Kritik einer Politik am Rande des Abgrunds: Ukraine-Frieden durch Diplomatie ist möglich
Analyse der Vorgeschichte und der Ursachen des Ukraine-Krieges. Und die Warnung eines US-Experten, wohin der Krieg führen kann. Ein Essay. (Teil 1)
Am 1. September 1939 überfiel Nazi-Deutschland Polen. In Erinnerung an diesen verhängnisvollen Schritt, der den Zweiten Weltkrieg einläutete, wurde der 1. September in Deutschland zum Weltfriedenstag bzw. Antikriegstag, zunächst in der damaligen DDR und wenig später auch in der alten Bundesrepublik.
Der vorliegende Artikel in zwei Teilen ist eine gekürzte Fassung eines Vortrags, der von einem Zitat aus einem Artikel der US-Zeitschrift Life aus dem Jahre 1952 ausging, in dem die ersten von den US-Behörden unzensierten Bilder der Opfer von Hiroshima und Nagasaki gezeigt wurden1:
Die Liebe zum Frieden basiert auf dem Wissen über den Terror des Krieges.
"Life" vom 29.09.1952
Vorrede
Als Arzt und langjähriges Mitglied der IPPNW, das ist die Abkürzung für die berufsbezogene Friedensorganisation "Internationale Ärztinnen und Ärzte für die Verhütung des Atomkriegs und für soziale Verantwortung", die 1985 den Friedensnobelpreis erhalten hat, bin ich entsetzt und besorgt über den schrecklichen Krieg in der Ukraine.
Lesen Sie hier Teil 2:
Ukraine-Krieg: Warum wir einen "Aufstand für den Frieden" brauchen
Ein Grund dafür ist, dass die weitere Eskalation dieses Krieges auch unser aller Leben hier in Deutschland bedroht. Der Krieg könnte sich zu einem 3. Weltkrieg ausweiten, bei dem auch Atomwaffen zum Einsatz kommen. Seit Beginn des Ukraine-Krieges besteht diese Gefahr wieder ganz real, wird von Tag zu Tag größer und das sollte uns alle zutiefst beunruhigen.
Ich bin mitten im Zweiten Weltkrieg geboren, bin seit vielen Jahrzehnten ein interessierter Beobachter der internationalen Politik und noch publizistisch tätig.
Eine der wichtigsten Erkenntnisse, die ich im Laufe dieser Jahre gewonnen habe, ist die, dass es in der internationalen Politik nicht primär um hehre Werte wie Freiheit, Demokratie und Menschenrechte geht, sondern vor allem um Interessen, etwa Wirtschafts-, Macht- und Sicherheitsinteressen der Staaten und/oder Finanzinteressen der großen Konzerne und Kapitalgeber.
Das hat schon Egon Bahr, der 2015 verstorbene Architekt der Entspannungspolitik von Willy Brandt, einmal so ausgedrückt:
Wenn ein Politiker anfängt, über Werte zu schwadronieren, anstatt seine Interessen zu benennen, wird es höchste Zeit, den Raum zu verlassen.
Egon Bahr
Daraus folgt für mich: Es gibt in der internationalen Politik nicht nur "Schwarz" oder "Weiß", nicht nur "die Guten" und "die Bösen", wobei wir ja immer die Guten und die Anderen (im Augenblick Russland und ganz besonders dessen Präsident Wladimir Putin) die Bösen sind, sondern es sind von mir in dieser Hinsicht bestenfalls Unterschiede in Abstufungen von Grautönen auszumachen.
Die Moralapostel in der Politik sind mir daher höchst verdächtig, dass sie ganz andere Ziele verfolgen, etwa unter der Fahne der Menschenrechte Kriege zu führen, um ihre Interessen rücksichtslos durchzusetzen.
Ein bekanntes Beispiel dafür war der völkerrechtswidrige Angriffskrieg der USA und der Nato gegen Serbien 1999, an dem auch Deutschland führend beteiligt war. Damals ging es angeblich darum, mit den mehr als 2 Monate andauernden Bombenangriffen ein "neues Auschwitz" zu verhindern.
Für mich ist jedoch der Frieden das wichtigste Menschenrecht (abzuleiten aus Art. 3 der allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Uno 1948. In der Kurzfassung heißt der Art. 3: "Jeder Mensch hat das Menschenrecht auf Leben, Freiheit und Sicherheit"). Deshalb möchte ich an dieser Stelle an Willy Brandt erinnern, der einmal sagte:
Der Frieden ist nicht alles, aber alles ist ohne den Frieden nichts.
Willy Brandt
Weiterhin: Ich bin ein Mediziner, der mehr als 50 Jahre kranke Menschen behandelt hat und darüber hinaus im medizinischen Bereich wissenschaftlich tätig war. Dabei habe ich mich um wissenschaftliches Denken bemüht, das sich bekanntermaßen auf Fakten stützt und nicht auf Spekulationen und Wunschdenken.
Daraus folgt aber auch: Ich bin kein Historiker, kein Politikwissenschaftler, kein Atomwissenschaftler und auch kein Völkerrechtler. Deswegen stütze ich meine Ansichten gerne auf die Aussagen einer Reihe von wissenschaftlichen Experten aus diesen Fachgebieten, – soweit ich ihre Expertisen für vernünftig, plausibel und nachvollziehbar halte. Ich weiß natürlich auch, dass ich dabei nicht immer den Stein der Weisen gefunden habe.
Hervorheben möchte ich aus dieser Reihe den US-amerikanischen Politikwissenschaftler John Mearsheimer, der der prominenteste Vertreter der realistischen Schule der Geschichtswissenschaft in den USA ist und an der Universität Chicago lehrt, und Jeffrey Sachs, den US-amerikanische Wirtschaftswissenschaftler und Direktor des Zentrums für Sustainable Development (d.h. für nachhaltige Entwicklung) an der Columbia Universität in New York.
Beide Wissenschaftler gehören für mich derzeit mit ihren Analysen zu den wenigen Stimmen der Vernunft, sodass ich mich bei meinen Einschätzungen in meinen Artikeln gerne auf sie beziehe.
Anmerken möchte ich noch, dass Mearsheimer, Sachs und die anderen von mir zitierten Wissenschaftler keine besonderen Freunde Russlands oder Putins sind.
Sie sind aber im Gegensatz zu den derzeit in den USA herrschenden kriegstreiberischen neokonservativen "Falken" in der Politik und in den Medien um einen vernünftigen Interessenausgleich mit Russland bemüht.
Der Ukraine-Krieg und seine Vorgeschichte
Meine weiteren Ausführungen möchte ich mit den Worten der großen Schriftstellerin Christa Wolf aus ihrer 1983 erschienenen Erzählung "Kassandra" über den Trojanischen Krieg beginnen:
Wann der Krieg beginnt, das kann man wissen, aber wann beginnt der Vorkrieg? Falls es da Regeln gäbe, müsste man sie weitersagen. In Ton, in Stein eingegraben, überliefern. Was stünde da? Da stünde, unter anderen Sätzen: Lasst euch nicht von den Eigenen täuschen.
Christa Wolf
Ich bin seit Anfang der 1980er-Jahre Mitglied der IPPNW, der größten berufsbezogenen Friedensorganisation in Deutschland. Damals – während der Auseinandersetzungen um die Stationierung von atomaren Mittelstreckenraketen in Deutschland- haben wir IPPNW-Mitglieder, wie viele hunderttausend andere, auf den Straßen demonstriert, in weißen Kitteln und mit Plakaten, auf denen zu lesen war: "Wir werden Euch nicht helfen können."
Diese Plakate bezogen sich auf die damals immer bedrohlicher werdende Atomkriegsgefahr zwischen der Sowjetunion und der Nato in Europa.
Nach der Beendigung des Kalten Krieges 1991 habe ich mir nicht mehr vorstellen können, dass während meiner Lebenszeit noch einmal eine so bedrohliche politische Situation entstehen könnte, wie ich sie in diesen 1980er-Jahren und davor schon in der Kuba-Krise 1962 persönlich erlebt habe.
Aber jetzt hat sich mit der Ukraine-Krise, die seit dem gewaltsamen Maidan-Umsturz in Kiew 2014 zu einem Bürgerkrieg im Donbass mit ca. 14.000 Toten weiter eskaliert war, und dem Beginn des Ukraine-Krieges am 24. Februar 2022 wieder eine höchst gefährliche Situation für uns alle entwickelt, die wahrscheinlich noch bedrohlicher ist als die Krisen vor 40 oder 60 Jahren.
Kritik der herrschenden Erzählung
Da mich diese bedrohliche Situation mit großer Sorge erfüllt, habe ich mich in einer Reihe von aufklärenden Artikeln über die Vorgeschichte und die Ursprünge des Ukraine-Kriegs mit den Ansichten der genannten US-Wissenschaftler und weiterer Experten beschäftigt und mich kritisch mit der herrschenden Erzählung über diesen Krieg auseinandergesetzt, dem wir Tag für Tag in unseren Leitmedien ausgesetzt sind.
John Mearsheimer
In seiner letzten umfangreichen Veröffentlichung zum Ukraine-Krieg vom Juni 2023, die ich ins Deutsche übertragen habe, stellt Mearsheimer in seinem Fazit fest:
Die gängige Meinung über die Ursprünge des Krieges ist, dass Putin am 24. Februar 2022 einen unprovozierten Angriff startete, der durch seinen großen Plan motiviert war, ein größeres Russland zu schaffen. Die Ukraine, so heißt es, war das erste Land, das er erobern und annektieren will, aber wird nicht das letzte sein.
Wie ich bereits mehrfach gesagt habe, gibt es keine Beweise, die diese Argumentation stützen, und es gibt sogar starke Hinweise, die dieser Sichtweise direkt widersprechen.
Es steht außer Frage, dass Russland in die Ukraine einmarschiert ist, aber die letztendliche Ursache des Krieges war die Entscheidung des Westens – und hier sprechen wir hauptsächlich von den Vereinigten Staaten –, die Ukraine zu einem westlichen Bollwerk an der Grenze zu Russland zu machen.
Das Schlüsselelement dieser Strategie war der Plan, die Ukraine in die Nato aufzunehmen, ein Schritt, den nicht nur Putin, sondern das gesamte russische außenpolitische Establishment als existenzielle Bedrohung ansieht, die beseitigt werden muss.
Es wird oft vergessen, dass zahlreiche amerikanische und europäische Politiker und Strategen von Anfang an gegen die Nato-Erweiterung waren, weil sie verstanden, dass die Russen sie als Bedrohung ansehen würden und diese Politik schließlich zu einer Katastrophe führen würde.
Auf dem Nato-Gipfel in Bukarest im April 2008 stellten sich sowohl der französische Präsident Nicolas Sarkozy als auch die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel gegen den Plan von Präsident George W. Bush, die Ukraine in das Bündnis aufzunehmen. Merkel sagte später, ihre Ablehnung beruhe auf ihrer Überzeugung, dass Putin dies als "Kriegserklärung" interpretieren würde.
Natürlich haben die Gegner der Nato-Erweiterung recht gehabt, aber sie verloren den Kampf und die Nato dehnte sich schrittweise nach Osten aus, was die Russen schließlich dazu veranlasste, einen Präventivkrieg zu beginnen.
Hätten die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten nicht im April 2008 beim Nato-Gipfel in Bukarest damit begonnen, die Ukraine in die Nato aufzunehmen oder wären sie bereit gewesen, Moskaus Sicherheitsbedenken nach dem Ausbruch der Ukraine-Krise im Februar 2014 Rechnung zu tragen, gäbe es heute wahrscheinlich keinen Krieg in der Ukraine und die Grenzen der Ukraine sähen so aus wie bei der Unabhängigkeit 1991.
Der Westen hat einen kolossalen Fehler gemacht, für den er und viele andere noch lange einen hohen Preis werden zahlen müssen.
John Mearsheimer
Jeffrey Sachs
Auch Sachs hat zu diesem Thema in der letzten Zeit häufig Stellung bezogen, so etwa in einem aufschlussreichen Artikel mit dem Titel "The war in Ukraine was provoked" (deutsch: Der Krieg in der Ukraine war provoziert"), den ich ebenfalls ins Deutsche übertragen habe. Dort stellt er fest:
Tatsächlich wurde der Krieg von den USA auf eine Weise provoziert, dass führende US-Diplomaten diesen Krieg jahrzehntelang im Vorfeld des 24. Februars 2022 erwartet hatten, was bedeutet, dass der Krieg hätte vermieden werden können und nun auch durch Verhandlungen beendet werden sollte.
Zu erkennen, dass der Krieg provoziert wurde, hilft uns zu verstehen, wie wir ihn stoppen können. Das rechtfertigt die russische Invasion nicht. Ein weitaus besserer Ansatz für Russland wäre es vielleicht gewesen, die Diplomatie mit Europa und der nicht-westlichen Welt zu intensivieren, um den US-Militarismus und -Unilateralismus offenzulegen und sich ihm entgegenzustellen.
Tatsächlich stößt das unerbittliche Bestreben der USA, die NATO zu erweitern, auf der ganzen Welt auf breite Ablehnung, sodass eine russische Diplomatie mit dem Ziel, die NATO-Erweiterung zu verhindern, möglicherweise effektiver gewesen wäre, als einen Krieg zu beginnen.
Zwei Hauptprovokationen
Das Biden-Team verwendet das Wort "unprovoziert" unaufhörlich, zuletzt in Bidens großer Rede zum ersten Jahrestag des Krieges, in einer jüngsten Nato-Erklärung und in der jüngsten Abschlusserklärung des G-7-Treffens.
Biden-freundliche Mainstream-Medien plappern das Weiße Haus einfach nach. Die New York Times ist die Hauptschuldige und beschrieb die Invasion Russlands nicht weniger als 26-mal als "unprovoziert", und zwar in fünf Leitartikeln, 14 Meinungskolumnen von NYT-Autoren und sieben Gastkommentaren.
Es gab in der Tat zwei Hauptprovokationen der USA.
Die Erste war die Absicht der USA, die Nato auf die Ukraine und Georgien auszudehnen, sodass Russland in der Schwarzmeerregion von Nato-Ländern (Ukraine, Rumänien, Bulgarien, Türkei und Georgien) vollständig umgeben ist.
Die Zweite war die Rolle der USA bei der Errichtung einer russlandfeindlichen Regierung in der Ukraine durch den gewaltsamen Sturz des prorussischen Präsidenten Viktor Janukowytsch im Februar 2014.
Deshalb begann der Krieg in der Ukraine mit dem Sturz Janukowytschs vor neun Jahren im Jahre 2014 und nicht erst im Februar 2022, wie uns die US-Regierung, die Nato und die Staats- und Regierungschefs der G7 glauben machen wollen.
Biden und sein außenpolitisches Team weigern sich, über diese Wurzeln des Krieges zu sprechen. Diese anzuerkennen, würde die Position der US-Regierung in dreierlei Hinsicht untergraben.
Erstens würde die Diskussion darüber aufzeigen, wie der Krieg hätte vermieden oder vorzeitig beendet werden können, was der Ukraine ihre derzeitigen Verwüstungen und den USA bisher mehr als 100 Milliarden US-Dollar an Ausgaben erspart hätte.
Zweitens würde es Bidens persönliche Rolle im Krieg als Teilnehmer am Sturz von Janukowytsch und davor als überzeugter Unterstützer des militärisch-industriellen Komplexes und sehr früher Befürworter der Nato-Erweiterung aufdecken.
Und drittens würde es Biden an den Verhandlungstisch zwingen und die weiter anhaltenden Bemühungen der US-Regierung für eine Nato-Erweiterung untergraben.
Aus den Archiven geht unwiderlegbar hervor, dass die US-amerikanische und die deutsche Regierung dem sowjetischen Präsidenten Michail Gorbatschow wiederholt versprochen haben, dass sich die Nato bei der Auflösung des Militärbündnisses des Warschauer Paktes durch die Sowjetunion nicht "einen Zentimeter nach Osten" bewegen würde.
Dennoch begannen die US-Planungen für die Nato-Erweiterung bereits Anfang der 1990er-Jahre, lange bevor Wladimir Putin Russlands Präsident geworden war.
Jeffrey Sachs
Sachs sagt dann weiter gegen Ende seines schon genannten längeren Artikels:
Während die Biden-Regierung erklärt, die russische Invasion sei unprovoziert gewesen, verfolgte Russland 2021 diplomatische Schritte, um einen Krieg zu vermeiden. Biden lehnte jedoch die Diplomatie ab und bestand darauf, dass Russland in der Frage der Nato-Erweiterung keinerlei Mitspracherecht habe.
Und auch im März 2022 forcierte Russland die Diplomatie, während das Biden-Team erneut ein diplomatisches Ende des Krieges blockierte.
Wenn man zur Kenntnis nimmt, dass die Frage der Nato-Erweiterung im Mittelpunkt dieses Krieges steht, versteht man, warum die Aufrüstung mit immer mehr US-Waffen diesen Krieg nicht beenden wird.
Russland wird bei Bedarf eskalieren, um eine Nato-Erweiterung um die Ukraine zu verhindern. Der Schlüssel zum Frieden in der Ukraine liegt deshalb in Verhandlungen auf der Grundlage der Neutralität der Ukraine und der Nichterweiterung der Nato.
Um die Wahrheit über die Ursachen des Krieges zu erkennen, muss man die Vorgeschichte und Hintergründe des Krieges in der Ukraine zur Kenntnis nehmen. Das ist auch die Voraussetzung dafür, dass auf diplomatischem Wege ein Friedensabkommen geschlossen werden kann, das letztlich auf Kompromissen beider Seiten beruht.
Jeffrey Sachs
Warum auch die USA für den Krieg verantwortlich sind
Deshalb tragen nach Auffassung von Sachs und Mearsheimer und auch anderer herausragender US-Wissenschaftler und Politiker die USA ebenfalls einen ganz erheblichen Teil der Verantwortung für diesen mörderischen Krieg in der Ukraine, einen Krieg, der schon 2014 begann und dort seit Februar 2022 tobt, schreckliche Verwüstungen anrichtet, Zehntausende von Zivilisten und Hunderttausende von Soldaten beider Seiten ums Leben bringt und jeden Tag droht, zu einem noch größeren Krieg bis hin zu einem Atomkrieg zu eskalieren.
Denn Russland ist eine der zwei atomaren Großmächte und besitzt, wie die USA, etwa 6000 Atomwaffen, von denen ständig mehr als 1000 Atombomben "on alert", also ständig einsatzbereit sind.
Um Missverständnissen vorzubeugen, möchte an dieser Stelle noch einmal sagen: Der Krieg in der Ukraine ist für die Ukraine, aber auch Russland, eine Katastrophe. Die russische Invasion vom 22. Februar 2022 verstößt gegen den Artikel 2, Absatz 4 der Charta der Vereinten Nationen und ist damit völkerrechtswidrig. Das sagt Norman Paech, ein emeritierter Völkerrechtler von der Universität Hamburg, und diese Argumentation kann ich nachvollziehen.
Aber als ehrlicher politischer Beobachter sagt er ebenfalls: Das Führen von Angriffskriegen unter Bruch des Völkerrechts ist kein Alleinstellungsmerkmal Russlands im jetzigen Krieg in der Ukraine, wie unsere Berichterstattung es uns immer wieder weismachen will.
Dieses Merkmal hat dieser Krieg mit vielen anderen Kriegen seit 1945 gemein, die insbesondere von den USA und der Nato geführt worden sind. Kein Staat hat so viel Übung im Bruch des Völkerrechts wie die USA, sagt der US-Sprachwissenschaftler Noam Chomsky, einer der weltweit bekanntesten Wissenschaftler unserer Zeit.
Wenn man nur an die letzten 20 Jahre denkt, fallen mir als Beispiele dafür der Krieg gegen den Irak 2003 und eine lange Reihe weiterer Kriege im Nahen und Mittleren Osten ein, aber auch der Krieg gegen Serbien 1999, an dem Deutschland leider an führender Stelle mitgebombt hat.
Diese Kriege der USA und der Nato waren ebenfalls ein Verstoß gegen die Charta der Vereinten Nationen und damit völkerrechtswidrig. Sie haben viele Millionen Menschenleben gefordert und zahlreiche Staaten zerstört.
Zusammenfassend sind das einige kritische Gedanken von herausragenden Wissenschaftlern zum herrschenden Narrativ über den Ukraine-Krieg, die auf eine ganz andere Erzählung über diesen Krieg hinweisen. Diese Fakten sind aber für eine realistische Beurteilung des Geschehens in der Ukraine entscheidend und dürfen deshalb aus der öffentlichen Debatte nicht ausgeschlossen werden, wie das leider derzeit ganz überwiegend der Fall ist.
Denn: Ohne Berücksichtigung dieser Tatsachen wird der mörderische Ukraine-Krieg nach Meinung der genannten Experten und auch vieler Mitglieder der IPPNW, zu denen auch ich gehöre, wahrscheinlich nicht durch einen stabilen Verhandlungsfrieden zu beenden sein.
Aber was sind dann die Alternativen?
Sollte Russland den Krieg auf dem Schlachtfeld gewinnen, wonach es derzeit nach Einschätzung einiger Experten, so auch Mearsheimer in seiner letzten Veröffentlichung, am ehesten aussieht, stehen die USA vor der Frage, ob sie den Krieg ausweiten wollen, was den Eintritt in einen dritten Weltkrieg bedeuten kann. Nach der geltenden US-Nukleardoktrin schließt eine derartige Situation auch den möglichen Ersteinsatz von Atomwaffen ein.
Sollte dagegen Russland den Krieg in der Ukraine verlieren und der russische Staat dadurch in seiner Existenz bedroht sein, wird die russische Führung nach Mearsheimer entsprechend ihrer Nukleardoktrin wahrscheinlich überlegen, dieses Desaster mit dem Einsatz von Atomwaffen abzuwenden. Er sagt dazu:
Wenn ich mich jedoch irre, wohin der Krieg führt, und das ukrainische Militär die Oberhand gewinnt und beginnt, die russischen Streitkräfte nach Osten zu drängen, würde die Wahrscheinlichkeit eines nuklearen Einsatzes natürlich erheblich steigen, was jedoch nicht heißt, dass das eine Gewissheit wäre.
John Mearsheimer
Das ist das Ergebnis einer nüchternen Analyse der Situation, in der sich die Welt derzeit befindet. Es ist also so, dass der Einsatz von Atomwaffen wieder möglich ist, solange der Krieg weitergeht, mit jeder Eskalationsstufe wahrscheinlicher wird und niemand mit Gewissheit sagen kann, wie wahrscheinlich eine derartige ultimative Katastrophe tatsächlich ist.
Warnung eines führenden Atomwaffenexperten
Deshalb möchte ich noch kurz einen weiteren Experten, dem ich ein vernünftiges Urteil über die derzeitigen Atomkriegsgefahren zutraue, zu Wort kommen lassen.
Ted (Theodore) Postol
Er ist ein weltweit anerkannter US-Atomwaffenspezialist, der viele Jahre in hohen Funktionen im Pentagon gearbeitet hat, bevor er als Professor an der Stanford Universität und dann am berühmten MIT bis zu seiner Emeritierung tätig war. Er warnt seit vielen Jahren in Vorträgen, auch im Internet, vor dem Einsatz von Atomwaffen und unterstützt seit Jahren die Friedensbewegung in den USA.
Hier zur Erinnerung: Mit der ersten Atombombenexplosion von "Trinity" in der Wüste von Los Alamos begann am 16. Juli 1945 das Atombombenzeitalter. Damit hat eine neue Epoche, vielleicht die letzte der Weltgeschichte, begonnen, denn seitdem besitzen die Menschen die Fähigkeit, sich selbst auszulöschen.
Die Atombombenabwürfe in Hiroshima und Nagasaki durch die USA am 6. und 9. August 1945 waren die bisher zum Glück einzigen Einsätze von Atomwaffen in einem Krieg.
Bei meinen Recherchen bin ich auf ein bemerkenswertes Interview gestoßen, das der US-amerikanische Journalist Robert Scheer mit Postol geführt hat und das im März 2022 veröffentlicht worden ist (Fußnote 3). Darin diskutieren die beiden Fachleute, was zu erwarten ist, wenn im Ukraine-Krieg tatsächlich Atomwaffen zum Einsatz kommen.
Im Verlaufe des Gesprächs fragt Robert Scheer seinen Gast:
Ich frage Sie also nochmals, worüber reden wir hier eigentlich? Wir reden doch nicht über einen weiteren Irak oder ein weiteres Vietnam. Wir reden über Hiroshima und Nagasaki und was ihr Schicksal für Städte in den USA bedeutet.
Daraufhin antwortet Postol:
Wir reden von einer Feuerwand, die alles um uns herum mit der Temperatur des Sonnenmittelpunkts einschließt. Die Explosion von Nuklearwaffen würde uns buchstäblich in weniger als Asche verwandeln. Ich kann nicht genug betonen, wie mächtig diese Waffen sind. Wenn sie detonieren, sind sie vier- oder fünfmal heißer als das Zentrum der Sonne, das 20 Millionen Kelvin hat. Im Zentrum einer Detonation dieser Waffen herrschen 100 Millionen Kelvin. Menschen können sich das Ausmaß dieser Hitze nicht vorstellen. Die Auswirkungen sind so schwerwiegend, dass sie die menschliche Vorstellungskraft sprengen.
Zur Bedrohung, die vom Einsatz einer einzelnen Atombombe ausgeht, sagt Postol:
Wenn eine Atomwaffe auf dem Gefechtsfeld gezündet wird, weiß zunächst niemand, was das bedeutet. War es eine einzelne Waffe? Werden ihr in wenigen Minuten oder Stunden weitere Atomexplosionen folgen? Wird der Gegner, den Sie gerade angegriffen haben, sofort oder erst in einigen Tagen mit einer oder mehreren Waffen nachziehen? Wird er versuchen, ihre Atomwaffenstandorte anzugreifen? Es herrscht ein totales Chaos, und ehe man sich versieht, explodieren nicht nur ein paar Dutzend oder Hunderte, sondern Tausende von Atomwaffen. Das ist einfach unvermeidlich.
Robert Scheer weist dann auf die unter Politikern in den USA laufende und ernst zu nehmende Diskussion über den Einsatz von "kleinen" Nuklearwaffen in einem "zu gewinnenden Atomkrieg" hin und sagt:
Wenn jetzt, in einer angespannten weltweiten Situation, eine einzige Atomwaffe explodiert, gibt es kein Zurück mehr. Das wäre das Ende der Menschheit. Wissen die Politiker nicht, dass sie mit ihrem leichtfertigen Gerede über den Einsatz von Atomwaffen das Ende der Menschheit riskieren?
Postol entgegnet:
Dabei ist es doch ganz einfach. Wer den Einsatz kleiner Atomwaffen propagiert, will uns einreden, ein kleiner Funke in einem mit Benzindämpfen gefüllten Raum wäre kein Problem. Das ist keine schlechte Analogie. Das ist zwar eher ein physikalisches als ein soziales Phänomen, aber im Grunde ist es die gleiche Situation. Man kann keinen kleinen Funken in einem Raum auslösen, der mit Benzindämpfen gefüllt ist. Das würde kein gutes Ende nehmen.
Klaus-Dieter Kolenda, Prof. Dr. med., Facharzt für Innere Medizin – Gastroenterologie, Facharzt für Physikalische und Rehabilitative Medizin/Sozialmedizin, war von 1985 bis 2006 Chefarzt einer Rehabilitationsklinik für Erkrankungen des Herz-Kreislaufsystems, der Atemwege, des Stoffwechsels und der Bewegungsorgane. Seit 1978 ist er als medizinischer Sachverständiger bei der Sozialgerichtsbarkeit in Schleswig-Holstein tätig. Zudem arbeitet er in der Kieler Gruppe der IPPNW e.V. (Internationale Ärztinnen und Ärzte für die Verhütung des Atomkriegs und für soziale Verantwortung) mit. E-Mail: klaus-dieter.kolenda@gmx.de