Kritik einer Politik am Rande des Abgrunds: Ukraine-Frieden durch Diplomatie ist möglich
Seite 2: Der Ukraine-Krieg und seine Vorgeschichte
Meine weiteren Ausführungen möchte ich mit den Worten der großen Schriftstellerin Christa Wolf aus ihrer 1983 erschienenen Erzählung "Kassandra" über den Trojanischen Krieg beginnen:
Wann der Krieg beginnt, das kann man wissen, aber wann beginnt der Vorkrieg? Falls es da Regeln gäbe, müsste man sie weitersagen. In Ton, in Stein eingegraben, überliefern. Was stünde da? Da stünde, unter anderen Sätzen: Lasst euch nicht von den Eigenen täuschen.
Christa Wolf
Ich bin seit Anfang der 1980er-Jahre Mitglied der IPPNW, der größten berufsbezogenen Friedensorganisation in Deutschland. Damals – während der Auseinandersetzungen um die Stationierung von atomaren Mittelstreckenraketen in Deutschland- haben wir IPPNW-Mitglieder, wie viele hunderttausend andere, auf den Straßen demonstriert, in weißen Kitteln und mit Plakaten, auf denen zu lesen war: "Wir werden Euch nicht helfen können."
Diese Plakate bezogen sich auf die damals immer bedrohlicher werdende Atomkriegsgefahr zwischen der Sowjetunion und der Nato in Europa.
Nach der Beendigung des Kalten Krieges 1991 habe ich mir nicht mehr vorstellen können, dass während meiner Lebenszeit noch einmal eine so bedrohliche politische Situation entstehen könnte, wie ich sie in diesen 1980er-Jahren und davor schon in der Kuba-Krise 1962 persönlich erlebt habe.
Aber jetzt hat sich mit der Ukraine-Krise, die seit dem gewaltsamen Maidan-Umsturz in Kiew 2014 zu einem Bürgerkrieg im Donbass mit ca. 14.000 Toten weiter eskaliert war, und dem Beginn des Ukraine-Krieges am 24. Februar 2022 wieder eine höchst gefährliche Situation für uns alle entwickelt, die wahrscheinlich noch bedrohlicher ist als die Krisen vor 40 oder 60 Jahren.
Kritik der herrschenden Erzählung
Da mich diese bedrohliche Situation mit großer Sorge erfüllt, habe ich mich in einer Reihe von aufklärenden Artikeln über die Vorgeschichte und die Ursprünge des Ukraine-Kriegs mit den Ansichten der genannten US-Wissenschaftler und weiterer Experten beschäftigt und mich kritisch mit der herrschenden Erzählung über diesen Krieg auseinandergesetzt, dem wir Tag für Tag in unseren Leitmedien ausgesetzt sind.
John Mearsheimer
In seiner letzten umfangreichen Veröffentlichung zum Ukraine-Krieg vom Juni 2023, die ich ins Deutsche übertragen habe, stellt Mearsheimer in seinem Fazit fest:
Die gängige Meinung über die Ursprünge des Krieges ist, dass Putin am 24. Februar 2022 einen unprovozierten Angriff startete, der durch seinen großen Plan motiviert war, ein größeres Russland zu schaffen. Die Ukraine, so heißt es, war das erste Land, das er erobern und annektieren will, aber wird nicht das letzte sein.
Wie ich bereits mehrfach gesagt habe, gibt es keine Beweise, die diese Argumentation stützen, und es gibt sogar starke Hinweise, die dieser Sichtweise direkt widersprechen.
Es steht außer Frage, dass Russland in die Ukraine einmarschiert ist, aber die letztendliche Ursache des Krieges war die Entscheidung des Westens – und hier sprechen wir hauptsächlich von den Vereinigten Staaten –, die Ukraine zu einem westlichen Bollwerk an der Grenze zu Russland zu machen.
Das Schlüsselelement dieser Strategie war der Plan, die Ukraine in die Nato aufzunehmen, ein Schritt, den nicht nur Putin, sondern das gesamte russische außenpolitische Establishment als existenzielle Bedrohung ansieht, die beseitigt werden muss.
Es wird oft vergessen, dass zahlreiche amerikanische und europäische Politiker und Strategen von Anfang an gegen die Nato-Erweiterung waren, weil sie verstanden, dass die Russen sie als Bedrohung ansehen würden und diese Politik schließlich zu einer Katastrophe führen würde.
Auf dem Nato-Gipfel in Bukarest im April 2008 stellten sich sowohl der französische Präsident Nicolas Sarkozy als auch die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel gegen den Plan von Präsident George W. Bush, die Ukraine in das Bündnis aufzunehmen. Merkel sagte später, ihre Ablehnung beruhe auf ihrer Überzeugung, dass Putin dies als "Kriegserklärung" interpretieren würde.
Natürlich haben die Gegner der Nato-Erweiterung recht gehabt, aber sie verloren den Kampf und die Nato dehnte sich schrittweise nach Osten aus, was die Russen schließlich dazu veranlasste, einen Präventivkrieg zu beginnen.
Hätten die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten nicht im April 2008 beim Nato-Gipfel in Bukarest damit begonnen, die Ukraine in die Nato aufzunehmen oder wären sie bereit gewesen, Moskaus Sicherheitsbedenken nach dem Ausbruch der Ukraine-Krise im Februar 2014 Rechnung zu tragen, gäbe es heute wahrscheinlich keinen Krieg in der Ukraine und die Grenzen der Ukraine sähen so aus wie bei der Unabhängigkeit 1991.
Der Westen hat einen kolossalen Fehler gemacht, für den er und viele andere noch lange einen hohen Preis werden zahlen müssen.
John Mearsheimer
Jeffrey Sachs
Auch Sachs hat zu diesem Thema in der letzten Zeit häufig Stellung bezogen, so etwa in einem aufschlussreichen Artikel mit dem Titel "The war in Ukraine was provoked" (deutsch: Der Krieg in der Ukraine war provoziert"), den ich ebenfalls ins Deutsche übertragen habe. Dort stellt er fest:
Tatsächlich wurde der Krieg von den USA auf eine Weise provoziert, dass führende US-Diplomaten diesen Krieg jahrzehntelang im Vorfeld des 24. Februars 2022 erwartet hatten, was bedeutet, dass der Krieg hätte vermieden werden können und nun auch durch Verhandlungen beendet werden sollte.
Zu erkennen, dass der Krieg provoziert wurde, hilft uns zu verstehen, wie wir ihn stoppen können. Das rechtfertigt die russische Invasion nicht. Ein weitaus besserer Ansatz für Russland wäre es vielleicht gewesen, die Diplomatie mit Europa und der nicht-westlichen Welt zu intensivieren, um den US-Militarismus und -Unilateralismus offenzulegen und sich ihm entgegenzustellen.
Tatsächlich stößt das unerbittliche Bestreben der USA, die NATO zu erweitern, auf der ganzen Welt auf breite Ablehnung, sodass eine russische Diplomatie mit dem Ziel, die NATO-Erweiterung zu verhindern, möglicherweise effektiver gewesen wäre, als einen Krieg zu beginnen.
Zwei Hauptprovokationen
Das Biden-Team verwendet das Wort "unprovoziert" unaufhörlich, zuletzt in Bidens großer Rede zum ersten Jahrestag des Krieges, in einer jüngsten Nato-Erklärung und in der jüngsten Abschlusserklärung des G-7-Treffens.
Biden-freundliche Mainstream-Medien plappern das Weiße Haus einfach nach. Die New York Times ist die Hauptschuldige und beschrieb die Invasion Russlands nicht weniger als 26-mal als "unprovoziert", und zwar in fünf Leitartikeln, 14 Meinungskolumnen von NYT-Autoren und sieben Gastkommentaren.
Es gab in der Tat zwei Hauptprovokationen der USA.
Die Erste war die Absicht der USA, die Nato auf die Ukraine und Georgien auszudehnen, sodass Russland in der Schwarzmeerregion von Nato-Ländern (Ukraine, Rumänien, Bulgarien, Türkei und Georgien) vollständig umgeben ist.
Die Zweite war die Rolle der USA bei der Errichtung einer russlandfeindlichen Regierung in der Ukraine durch den gewaltsamen Sturz des prorussischen Präsidenten Viktor Janukowytsch im Februar 2014.
Deshalb begann der Krieg in der Ukraine mit dem Sturz Janukowytschs vor neun Jahren im Jahre 2014 und nicht erst im Februar 2022, wie uns die US-Regierung, die Nato und die Staats- und Regierungschefs der G7 glauben machen wollen.
Biden und sein außenpolitisches Team weigern sich, über diese Wurzeln des Krieges zu sprechen. Diese anzuerkennen, würde die Position der US-Regierung in dreierlei Hinsicht untergraben.
Erstens würde die Diskussion darüber aufzeigen, wie der Krieg hätte vermieden oder vorzeitig beendet werden können, was der Ukraine ihre derzeitigen Verwüstungen und den USA bisher mehr als 100 Milliarden US-Dollar an Ausgaben erspart hätte.
Zweitens würde es Bidens persönliche Rolle im Krieg als Teilnehmer am Sturz von Janukowytsch und davor als überzeugter Unterstützer des militärisch-industriellen Komplexes und sehr früher Befürworter der Nato-Erweiterung aufdecken.
Und drittens würde es Biden an den Verhandlungstisch zwingen und die weiter anhaltenden Bemühungen der US-Regierung für eine Nato-Erweiterung untergraben.
Aus den Archiven geht unwiderlegbar hervor, dass die US-amerikanische und die deutsche Regierung dem sowjetischen Präsidenten Michail Gorbatschow wiederholt versprochen haben, dass sich die Nato bei der Auflösung des Militärbündnisses des Warschauer Paktes durch die Sowjetunion nicht "einen Zentimeter nach Osten" bewegen würde.
Dennoch begannen die US-Planungen für die Nato-Erweiterung bereits Anfang der 1990er-Jahre, lange bevor Wladimir Putin Russlands Präsident geworden war.
Jeffrey Sachs
Sachs sagt dann weiter gegen Ende seines schon genannten längeren Artikels:
Während die Biden-Regierung erklärt, die russische Invasion sei unprovoziert gewesen, verfolgte Russland 2021 diplomatische Schritte, um einen Krieg zu vermeiden. Biden lehnte jedoch die Diplomatie ab und bestand darauf, dass Russland in der Frage der Nato-Erweiterung keinerlei Mitspracherecht habe.
Und auch im März 2022 forcierte Russland die Diplomatie, während das Biden-Team erneut ein diplomatisches Ende des Krieges blockierte.
Wenn man zur Kenntnis nimmt, dass die Frage der Nato-Erweiterung im Mittelpunkt dieses Krieges steht, versteht man, warum die Aufrüstung mit immer mehr US-Waffen diesen Krieg nicht beenden wird.
Russland wird bei Bedarf eskalieren, um eine Nato-Erweiterung um die Ukraine zu verhindern. Der Schlüssel zum Frieden in der Ukraine liegt deshalb in Verhandlungen auf der Grundlage der Neutralität der Ukraine und der Nichterweiterung der Nato.
Um die Wahrheit über die Ursachen des Krieges zu erkennen, muss man die Vorgeschichte und Hintergründe des Krieges in der Ukraine zur Kenntnis nehmen. Das ist auch die Voraussetzung dafür, dass auf diplomatischem Wege ein Friedensabkommen geschlossen werden kann, das letztlich auf Kompromissen beider Seiten beruht.
Jeffrey Sachs