Kriegsfolgen: Warum so viel von Putin und so wenig vom Kapitalismus die Rede ist

Das System erneuert sich durch Krieg und Krise: Modulare Kampfausstattung "Infanterist der Zukunft – Erweitertes System" (Gladius). Bild:Rheinmetall

Das Wirtschaftssystem produziert Krisen – die Großmachtkonkurrenz führt zu Kriegen. Warum die moralische Verurteilung einzelner Staaten diesen Teufelskreis nicht durchbrechen kann.

Bei der gesamten Debatte um das Heizungsgesetz war die in Deutschland vorangetriebene nationale Formierung beinahe in den Hintergrund geraten. Gemeinst ist die Nationale Sicherheitsstrategie, welche die Bundesregierung mit großem Brimborium vorgestellt hat. Schon der Gang der Regierungsspitze vom Bundeskanzleramt zum Bundespresseamt am 14. Juni war Teil dieser Inszenierung – und fast alle Medien spielten mit, indem sie völlig unkritisch dieses Schauspiel ablichteten, ohne die Inhalte zu hinterfragen.

Schließlich sind sich die meisten Medien einig über die Narrative, die Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) und sein Kabinett hier verbreiteten: Deutschland soll "wehrhaft, resilient und nachhaltig" werden.

Bei dieser Gelegenheit wird deutlich, dass auch die sogenannte ökologische Modernisierung, die mit dem Heizungsgesetz vorangetrieben werden soll, Teil einer Neuformierung der Deutsch-EU ist. Dafür wird eine Regierung gebraucht, in der mit FDP und den Grünen die Repräsentanten zweier wichtiger Kapitalfraktionen vertreten sind.

Die haben im Detail durchaus unterschiedliche Interessen, daher auch das wochenlange Hickhack um das Heizungsgesetz. Dass sie aber bei der nationalen Formierung Deutschlands weitgehend einig sind, zeigte eben das Regierungsschauspiel vom 14. Juni.

Abhören und Ausspähen bitte nur unter Freunden

Bundesaußenministerin Annalena Baerbock (Grüne) warnte vor Angriffen aus dem Cyberraum und befasste sich mit der Abwehr von Desinformation, die natürlich aus ihrer Sicht nur aus Russland und China kommen kann. So sagte die Ministerin explizit, dass niemand in Deutschland von China abgehört werden darf. Damit hat sie implizit gesagt, dass es kein Problem wäre, wenn weiterhin befreundete Geheimdienste oder auch die deutschen Staatsapparate das Gleiche tun.

Dass auch die proukrainische Propaganda mit Fake-News und Trollfabriken arbeitet, wird dabei großzügig übersehen. Darauf macht auch Thomas Fazi in dem Buch "Kriegsfolgen", das am Mittwoch im Berliner Sprechsaal vorgestellt wurde, aufmerksam. Herausgegeben wurde der Sammelband von Hannes Hofbauer und Stefan Kraft. 17 Autorinnen und Autoren beschreiben darin, "wie der Kampf um die Ukraine die Welt" verändert, wie es im Untertitel heißt. Zu den Autoren gehören der langjährige Attac-Aktivist Peter Wahl, der Politikwissenschaftler Eberhard Crome, der Linken-Bundestagsabgeordnete Andrej Hunko und der Theologe Eugen Drewermann.

Autoritäre Herrschaft in Russland und der Ukraine

Mit Olga Baysha aus Charkiw kommt auch eine ukrainische Stimme zu Wort, die nicht in den Chor derer einstimmt, die dort den Kampf zwischen westlicher Freiheit und russischer Tyrannei beschwören. Baysha beschreibt den Regierungsstil des ukrainischen Präsidenten Selenskyj als "autoritären Populismus": Oppositionelle Politiker würden vom Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrat ihrer Rechte beraubt, Journalisten verfolgt und zum Schweigen gebracht.

Baysha geht mit Dmitry Dzhangirov und Yuri Thachev auf zwei ukrainische Journalisten ein, die bereits vor dem russischen Einmarsch in die Ukraine Opfer der Repression in dem Land geworden sind. In einer Fußnote erwähnt die Autorin weitere ukrainische Oppositionelle wie den christlichen Pazifisten Ruslan Kotsaba, die mittlerweile im Exil leben.

Solche Tatsachen werden heute von bedingungslosen Verteidigern der ukrainischen Regierung als russische Propaganda abgetan. Dabei sollten sie genau in ihren Rechten als Oppositionelle verteidigt werden, ohne dass wir unbedingt ihren Inhalten zustimmen, wie das mit Opfern von Menschenrechtsverletzungen in Russland geschieht. Der in Moskau lebende russische Soziologe Boris Kagarlitsky zeigt in seinen Beitrag für das Buch sehr gut auf, wie das Regime in Russland immer repressiver wurde.

Während es vor einigen Jahren noch gewisse Nischen für eine Opposition gab, solange sie das System nicht wirklich erschüttern konnte, wird heute jede Form von Widerspruch mit Repression beantwortet. Das ist aber nach Kagarlitsky kein Zeichen der Stärke der Putin-Administration, sondern ihrer Schwäche.

Das System Putin sei nicht reformierbar, schreibt der Soziologe, der schon in der Sowjetunion als linker Kritiker inhaftiert wurde. Für Kagarlitsky ist ein Abgang Putins nur noch eine Frage der Zeit, die größte Gefahr sieht er in einem Putinismus ohne Putin, das heißt die Fortsetzung eines autoritären kapitalistischen Systems mit anderen Politikern.

Wann begann der Krieg in der Ukraine?

In dem Band wird auch die innenpolitische Debatte in Deutschland nach der von Bundeskanzler Scholz ausgerufenen "Zeitenwende" kritisch analysiert. Das beginnt schon bei Frage, wann der Krieg in der Ukraine begann. Wirklich erst am 24. Februar 2022, als russische Truppen die ukrainischen Grenzen überschritten? Oder vielleicht doch schon acht Jahre vorher diese Frage wirft Herausgeber Hannes Hofbauer auf. "Als am 2. Mai 2014 Kampfhubschrauber der ukrainischen Armee mit ihren Luftangriffen auf Slowjansk, einer 100.000-Einwohner-Stadt im Bezirk Donezk begannen, war in keinem deutschsprachigen Medium von Krieg die Rede", schreibt Hofbauer.

Er erinnert auch den Brand im Gewerkschaftshaus von Odessa, für den ukrainische Nationalisten verantwortlich waren und bei dem am 2. Mai 2014 über 42 Menschen ums Leben kamen. Am 9.Mai 2014 sprengten ukrainische Panzer in Mariupol eine Gedenkfeier, die an die Zerschlagung des Nationalsozialismus erinnerte.

Schon damals waren bei den Maidan-Protesten Kräfte dabei, die sich positiv auf den Faschismus und Nationalsozialismus bezogen. Das wurde damals auch in deutschen Zeitungen berichtet. Wenn aber nach dem russischen Einmarsch an solche historischen Fakten erinnert wird, gilt das auf einmal als russische Propaganda.

Und wo bleibt die linke Perspektive?

Die Texte des Buches sind tatsächlich ein Stück Gegenöffentlichkeit in einer Deutsch-EU, die sich auch im Ukraine-Konflikt in einer innerkapitalistischen Auseinandersetzung befindet; und dabei sowohl außen- als auch innenpolitisch aufrüstet.

Es ist begrüßenswert, dass die Ideologie vom ukrainischen Freiheitskampf gegen die russische Autokratie in vielen Texten im Buch infrage gestellt wird. Manchmal hätte man sich aber mehr Bezüge auf linke Theorien und Debatten gewünscht

Das fängt gleich beim ersten Aufsatz an, in dem sich Andrea Komlosy mit der ukrainischen Staatsbildung befasst und dabei den Eindruck erweckt, als wäre die Oktoberrevolution vor allem das Werk der deutschen Generalität, die führende Bolschewiki 1917 im verplombten Zug aus ihrem Schweizer Exil nach Russland transportierte.

Vergessen wird, dass die Revolution in Russland von organisierten Arbeiterinnen und Arbeitern getragen wurde. Nach der Oktoberrevolution riefen die Bolschewiki Arbeiter und Soldaten aller kriegsführenden Staaten auf, ihre Gewehre umzudrehen und die Revolution zu machen.

Den Diktatfrieden der deutschen Obersten Heeresleitung akzeptierte sie keineswegs ohne Widerstand. Der sowjetische Verhandlungsführer Leo Trotzki verließ die Konferenz mit den Vertretern des deutschen Regimes, ohne eine Vereinbarung unterzeichnet zu haben. Erst als dann die deutschen Militärs auf das Gebiet Russlands vorrückten, war die Leitung der Bolschewiki zur Unterzeichnung des Diktatfriedens von Brest Litowsk bereit, gegen heftigen Widerstand auch großer Teile der bolschewistischen Basis und der linken Sozialrevolutionäre.

Der Soziologe Alexander Rabinowitch hat in seinen detailreichen Büchern über die Oktoberrevolution und das erste Jahr danach, die im Mehring-Verlag erschienen sind, die Konflikte um den Vertrag von Brest Litowsk auch unter den Bolschewiki gut nachgezeichnet. Darauf muss an dieser Stelle eingegangen werden, weil es bedauerlich ist, wenn durch Verkürzungen falsche Geschichtsbilder entstehen.

Über die Krisen im Spätkapitalismus

Thomas Fazi beschreibt im aktuellen Sammelband eindrücklich, wie immer neue Krisen zum Herrschaftsinstrument der Regierungen in aller Welt gehören. Dabei wird oft zu wenig herausgearbeitet, dass Krisen eben keine Verschwörungen sind, sondern zum Kapitalismus gehören.

Schon immer gibt es in der linken Debatte die falsche Vorstellung, dass Krisen den Kapitalismus bedrohen. Dabei sind sie zunächst ein Instrument der Erneuerung des Kapitalismus. Es ist schade, dass der Autor sich nicht stärker auf die linke Debatte über die Krisen im Kapitalismus bezogen hat, wie sie beispielsweise von Robert Brenner und anderen, meist dissidenten Kommunisten und Sozialisten entwickelt wurde.

Gerade, weil diese dissidenten linken Theorie nur wenigen bekannt sind, haben es auch in Protestbewegungen irrationalistische Strömungen leicht. Dazu gehören auch Verschwörungserzählungen. Dem sollten linke Autorinnen und Autoren entgegentreten, indem sie solche linken Theorien wieder bekannt machen.

In einem Nebensatz bei Peter Wahl findet man den hilfreichen Hinweis, dass linke Imperialismus-Theoretiker wie Hilferding. Lenin und Luxemburg "den Fokus auf die systematischen Ursachen des Krieges, auf die Expansionsdynamik der kapitalistischen Akkumulation und nicht auf die moralische Verurteilung einzelner Länder" richteten.

Ein solches kapitalismuskritisches Denken ist heute nur noch in Schwundstufen vorhanden – das ist auch der Grund, warum in der aktuellen Debatte um den Ukraine-Konflikt so wenig vom Kapitalismus und so viel von Putin die Rede ist.