Literatur.digital
Über den Leser als Erfüllungsgehilfen der Programmierung
Das Grauen beginnt schon an der Schwimmbad-Kasse:
"Die Schwimmmeisterin" spielt im Auge der Microsoft-Besatzungsmacht. Tarnkleidung (PC und Internet Explorer) zwingend vorgeschrieben.
Tja, wer sich die Beiträge des diesjährigen Wettbewerbs "Literatur.digital" ansehen will, muss sich auf einiges gefasst machen. Und das, obwohl es in der Ausschreibung heißt:
Eingesandte Beiträge müssen auf den gängigen Browsern funktionieren, d.h. die Seiten sollen für Netscape und IE jeweils ab Version 4 optimiert sein. Entsprechendes gilt für die gängigen Betriebssysteme Mac und PC.
Doch das schert die Schöpferin der auch sonst nicht zimperlichen Badezuchtmeisterin nicht im geringsten. Wer rein will in die Badeanstalt, muss sich ihren Regeln unterwerfen. Und damit basta. Auf die Jury muss diese Entschlossenheit mächtig Eindruck gemacht haben, denn sie wählte Die Schwimmmeisterin immerhin auf Platz 2.
Auch bei "Kleine Welt" von Florian Thalhofer, der "die technischen Bedingungen nicht erfüllt hatte", drückte die Jury ein Auge zu und verlieh ihm einen Sonderpreis. Denn:
Thalhofer stellt seinen Heimatort Schwandorf in einem Bündel besprochener Bilder vor, die im Hinblick auf Text, Bild und Sound so lebendig, amüsant und voller Hintersinn sind, dass man einfach nicht davon lassen kann. Nie war die Oberpfalz so interessant; ein glänzend erzähltes Stück digitaler Literatur.
Insgesamt qualifizierten sich ganze 50 Projekte also mehr oder weniger korrekt für den Wettbewerb "Literatur.digital", der von April bis Mitte Oktober lief. Eine siebenköpfige Jury übernahm die Vorauswahl der 20 besten Projekte und vergab am Ende drei Preise sowie einen Sonderpreis. Wie bei Online-Wettbewerben üblich, durfte auch das Publikum abstimmen und Preise vergeben. Schaut man sich die beiden Siegerlisten an, so fällt auf: Je größer das Team, desto besser die Chancen auf einen Preis. Multimedialer Erfolg ist eben auch eine Frage der Arbeitsteilung. Und selbst bei Autoren, die als Einzelkämpfer antraten, sind die Credits häufig so umfangreich wie ein Abspann im Kino.
Interaktivität, Intermedialität, Inszenierung
Ausgeschrieben wurde der Wettbewerb von T-Online und dtv erstmals im Frühjahr 2001. Dem Jury-Vorsitzenden Roberto Simanowski zufolge betrachten die Sponsoren den Wettbewerb als Experiment und möchten sowohl "den Autoren wie dem Publikum dieses neuen (literarischen) Genres einen Ort der Kontinuität" bieten. Zwar gibt es hier und da vergleichbare Wettbewerbe, doch berühmte Vorläufer wie etwa der Wettbewerb "Pegasus" (1995-1998) von IBM und ZEIT sind inzwischen eingestellt. Das liegt nicht zuletzt an der bislang ungeklärten Frage, was man sich unter digitaler Literatur überhaupt vorstellen soll.
Für die einen ist digitale Literatur das, was man im Gutenberg-Projekt findet. Nämlich digitalisierte Literatur. Zum Beispiel Goethe, Schiller, Kleist und Brentano. Für die anderen sind es literarische Texte von jungen Autoren, die noch keinen Verlag gefunden haben und deshalb erst mal online publizieren. Für den Juryvorsitzenden Roberto Simanowski jedoch steht fest, dass das noch lange nicht alles sein kann. Für ihn zeichnet sich digitale Literatur dadurch aus, "dass sie des digitalen Mediums als Produktions- und/oder Rezeptionsgrundlage bedarf. Damit fliegt alles raus, was das digitale Medium nur als Distributionsmittel nutzt und ansonsten auch auf Papier funktioniert".
Insofern ist es nur konsequent, dass die 20 besten Beiträge des Vorjahres nicht nur in der dtv-Anthologie Literatur.digital beschrieben, sondern auf der dem Buch beigelegten CD-Rom zugänglich gemacht werden, eben weil die Mehrzahl der Projekte nicht ohne weiteres "auch auf dem Papier funktioniert". Wobei man dem Großteil der Arbeiten vorwerfen kann, dass sie durchaus offline funktionieren. Man es also bestenfalls mit digitaler Literatur, nicht aber mit Netzliteratur im engeren Sinne zu tun hat. Als solche müssten die Arbeiten nämlich auf Foren, Newsgroups und andere Internet-Dienste zurückgreifen. Dieses Kriterium erfüllen bislang lediglich Mitschreibprojekte wie zum Beispiel 23:40, an denen sich Autoren aus aller Welt via Internet beteiligen können.
Laut Simanowski muss digitale Literatur inbesondere drei Kriterien erfüllen: 1. Interaktivität, 2. Intermedialität, 3. Inszenierung. Das bedeutet grob gesagt: 1. der Leser soll sich frei bewegen können im Text, insbesondere die Leserichtung darf nicht vorgegeben sein; 2. soll das Ganze nicht allzu textlastig sein, sondern auch viele - möglichst bewegte - Bilder und am besten noch Töne einbinden; 3. soll der Text nicht einfach nur im Netz rumhängen, sondern in Szene gesetzt werden, also erst nach diversen Aktionen seitens des Rezipienten zum Vorschein kommen (man denke an das Vorbild des Adventskalenders).
Der Leser wird oft zum Erfüllungsgehilfen der Inszenierung degradiert
Betrachtet man die Beiträge zum diesjährigen Wettbewerb, so bedienen alle mehr oder weniger raffiniert die Erwartungen in Sachen Intermedialität und Inszenierung. Was jedoch die Interaktivität angeht, so erschöpft sich diese in der Regel darin, dass der 'Leser' sich durch mehr oder weniger rigide vorgegebene Strukturen durchzuklicken hat. Anders ausgedrückt: statt interaktiv an der Textproduktion teilzunehmen, wird der 'Leser' zum Erfüllungsgehilfen der Inszenierung degradiert.
So kann man beim Publikumssieger Linie 11 durchaus nicht selbst den Ablauf der Konversation bestimmen, sondern hat den Vorgaben der Macher zu folgen und, bitteschön, in der vorgesehenen Reihenfolge auf die Akteure zu klicken. Verglichen damit ist die Freiheit des Lesers traditioneller Bücher geradezu beängstigend: jede Seite ist ohne vorherige Klickorgien frei einsehbar! In Sachen Interaktivität bleibt das Projekt deshalb gar hinter seinem Vorbild, dem U-Bahn-Roman "253" von Geoff Rymanzurück, der sowohl in Buchform als auch im Web publiziert worden ist und letztlich auch nicht viel mehr bietet als ein bisschen Hypertextstruktur.
Wobei bekannt sein dürfte, dass Hypertext bereits in den 60ern des vorigen Jahrhunderts von Theodor Holm Nelson definiert wurde als "nicht-lineares Schreiben - Text, der sich verzweigt und dem Leser Alternativen bietet und am besten an einem interaktiven Schirm gelesen wird" ("non-sequential writing - text that branches and allows choices to the reader, best read at an interactive screen"). Und was alternative Lektüren angeht, so bietet bereits Julio Cortazars Roman "Rayuela" aus dem Jahre 1963 dem Leser unterschiedliche Wege durch den Text. Freilich ist auch bei Cortazar die Freiheit des Lesers durchaus nicht grenzenlos: Will man nicht nur fragmentarisch Eindrücke sammeln, muss man sich früher oder später dem Organisationsprinzip des Autors unterwerfen und einer von zwei Wegbeschreibungen folgen.
Wer sich nur für die Gewinner der Jury- und Publikumspreise interessiert, dem sei die Seite des dtv-Verlags empfohlen. Wer dagegen sämtliche Einreichungen begutachten möchte, kommt leider nicht um die Seite von T-Online herum, die nicht nur optisch an eine Warnblinkanlage erinnert, sondern auch regelmäßig mit technischen Problemen zu kämpfen hat. Kleiner Augentrost: die Alternative von dtv ist bereits im Aufbau. Falls jemand selbst als digitaler Literat in Aktion treten will, kann er sich schon mal an die Arbeit machen: laut dtv-Verlag wird es auch 2003 einen Wettbewerb geben.
Buch: Roberto Simanowski: Literatur.digital. Formen und Wege einer neuen Literatur. dtv, München 2002. ISBN 3423243023. Taschenbuch, 194 Seiten, 1 CD-ROM, 14,50 EUR