Präzedenzfall für den Umgang mit dem Versammlungsrecht dienen können.
Unterschiedliche Projektionsflächen
Die Vorgänge vor Ort – in Israel und in den palästinensischen Gebieten selbst – werden in Frankreich und in Deutschland grundlegend auf zwei grundunterschiedlichen Projektionsflächen wahrgenommen.
Westlich des Rheins handelt es sich dabei in aller Regel um die jüngere Vergangenheit des Landes als Kolonialmacht, die noch nicht völlig zu Ende ist (denn zwei "Überseegebiete", Französisch-Polynesien und Neukaledonien, bzw. relevante Bevölkerungsteile in ihnen wollen derzeit noch ihre Unabhängigkeit erreichen).
Die Einen sind stolz auf diese Kolonialgeschichte, die Anderen betrachten sie in erster Linie als eine Abfolge von Verbrechen und Unterdrückung.
In Deutschland dagegen wird die Geschichte und Gegenwart Israels und seiner jüdischen Einwohner/innen vor allem auf dem Hintergrund des nazideutschen Menschheitsverbrechens, der Vernichtungspolitik gegenüber dem Judentum Europas, aber auch Sinti und Roma und "slawischen Untermenschen"), also der Shoah, betrachtet.
Liegt diese unterschiedliche Wahrnehmung nun an deutschen und/oder französischen geistigen Beschränkungen? Nein, mitnichten.
Zunächst liegt sie in der Natur der Sache selbst begründet. Denn historische Realitäten sind oft komplex und weisen mehrere Facetten auf; die der jüdischen Besiedlung des britischen Mandatsgebiets Palästina und heutigen Israel (sowie die in jüngerer Zeit zunehmende des besetzten Westjordanlands) erst recht.
Denn von Anfang an wies das Projekt der offiziell 1897 begründeten zionistischen Bewegung, also die Schaffung einer "jüdischen Heimstatt" in der damals noch osmanischen Provinz Palästina – das britische Mandat wurde nach dem Ersten Weltkrieg und der Implosion des Osmanischen Reichs übernommen -, eben auch mehrere Facetten auf.