Künstliches Leben
Grundlagen und Aussichten des Forschungsprogramms
Der bekannte AL-Wissenschaftler, dessen Simulation "Tierra" nun auch auf verteilten Rechnern im Internet läuft, um einen "digitalen Dschungel" mit einer autonomen Evolution zu realisieren, stellt die Grundlagen und Intentionen des Künstlichen Lebens vor. Entscheidend für ihn ist, daß digitales Leben nicht nur eine Simulation des natürlichen Leben ist, sondern ein eigener Evolutionsbereich. Ein "Lebenstest", in Analogie zum Turingtest, der herausstellen würde, ob Künstliches Leben tatsächlich Leben realisiert, ist jedenfalls mit ähnlichen Schwierigkeiten konfrontiert, weil die Kriterien nicht vollends geklärt sind.
Tom Ray studierte Biologie, Chemie und Computerwissenschaft. Seit 1974 untersucht er die Evolution und die Ökologie des Lebens in Regenwäldern und führte viele seiner Feldstudien in Costa Rica durch. Neben der Erforschung des digitalen Lebens unterstützt er aktiv den Naturschutz in Costa Rica. Tom Ray gehört der externen Fakultät des Santa Fe Instituts an und arbeitet seit 1993 im Institut für Evolutionäre Systeme bei den ATR (Advanced Telecommunications Research International) Human Informations Processing Research Labs in Japan. Homepage von Tom Ray
Künstliches Leben (AL) erweitert den Bereich der Biologie, indem es uns das Studium lebendiger Formen ermöglicht, die anders als jene sind, die natürlicherweise auf der Erde vorkommen. In diesem Sinn steht Al im selben Verhältnis zur Biologie wie die synthetische Chemie zur Chemie. Einige der wichtigsten Fortschritte im AL wurden im Feld der synthetischen Evolution innerhalb von Computer geleistet. Ein großer Trend war die Bewegung in Richtung von Systemen, die sich frei innerhalb des digitalen Mediums entwickeln, ähnlich wie die Evolution durch natürliche Selektion im Kohlenstoffmedium, die Leben auf der Erde entstehen ließ. Das primäre Ziel dieser Arbeit ist die Auslösung einer digitalen Evolution, um im digitalen Medium eine Komplexität zu erzeugen, die in ihrem Umfang mit der des organischen Lebens vergleichbar ist.
Synthetische Evolution
Unser Wissen vom Leben ist auf einem Exemplar begründet: auf dem irdischen Leben. Das beschränkt unser Verständnis von dem, was Leben ist und was sein könnte. Unsere Erkenntnis würde die Möglichkeit erweitern, zu anderen Planeten reisen und die völlig unterschiedlichen Lebensformen zu beobachten, die es dort gibt.
Wenn wir Leben auf anderen Planeten beobachten könnten, würde es ziemlich wahrscheinlich auf Kohlenstoff basieren und daher viel mit dem Leben auf der Erde gemeinsam haben. Die Meinungen der Evolutionsbiologien gehen in der Beurteilung weit auseinander, wie ähnlich eine derartig unabhängige Variante des organischen Lebens sein könnte - und leider werden wir wahrscheinlich niemals die Wahrheit erfahren.
Auch die Ansichten über die Plausibilität von Leben, das auf anderen Medien als auf der Kohlenstoffchemie basiert, unterschieden sich sehr. Aber bestimmt würde die Möglichkeit, ein nicht auf Kohlenstoff basierendes Leben zu beobachten, unsere Vorstellungen vom Leben eher erweitern als die Beobachtung von Leben auf anderen Leben, das auf Kohlenstoff basiert.
Der relativ neue Bereich des "Künstlichen Lebens" (AL) erforscht die Möglichkeiten, unabhängige Varianten des Lebens oder des Lebensprozesses zu schaffen. AL versteht das Leben durch dessen Erschaffung und nicht, indem es dieses zerlegt. Es ist eher ein synthetischer als ein reduktionistischer oder analytischer Ansatz.
AL kann dasselbe Verhältnis zur Biologie besitzen wie die synthetische Chemie zur Chemie. Wenn die Chemie auf die Untersuchung natürlich sich ereignender chemischer Prozesse auf der Erde beschränkt worden wäre, hätte sie niemals die theoretische Strenge oder die praktischen Anwendungen entdeckt, die sie heute besitzt. Die Biologie wird einen großen Gewinn daraus ziehen, wenn sie biologischen Untersuchungen über die Lebensformen hinaus ausdehnt, die sich natürlicherweise auf der Erde finden.
Synthetisches Leben?
Von der Erzeugung neuer Lebensformen zu sprechen, mag überheblich oder furchteinflößend klingen. Wir sollten deutlich machen, was wir meinen. Unglücklicherweise gibt es keine allgemeine Übereinstimmung bei der Definition des Lebens, weswegen wir nicht ohne weiteres darüber sprechen können, was es bedeutet, Leben zu erschaffen.
Normalerweise wird die Definition von Leben über den Text einer Reihe von Merkmalen begründet. Das Problem entsteht aus der fehlenden Übereinstimmung, was zu dieser Liste gehört. Die Fähigkeiten der Replikation, der Evolution, des Metabolismus, der Reaktion auf Stimuli und der Reparatur von Schäden befinden sich als Merkmale auf vielen Listen. Die meisten Beispiele des "Künstlichen Lebens" werden an jedem derartigen Test scheitern, wenn die Merkmalsliste nicht sehr kurz ist.
Aber dieser Ansatz einer Liste zum Lebenstest ist nicht ganz zufriedenstellend. Man stelle sich als provokantes Beispiel, warum das so ist, eine Maschine vor, die als ebenbürtiger intellektueller Partner in einer Diskussion über diese Themen teilnehmen könnte. Auch wenn sich diese Maschine nicht repliziert, sich nicht evolutionär entwickelt oder die meisten der anderen Merkmale zeigt, die sich auf den meisten Listen der Lebenstest befinden, würde es schwer fallen abzustreiten, daß sie in einem gewissen Sinn lebendig ist.
Solche Überlegungen führen zu einem alternativen Zugang zum Problem, der ebenfalls die Erstellung einer langen Liste von Merkmalen beinhaltet, die bekanntermaßen nur bei lebenden Systemen vorkommen. Aber anstatt zu fragen, ob ein Beispiel aus dem Künstlichen Leben alle Merkmale der Liste besitzt, fragen wir, ob es ein echtes Vorkommnis im Sinne irgendeines der Merkmale der Liste zeigt. Wenn das so ist, dann können wir folgern, daß wir ein echtes Vorkommnis eines Lebensmerkmals in unserem synthetischen System gefunden haben.
Die meisten Forschungen des Künstlichen Lebens erzeugen einen solchen Eindruck. Der Forscher ist ganz allgemein an jedem Aspekt des Lebens wie Evolution, Intelligenz, Sprache, soziales Verhalten, Entwicklung etc. interessiert. Er baut dann ein System, das, wenn es erfolgreich ist, Merkmale des Lebens in seinem Interessengebiet zeigt. Aber das System kann keines oder nur wenige der anderen Merkmale des Lebens besitzen. So werden sie in gewisser Weise zu entkörperten Beispielen des Lebens. Es mag nicht angemessen sein zu fragen, ob sie lebendig sind. Das ist sowieso eine Frage, die wir nicht beantworten können. Am besten sollten wir fragen, ob sie echte Merkmale des Lebens zeigen. Das ist eine Frage, die leichter beantwortet werden kann.
Der Forschungsbereich Künstliches Leben findet auf drei Hauptebenen statt: der Hardware, der Software und der Synthese der Wetware. Hier werde ich mich auf die Evolution konzentrieren, auf den Lebensprozeß, der mich am meisten interessiert. Obgleich es aufregende Forschungsarbeiten mit künstlicher Evolution im chemischen Medium und einige neue Entwicklungen gibt, die vielleicht die Evolution der Hardware ermöglichen, steht hier nur die Software-Evolution im Zentrum.
Synthese und Simulation
Das irdische Leben ist ein Produkt der Evolution, die durch natürliche Selektion im Medium der Kohlenstoffchemie zustandekommt. In der Theorie aber ist dieser Evolutionsprozeß weder auf das beschränkt, was auf der Erde vorkommt, noch auf die Kohlenstoffchemie. Genauso wie Leben auf anderen Planeten auftreten kann, könnte es sich auch in anderen Medien wie dem der digitalen Computer entwickeln. Und ebenso wie die Evolution auf anderen Planeten kein Modell des irdischen Lebens darstellt, ist die natürliche Evolution kein Modell für das Leben im digitalen Medium.
Weil die Synthese der AL-Software im Inneren der Computer stattfindet, gibt es ein weit verbreitetes Mißverständnis über das Wesen dieser Forschung. Biologen verstehen normalerweise unter AL Computermodelle oder Simulationen von biologischen Prozessen, mit denen sie vertraut sind. Aber das Ziel der AL-Forschung unterscheidet sich davon wesentlich.
Eine Simulation ist ein Modell von etwas in der "wirklichen" Welt. Daher gibt es in ihr Symbole, die andere Objekte repräsentieren, und Regeln, die festlegen, wie diese Symbole manipuliert werden. Die Aussagekraft der Simulation kann davon abhängen, wie genau die Symbole und Regeln die Objekte und Prozesse repräsentieren, die sie zu modellieren versuchen. Biologen sind ganz allgemein an Computermodellen nur in dem Maße interessiert, wie genau sie organische biologische Prozesse repräsentieren können.
In der extremsten Form werden die Bestandteile einer AL-Softwaresynthese als eigenständige Objekte und nicht als Symbole für etwas anderes untersucht. Weil sie digital sind und aus Bits und Bytes bestehen, sind die Biologen, die gewöhnt sind, Leben nur als kohlenstoffbasiert zu denken, daran nicht immanent interessiert. Falls die Bits jedoch in einem Computer Lebensprozesse zeigen, sollten sie zum Gebiet der Biologie gerechnet werden.
Das sollte möglich sein, falls die Lebensprozesse nicht notwendigerweise an das Medium der Kohlenstoffchemie gebunden sind. Zentral für die Hardware- und Softwaresynthese des Künstlichen Lebens ist das Verständnis, daß das Leben ein Prozeß ist, der nicht an das einzige Medium der Kohlenstoffchemie gebunden ist.
Der AL-Forscher versteht den Computer nicht als Werkzeug zur Modellierung des organischen Lebens, sondern als eine Umgebung, die von nicht kohlenstoffbasierten Leben bewohnt werden kann. Die AL-Forschung besteht darin, diese Umgebung mit Lebensformen zu impfen und das System so zu pflegen, daß in ihm immer reichhaltigere digitale Lebensformen entstehen können.
Digitalen Leben erweitert unser Verständnis des Lebens und ist ein nützliches Mittel für bestimmte biologische Untersuchungen. Es besitzt einige einzigartige Eigenschaften, durch die es leichter als organisches Leben untersucht werden kann. Weil es sich innerhalb eines Computers befindet, kann man leichter über es daten erhalten. Wenn digitale Organismen auf einen einzigen Computer beschränkt sind, lassen sich Daten über jeden Aspekt ihrer Existenz sammeln, ohne das System zu beeinflussen. Das ist bei realen Organismen unmöglich. Es ist beispielsweise eine Routineangelegenheit, das gesamte Genom jedes einzelnen digitalen Lebewesens bei der Geburt zu sequenzieren, wobei sich diese Erfassung nicht auf die Evolution des Systems auswirkt.
AL-Systeme lassen sich auch weitaus besser manipulieren wie wirkliches Leben. Wenn gewünscht, kann man ein Experiment exakt wiederholen, um Beobachtungen zu ermöglichen, die man im ersten Ablauf nicht gemacht hat. Überdies können Lebensprozesse wie die Evolution in einem digitalen System viel schneller ablaufen als in einem organischen.
Diese Eigenschaften machen digitales Leben zu einer wertvollen Ergänzung der Biologie. Die fruchtbarsten Ergebnisse wurde im Bereich der Evolutionsforschung erzielt. Ähnlich wie bei einem Reagenzglas, das voll von evolvierenden Viren und Bakterien ist, läßt sich ein Computer, der mit evolvierenden digitalen Organismen gefüllt ist, als Systemmodell für eine experimentelle Untersuchung der Evolution begreifen. Die evolvierenden digitalen Organismen sind ebenso wie die evolvierenden Bakterien und Viren keine Simulation der Evolution mehr.
Organische Evolution geht so langsam vor sich, daß man bislang nur die "Mikro-Evolution", also Veränderungen der Größe und Form von Teilen der Organismen, beobachten und mit ihr experimentieren konnte. Abgesehen von der Untersuchung von Fossilien war die Erforschung der "Makro-Evolution", der Erwerb oder der Verlust von Teilen der Organismen und die Entstehung von Arten und höheren taxonomischen Gruppen, nicht möglich.
Die Evolution in digitalen Systemen ereignet sich so schnell, daß es über Nacht zu wesentlichen Veränderungen in der Struktur der Organismen und der Emergenz von ganzen Phylogenesen kommt. Auch wenn die digitalen Systeme relativ viel weniger komplex als organisches Leben sind, so kann man erwarten, wenn die digitalen Organismen komplexer werden, daß dann auch ihre Evolutionsrate langsam proportional anwächst.
Evolution und das Medium
Die Evolution ist ein Prozeß, der die dem Medium inhärenten Möglichkeiten erkundet, in dem sie eingebettet ist. Sich evolutionär entwickelnde Populationen von Replikatoren erkunden immerfort Variationen ihrer gegenwärtigen Formen, ohne durch vorgefaßte Intentionen beschränkt zu sein. Wenn die Evolution in das Medium der Kohlenstoffchemie eingebettet ist, "sieht" sie die Physik des natürlichen materiellen Universums: die Gesetze der Chemie, z.B. daß Kohlenstoff vier einzelne Bindungen in der Konfiguration eines Tetraheders eingeht, oder die Gesetze der Thermodynamik, z.B. daß die Entropie spontan zunimmt.
Wenn sie jedoch im Medium eines digitalen Computers eingebettet ist, "sieht" die Evolution ein völlig anderes Universum mit unterschiedlichen Gesetzen. Hier gibt es keine Gesetze der Thermodynamik. Es gibt keine Materie, um darauf eine Chemie aufzubauen. Es handelt sich um ein logisches Informationsuniversum und nicht um ein materielles Universum. Die "Physik", der die Evolution in einem Computer ausgesetzt ist, besteht aus der Logik, die durch den Prozessor, die nicht-euklidische Topologie des Speicherraums, den im Betriebssystem eingebetteten Regeln der Ressourcenzuweisung, die auf der Zeit der Uhr des CPU beruht, etc. vorgegeben ist.
Wenn die Evolution im digitalen Medium eingebettet ist, ist sie nicht mit der Materie konfrontiert, aus der der Computer besteht. Dieser könnte aus großen integrierten Schaltkreisen, Transistoren, vakuumröhren oder mechanischen Schaltern bestehen. Solange dieselbe Logik in der Hardware implementiert ist, wird sie für die Evolution ununterscheidbar sein.
Aus unserer Perspektive gesehen würden sich die verschiedenen materiellen Technologien zumindest in ihrer Geschwindigkeit unterscheiden. Aus der Perspektive der Evolution ist die Zeiteinheit jedoch der Zyklus der CPU-Uhr. Ob dieser Zyklus eine Nanosekunde oder eine Minute benötigt, ist innerhalb des Computers dasselbe. Im Falle eines Computernetzwerks werden die relativen Zyklen der CPU-Uhren jedoch wichtig.
Die evolvierenden digitalen Organismen besetzen den Raum des RAM-Speichers. Weil wir den Speicherorten sequentielle numerische Adressen zuordnen, neigen die Menschen dazu, diesen Raum als einen eindimensionalen euklidischen Raum zu verstehen. Aber das trifft nicht zu.
Die Topologie des Raums läßt sich teilweise durch die Untersuchung der Entfernungsverhältnisse zwischen Punktmengen begreifen. Im Speicherraum des Computers gibt es kein bedeutungsvolles Konzept einer linearen Entfernung. Die angemessenste Analogie zur Entfernung ist die Zeit, die notwendig ist, um eine Information zwischen zwei Punkten zu bewegen. Daher wird die Zeit im Computerspeicher zum Entfernungsmaß.
Im Speicher der meisten Computertypen (mit einem "flachen" Speicher) sind alle Punktpaare, unabhängig von ihrem wirklichen Ort im Speicher, gleich weit voneinander entfernt. In einem Computer mit einem segmentierten Speicher wie bei den 80x86 Prozessoren von Intel gibt es zwei Entfernungen zwischen Punkten, abhängig von den relativen wirklichen Positionen der Punkte und dem Referenzrahmen. Das macht uns deutlich, daß der Raum wirklich nicht euklidisch ist.
Wenn wir uns die Topologie des Speicherraums des globalen Computernetzwerkes, des "Cyberspace" im allgemeinen Sinn, vorstellen. dann ist dieser sehr komplex und dynamisch. Die Zeit, die zur Übertragung von Daten zwischen den Speichern von zwei Computer notwendig ist, hängt von deren relativen physikalischen Orten im Netz und dem Ausmaß des Datenverkehrs zur Zeit der Übertragung ab. Übertragungen innerhalb lokaler Netze werden allgemein schneller sein als solche zwischen weiter entfernten Orten, obgleich beide auch von der Netzbelastung zu einer bestimmten Zeit abhängen.
Die nächsten Kapitel:
Digitale Evolution II - Verlust der Kontrolle
Evolution und Sprache.
Aus dem Englischen übersetzt von Florian Rötzer