Lehrer am Limit: Laut Umfrage gehen mehr als 60 Prozent auf dem Zahnfleisch
Erhebung der Robert Bosch Stiftung weist auf alarmierende Zustände in deutschen Klassenzimmern hin. Corona hat die Lage verschärft, aber nicht verursacht
Freude am Lernen, Gemeinschaft erleben, menschlich, geistig und sozial reifen? Romantische Vorstellungen von Schule sind in hiesigen Klassenzimmern fehl am Platz. Erst recht gilt das fürs Lehrerzimmer: Fast die Hälfte aller Pädagogen (44 Prozent) betreibt Unterricht gegenwärtig nur als eine Art von "Krisenmanagement". 54 Prozent können den Sorgen und Ängsten ihrer Schüler nicht gerecht werden, 80 Prozent schildern diese als unkonzentriert oder unmotiviert und 42 Prozent beobachten bei den Kindern aggressives Verhalten.
Die Ergebnisse des am Mittwoch vorgestellten "Deutschen Schulbarometers" der Robert Bosch Stiftung zeichnen ein alarmierendes Bild der Lage in deutschen Lehranstalten. Zum inzwischen fünften Mal hat dafür das Meinungsforschungsinstitut Forsa bundesweit über 1.000 Lehrerinnen und Lehrer in einer repräsentativen Stichprobe online dazu befragt, wie sie ihre eigene berufliche und die Situation der Schülerinnen und Schüler einschätzen.
Mehr aggressive Kinder
Weil ihre erste Auflage im Jahr 2019 und damit vor Corona erschien, liefert die Erhebung erhellende Befunde dazu, wie schwer die Pandemie beziehungsweise der politische Umgang damit – insbesondere zwei monatelange Schul-Lockdowns – der Bildungslandschaft zugesetzt habent. Zum Beispiel nahmen in der neuesten Befragung von April 2022 beinahe doppelt so viele Lehrkräfte gesteigerte Aggressionen unter ihren Schülern fest als noch im September 2021. In den Vorgängerstudien war dieser Aspekt noch nicht berücksichtigt worden.
Nahezu alle Befragten (95 Prozent) gaben an, seit Beginn Corona-Krise einen deutlichen Anstieg von Verhaltensauffälligkeiten wahrzunehmen. Auch schätzten die Lehrkräfte den Anteil der Kinder mit Lernrückständen signifikant höher ein als noch ein Jahr zuvor (41 Prozent versus 33 Prozent). 13 Prozent äußerten, dass mehr als 75 Prozent der Schülerschaft spürbare Lerndefizite aufweisen. Vor acht Monaten lag die Quote noch bei sechs Prozent. Drei Viertel der Teilnehmer meinten, die Schüler erhielten nicht die Unterstützung, die nötig wäre, die Versäumnisse aufzuholen.
Tiefe Spuren haben die zurückliegenden beiden Jahren nicht minder bei den Lehrerinnen und Lehrern selbst hinterlassen – und die stehen beim "Schulbarometer" im Zentrum des Interesses. Demnach fühlen sich 84 Prozent derzeit stark strapaziert, 92 Prozent schreiben ihrem Kollegium eine starke Belastung zu. Für 79 Prozent ist Wochenendarbeit die Regel, 60 Prozent können sich in der Freizeit kaum noch erholen. 62 Prozent leiden unter körperlicher, 46 Prozent unter mentaler Erschöpfung, ein Drittel unter Schlafstörungen, 25 Prozent unter Kopfschmerzen und sieben Prozent unter Angstzuständen.
Sparstrumpf der Kultusminister
Zu all dem hat Corona fraglos einen Beitrag geleistet. Eine über weite Strecken ausgelaugte Lehrerschaft ist indes mitnichten das Resultat von zwei Jahren Gesundheitsnotstand. In deutschen Bildungseinrichtungen ist der Ausnahmezustand schon sehr viel länger heimisch. Den Pädagogen im Land wurden im Rahmen immer neuer Reformen immer mehr Aufgaben aufgebürdet – Inklusion, Migration, Bildungspläne, Ganztagsbetreuung, Gymnasium in acht Jahren –, während die Kultusminister der Länder sie gleichzeitig als Sparstrumpf missbrauchten.
Die Zahl der Pflichtstunden hat sich sukzessive erhöht, die Klassen sind größer und die Arbeitsbedingungen unter den gestiegenen Anforderungen zunehmend schlechter geworden. Und flankiert wurde all das noch mit üblen Kampagnen der Sorte "faule Säcke". Das Resultat: Der Rückgang der Attraktivität des Lehrerjobs, gepaart mit politischer Fehlsteuerung hat für einen Lehrermangel historischen Ausmaßes gesorgt, dem die Politik durch Rekrutierung massenhaft unzureichend ausgebildeter Aushilfslehrkräfte (Quer-, Seiteneinsteiger, Studierende, Referendare) begegnet, wodurch das Lehr- und Lernniveau noch weiter sinkt.
Viel mehr Geld ins System
"Das System steckt in einem Teufelskreis aus Überlastung durch Lehrkräftemangel und Lehrkräftemangel durch Überlastung", befand treffend die Vorsitzende der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft, Maike Finnern, in einer Stellungnahme am Tag der Veröffentlichung. "Da kommen wir nur raus, wenn die Politik bereit ist, insgesamt mehr Ressourcen ins System zu stecken – auch durch mehr Schulsozialarbeit, schulpsychologische Betreuung und weiteres zusätzliches Personal etwa in der Verwaltung."
"Lehrkräfte stehen enorm unter Druck", konstatierte Dagmar Wolf, Bereichsleiterin Bildung der Robert Bosch Stiftung. "Sie müssen die Digitalisierung im Rekordtempo nachholen, Corona-Richtlinien überwachen, Lernrückstände aufarbeiten, einen Fachkräftemangel abfedern und eine steigende Zahl von geflüchteten ukrainischen Kindern und Jugendlichen in die Schulen integrieren", erklärte sie in einer Medienmitteilung. Schulen benötigten deshalb "dringend zusätzliches Personal".
Abwärtsspirale ohne Ende
Tatsächlich droht sich die Misere kurzfristig noch zu verschärfen, weil den Schulen mit jeder Mehrbelastung immer mehr Lehrer verloren gehen, sei es, weil sie krank werden, kürzer treten oder ihren Beruf aufgeben. Laut Umfrage gaben 13 Prozent an, im kommenden Schuljahr weniger arbeiten und das wöchentliche Deputat reduzieren zu wollen. Damit kommt den Schulen noch mehr Professionalität abhanden, wofür dann noch mehr Amateure mobilisiert werden müssen, weil viel zu wenige Nachrücker aus den Hochschulen bereitstehen – noch so ein schulpolitisches Versagen.
Bleibt ein radikaler Kurswechsel der Verantwortlichen in Bund und Ländern aus, wird die Abwärtsspirale in puncto qualitativer und quantitativer Unterrichtsversorgung mit jedem Schuljahr weiter befeuert. "Die Politik steht ohne Wenn und Aber in der Pflicht, endlich lange Versäumtes aufzuarbeiten und jetzt alles Notwendige dafür zu tun, um die Pädagoginnen und Pädagogen in den Schulen zu schützen, die (...) teils Unermessliches leisten", bekräftigte Udo Beckmann, Bundesvorsitzender des Verbands Bildung und Erziehung (VBE).
Nur so könne Schule schaffen, wozu die Gesellschaft verpflichtet sei, "nämlich allen Kindern und Jugendlichen einen gerechten Zugang zu qualitativ hochwertiger Bildung und bestmöglicher Förderung ermöglichen".
Sorge um Affenpocken
Vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) und seiner Chefin, Bettina Stark-Watzinger (FDP), war bisher nichts zu der Untersuchung vernehmbar. Am Donnerstag hatte die Pressestelle ohnedies Wichtigeres zu verbreiten: "Affenpocken in Deutschland: Muss man sich Sorgen machen?" Antwort: Nein. Dann ist ja alles gut.