Linkspartei: Libertäre gegen Linkskonservative

Seite 2: "Antimonopolistische Demokratie"

Wagenknechts Analyse teilt die weitverbreiteten Auffassungen, die Wert- durch Machttheorie ersetzen (Wendl 2013). Das Finanz- und Monopolkapital herrsche über das übrige Kapital, "die Reichen" würden die Staatspolitik diktieren, die Politiker korrumpieren und für die Manipulation der Massen sorgen.

Die grundlegenden Fehler dieser Vorstellungen von kapitalistischer Ökonomie, vom Verhältnis zwischen Staat und Politik in der bürgerlichen Gesellschaft und von der Konstitution des politischen Bewusstseins sind seit Jahrzehnten gründlich analysiert und kritisiert worden.5

Wagenknecht sowie viele mit ihr nicht Einverstandene in der Linkspartei stehen in der Tradition der Strategie der "antimonopolistischen Demokratie".

Und so, liebe Genossen, sagen wir den Bauern, den Handwerkern, dem Mittelstand und auch den kleinen Unternehmern: Ihr gehört nicht an die Seite der Wenigen, die sich an der Krise bereichern. Euer Platz ist an der Seite der Arbeiter. Nur im gemeinsamen Kampf gegen das Monopolkapital habt ihr eine Zukunft.

Herbert Mies, in: Unsere Zeit, 20.3.1976

Heute würde es heißen: "Monopol- und Finanzkapital". Herbert Mies war der damalige Vorsitzender DKP, Unsere Zeit ist noch heute deren Zeitung. Die "antimonopolistische Demokratie" war der zusammenfassende Begriff für die politische Linie der mit der SED und KPdSU brüderlich verbundenen europäischen KPs in den 1970er und 1980 Jahren.

"Wer Demokratie will, muss die Finanzmafia entmachten" – so lautete auch der Slogan auf einem großformatigen Plakat der Linkspartei mit dem Bild von S. Wagenknecht im Bundestagswahlkampf 2013.

Antisemitismus?

Wie intrigant es innerparteilich in der Linkspartei zugeht, zeigt sich bspw., wenn A. Demirovic Wagenknechts Auffassungen von Ökonomie und Politik "Antisemitismus" vorwirft. Bekannt ist: Der Antisemitismus umfasst unter anderem auch eine verkürzte Kapitalismuskritik. Daraus folgt aber keineswegs der Umkehrschluss. Nicht jede verkürzte Kapitalismuskritik ist antisemitisch.

Wie sieht Demirovic selbst die kapitalistische Wirtschaft? "Wirtschaftliche Gesetzmäßigkeiten" stellen für Demirovic "Freiheit dar, allerdings die Freiheit einer kleinen Zahl von Menschen, die diese Gesetzmäßigkeiten maßgeblich gestalten und davon profitieren".

Die "wirtschaftlichen Prozesse" seien "Ergebnis von Entscheidungen" – der kleinen Zahl von raffgierigen Reichen und bösen Börsen-Buben. Sie gelten Demirovic als die Subjekte, die die "Gesetzmäßigkeiten maßgeblich gestalten" (Demirovic 2007, 256). Ökonomische Strukturen und Gesetzmäßigkeiten sind Demirovic zufolge Wachs in den Händen der Reichen.

Er stellt sich letztere so vor: Sie unterliegen nicht den Gesetzmäßigkeiten der Kapitalakkumulation, sondern stehen als Autokraten über ihnen und verfügen souverän über sie. Für Demirovic stehen nicht kapitalistische Gesetzmäßigkeiten bzw. Strukturlogiken, sondern individuelle Entscheidungen und das Wirken von Subjekten im Zentrum (Personalisierung, Subjektivierung).

Fassen wir diese dreiste Posse zusammen: Demirovic selbst übt erstens just genau die gleiche verkürzte Kapitalismuskritik, die er Wagenknecht vorwirft. Zweitens ist Demirovic in seinem demagogischen Antisemitismusvorwurf gegen Wagenknecht eines völlig egal: Wer den Antisemitismusbegriff inflationär benutzt, arbeitet den wirklichen Antisemiten in die Hände. Wenn fast alles (z. B. verkürzte Kapitalismuskritik) antisemitisch sein soll, welchen Inhalt hat dann noch der Antisemitismus selbst?.

Wagenknecht hat nichts gegen Marktwirtschaft, sondern kritisiert "unregulierte Märkte" und "globalisierte Marktgesellschaft". Sie verwirft nicht den Profit, sondern das "grenzenlose Renditestreben" (Ebd.).

Wagenknecht befindet sich mit solchen Positionen im Konsens zum Programm der Linkspartei. Es enthält Kritik am Großkapital, nicht am Kapital. Es missbilligt die Dominanz des Mehrwerts in der Gesellschaft, nicht die Mehrwertproduktion. Es will die allerhässlichsten Auswüchse kapitalistischer Wirtschaft beschneiden. Man möchte gern bürgerliche Verhältnisse ohne deren negative Konsequenzen.

Dabei entwickeln sich bereits in der gegenwärtigen Wirtschaft Antriebe für wirtschaftliches Handeln, die über das Privatinteresse, die Konkurrenz und die Kapitalakkumulation hinausgehen (vgl. Creydt 2022, 2023). Eine Gesellschaft, die sich durch grundlegend andere Formen und Inhalte wirtschaftlichen Handelns als in der bürgerlichen Gesellschaft auszeichnet, stellt kein programmatisches Anliegen der Linkspartei dar. Sowohl die Freunde als auch die Gegner von Wagenknecht in der Linkspartei wollen daran nichts ändern.

Schluss

Zwischen den beschriebenen libertären Positionen und Wagenknechts "linkskonservativem" (2022, 275) Votum für Wertegemeinschaft, Gemeinsinn, Zusammenhalt und republikanischen Staat scheint es eine Art Wunschgegnerschaft zu geben. Beide begründen sich stark aus dem Anti gegen die jeweils andere Seite.

Je schriller die libertäre Seite sich positioniert, desto mehr folgt das andere Lager ihrer volkstümelnden Sympathie für die "ganz normale" Bevölkerung – und umgekehrt. Die Selbstverortung in der Absetzung vom Gegenteil verkennt die Gegenfixierung.

Die negativen Attribute des Gegenteils dienen als Alibi des eigenen Standpunkts. Die betroffenen Standpunkte bleiben so Gegenstandpunkte, hegen aber von sich selbst die wohlmeinende Auffassung, sie könnten aus sich selbst heraus existieren.