Krieg in Gaza: Hochproblematische Entgleisungen in Frankreichs Öffentlichkeit

Seite 2: Unterschiedliche historische Facetten

Es war im Kern darauf ausgerichtet, einen Schutz- und Fluchtraum für jüdische Menschen zu schaffen, die aus Europa fortgehen würden, weil der "moderne" Antisemitismus ("modern", weil er seit den 1870er-Jahren nicht mehr auf religiöser, sondern so genannt "rassischer" Grundlage argumentierte), der mit der Dreyfus-Affäre in Frankreich ab 1894 auf einen ersten Höhepunkt zusteuerte, bedrohlich wurde.

Zugleich wirkten die Anführer der Bewegung alsbald im damals in Europa in breiten Kreisen grassierenden kolonialen Geist. So ging es in ihren Augen darum, einen "Schutzwall gegen Asien" im sogenannten Vorderen Orient zu bilden; dazu hieß es: "Wir würden den Vorpostendienst der Kultur gegen die Barbarei besorgen."

Dazu dienten sie sich, was in ihren Augen "pragmatisch" war, der damals stärksten Kolonialmacht an, also der britischen Krone. Doch da diese in den 1940er-Jahren – vor der Gründung Israels - dazu überging, lieber auf arabische Verbündete (nicht nur im damaligen britischen Mandatsgebiet Irak) Rücksicht nehmen zu wollen und deswegen bremste, ersetzten die USA das Vereinigte Königreich in dieser Rolle.

Dass die Begründer die "jüdische Heimstätte" im historischen Palästina ansiedeln wollten, weil dort seit der Vertreibung von Juden durch das Römische Reich im ersten Jahrhundert noch Heiligtümer hinterlassen blieben, war wiederum ein Zugeständnis an konservative religiöse Kreise.

Bei den ersten Überlegungen zur Staatsgründung war es u.a. um das eher menschenleere Patagonien in Südamerika oder um Uganda, das nicht so menschenleer war, gegangen.

Diese Pläne warfen früh die Frage auf, wie man mit den bereits im für das Gründungsprojekt vorgesehenen Raum lebenden Menschen umgehen – und wie diese reagieren würde. Dazu gab es immer unterschiedliche Positionen, von der Kooperation bis zur Unterjochung und Vertreibung. In der arabisch-palästinensischen Gesellschaft wiederum gab es mindestens zwei Reaktionsstränge.

Der Mufti und Hitler

Die rechte und wenig menschenfreundliche Position lautete, die einwandernden Juden sollten doch einfach wegbleiben. Verkörpert wurde sie lange Jahre hindurch durch den "Mufti von Jerusalem", Hadsch Amin Al-Husseini, der in den 1940er-Jahre zum Kollaborateur Hitlers wurde.

Es stimmt mitnichten, wie Benjamin Netanjahu 2015 vor der Weltöffentlichkeit behauptete, dieser habe Hitler erst zum Holocaust gedrängt und sei ursächlich für ihn geworden.

Überliefert vom Zusammentreffen zwischen dem Mufti und Hitler im November 1941 ist vielmehr, der Mufti habe erklärt, kein Problem mit "den Juden" insgesamt zu haben, sondern mit der jüdischen Einwanderung in Palästina; Hitler habe darauf erwidert, die Araber seien "sentimental", er und seine Leute hätten hingegen eine "wissenschaftliche" Lesart des "Problems".

Erwiesene Tatsache ist aber auch, dass der Mufti danach im nazideutschen Herrschaftsgebiet in Europa blieb, ab 1943 explizit über den Holocaust informiert war und dennoch ungebrochen mit der verbrecherischen Kollaboration fortfuhr.

Der Mufti war ein Feudalherr, der vor allem befürchtete, im Falle einer Modernisierung der Sozialbeziehungen im damaligen Palästina durch die Konfrontation mit jüdischer Einwanderung aus dem materiell höher entwickelten Europa werde seine gesellschaftliche Position untergraben.

Die andere Position

Es gab jedoch auch eine völlig andere, stark in der palästinensischen Gesellschaft verankerte Position. Getragen wurde diese durch die, in den 1940er-Jahren erstarkte Gewerkschaftsbewegung, die die erste gesellschaftliche Massenbewegung im damaligen Mandatsgebiet darstellte und im April 1946 und Oktober 1947 zwei Großveranstaltungen unter dem Titel Arab Workers‘ Congress abhielt.

Dort setzte man sich für einen gemeinsamen jüdisch-arabischen Staat, der schnell von Großbritannien unabhängig werden sollte, und gleiche Rechte für alle Einwohner ein – aber gegen Teilungspläne für das Territorium.

Diese Position wurde im damaligen jüdischen Gemeinwesen im Mandatsgebiet Palästina, dem Jishuw, besonders durch die kommunistischen Kräfte geteilt, jedoch durch die politischen Anführer des zionistischen Projekts verworfen.

Diese forcierten die Aufteilung des Territoriums und konnten (auch dank eines der vielen Kurswechsel der damaligen UdSSR) diese auf ein Votum der Vereinten Nationen von 1947 stützen. Alternativlos war diese Teilung, die auf arabisch-palästinensischer Seite rundheraus abgelehnt wurde - ohne dass weite Teile der palästinensischen Gesellschaft deswegen eine Koexistenz verworfen hätten – also nie.

Die PLO

Die Option eines gemischten oder "binationalen" Staats war später die vorherrschende Position in der, ab 1960er-Jahren zeitweilig durch Vertreter eines (stark vulgarisierten) Marxismus dominierten, palästinensischen Nationalbewegung in Gestalt der PLO.

Letztere gab diese Haltung jedoch offiziell 1988 auf der Tagung des "palästinensischen Nationalrats" in Algier zugunsten einer Zwei-Staaten-Lösung auf und ging dann ab 1993 im Versuch des Aufbaus eines zweiten Staates neben Israel, in Gestalt der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA), auf.

Dadurch lief diese Bewegung sich historisch tot, denn das Projekt scheiterte, was wohl nicht zwangsläufig angelegt war.

Israelische Rechte gegen Rabin

Es scheiterte aus verschiedenen konkrete Gründen, in erster Linie jedoch an der Rechten und extremen Rechten in Israel: Diese ermordete (1995) den Premierminister Jitzchak Rabin, der federführend an dem 1993 in Oslo vereinbarten Aufbau einer Zwei-Staaten-Lösung beteiligt war, was durch einen Teil der israelischen Gesellschaft aufrichtig unterstützt wurde.

Voraus ging eine Hasskampagne mit rechten Massendemonstrationen, auf denen Rabin unter anderem in SS-Uniform portraitiert und als Vollstrecker einer "Endlösung" des Judentums bezeichnet wurde – so weit zur Aussagekraft historischer Parallelen in der Israel-Palästina-Debatte … !

An Rabins Stelle wurde 1996 Netanyahu Ministerpräsident und forcierte den Siedlungsbau im Westjordanland, der die Zwei-Staaten-Lösung dauerhaft hintertrieb. Voraus gingen auch ein Massenmord an dreißig betenden Palästinensern durch den rechtsradikalen Siedler Baruch Goldstein (Februar 1994) in Hebron, und eine alsbald darauf antwortende Kampagne von Selbstmordattentaten palästinensischer Islamisten auch gegen israelische Zivilisten.

Die PLO lief im Laufe der Jahre in die Sackgasse, da sie in der Folge mit dem gescheiterten Projekt des Aufbaus der PA identifiziert wurde. Dies schuf Raum für den Aufstieg der offiziell 1987 gegründeten Hamas zur Massenbewegung. Diese war von Anfang an, ideologisch reaktionär, auf eine Rückkehr zu einer vermeintlichen "Goldenen Zeit" des Islam und gegen Koexistenzpläne in der einen oder anderen Form ausgerichtet.

Was aber kam von diesen unterschiedlichen, und unterschiedlich zu bewertenden, Vorgängen in der französischen Gesellschaft an … und was in der deutschen?

Morgen in Teil 2: Wahrnehmungsmuster in Frankreich und der Bundesrepublik