Lockdown zu Weihnachten?

Die Akademie der Wissenschaft Leopoldina sorgt sich um das Gesundheitssystem und die Wirtschaft - und irgendwie auch um Menschenleben. Ein Kommentar

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Trotz des Teil-Lockdowns steigen die Infektionszahlen weiter und bewegen sich auf hohem Niveau, die Kliniken kommen an ihre Belastungsgrenzen und schlagen Alarm. In dieser Situation haben sich die Mitglieder der Akademie der Wissenschaften Leopoldina zu Wort gemeldet und einen harten Lockdown über die Feiertage gefordert.

Im Gegensatz zur ersten Welle, in der die Vorschläge dieses Gremiums weitgehend ignoriert wurden, finden sie nun große Resonanz in der Politik bis hin zur Kanzlerin und in den Medien. Sie gelten geradezu als die ideale Lösung des aktuellen Pandemie-Problems und zeigt einmal mehr, worin das Problem besteht und wie sich die Wissenschaft dazu stellt.

Der Stufenplan

Die versammelten Wissenschaftler der Akademie und unter ihnen viele Größen der Virologie sehen sich angesichts der Entwicklung der Pandemie herausgefordert:

In den letzten Tagen starben mehr Menschen mit dem Coronavirus als 2019 im Straßenverkehr. Die Krankenhäuser und insbesondere das medizinische Personal sind bereits jetzt an der Grenze des Leistbaren. Für eine Dauerbelastung auf diesem Niveau sind das Gesundheitssystem und auch die großen Kliniken nicht eingerichtet. Für die Eindämmung der Pandemie vor Ort so wichtigen Gesundheitsämter sind überlastet.

Leopoldina, Nationale Akademie der Wissenschaften, 7.Ad-hoc-Stellungnahme - 8.Dezember 2020

Als Kritik an der Politik, die es gewohnt ist, mit Leichenzahlen im Straßenverkehr oder bei Zivilisationskrankheiten zu rechnen, oder an der mangelnden Ausstattung des Gesundheitssystems und der Gesundheitsämter sind die Ausführungen nicht zu verstehen, sondern als Aufruf zum Handeln der Politik. Dazu unterbreiten sie dieser auch gleich einen Vorschlag in Form eines bundesweiten Lockdowns in zwei Stufen:

Ab dem 14. Dezember 2020 sollte die Schulpflicht aufgehoben und nachdrücklich zur Arbeit im Homeoffice aufgefordert werden. Ab dem 24. Dezember sollten zusätzlich alle Geschäfte schließen, die nicht der Versorgung mit Lebensmitteln, Medikamenten und anderen lebensnotwendigen Waren dienen. Soziale Kontakte sollten auf einen sehr eng begrenzten Kreis reduziert werden.

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Zwar erscheint dieser Plan angesichts der jetzt schon bedrohlichen Infektionszahlen und Engpässen in den Kliniken etwas seltsam, fordert er doch diese Maßnahmen nicht möglichst schnell, sondern kennt genaue Daten, ab wann er greifen soll, deshalb liefern die Akademiker auch die Begründung mit:

Die Weihnachtszeit und der Jahreswechsel bergen mit ihren traditionell verstärkten und engen sozialen Kontakten große Risiken für eine weitere Verschlechterung der Infektionslage. In ihnen liegt aber auch die Chance, einen großen Schritt voranzukommen, um die Situation zu verbessern - sie sind eine Zeit der Entschleunigung in Wirtschaft und Gesellschaft. Bildungseinrichtungen haben Weihnachtsferien, die Produktionstätigkeit in vielen Unternehmen ist deutlich reduziert, Behörden sind weitgehend geschlossen. Diese Rahmenbedingungen erleichtern eine Eindämmung der Pandemie, wenn wir auch im privaten Umfeld äußerste Achtsamkeit und Vorsicht walten lassen.

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Pandemiebekämpfung im Kapitalismus ist eben keine einfache Angelegenheit. Führen doch Kontaktbeschränkungen immer auch zu Einschränkungen der Wirtschaft und des Geschäfts, auf die sich diese Gesellschaft gründet. Deshalb sind alle Mittel zur Pandemiebekämpfung auch darauf zu begutachten, welche Auswirkungen diese auf das Geschäftsleben haben.

So wurde mit dem Teil-Lockdown das Geschäftsleben sortiert in Geschäftsbereiche, die für die Nation wichtig sind und daher weitergehen müssen. Die Freizeitindustrie gehört nicht dazu, sie ist als verzichtbar eingestuft und wurde daher brach gelegt - was vielen Bürgern die Existenz kostet. Schulen wurden offen gehalten, weil die erste Welle gezeigt hat, dass die Eltern als Arbeitnehmer überfordert werden, wenn sie auch noch für die Betreuung ihres Nachwuchses in die Pflicht genommen werden.

Allen Wohl und wenig Weh

Der Vorschlag der Weisen greift alle diese Notwendigkeiten auf und entdeckt in der Weihnachtszeit den idealen Zeitraum für einen strengen Lockdown, schließlich sind dort eh Ferien, die man verlängern kann. Das stellt zwar die Eltern erneut vor Probleme, aber der Zeitraum ist überschaubar und die Eltern haben in der Zeit selber oft auch frei.

Mit der Forderung nach Homeoffice machen die Wissenschaftler deutlich, dass das Geschäftsleben natürlich erst einmal weitergehen soll, bei gleichzeitiger Reduktion der Kontakte. Wo dies nicht möglich ist, bleibt demnach alles beim Alten, auch wenn damit Infektionsgefahren aufrechterhalten bleiben. Die Fleischindustrie kann eben nicht im Homeoffice betrieben werden. Schließlich arbeitet die Fleischindustrie nicht nur für den Weihnachtsbraten, sondern liefert einen bedeutenden Beitrag zur deutschen Exportwirtschaft. Das Gleiche gilt für die Logistikunternehmen, die gerade zu Weihnachten gefordert sind.

Die Geschäfte schließen kann man natürlich erst, wenn das Weihnachtsgeschäft gelaufen ist, von daher der Stufenplan. Und da viele Unternehmen zwischen Weihnachten und Neujahr sowieso schließen und Behörden ebenso, trifft ein solcher Lockdown die Wirtschaft kaum. Und dazu haben die Wissenschaftler denn auch gleich die passenden Berechnungen angestellt:

Verschärfte Maßnahmen sind auch aus wirtschaftlicher Perspektive sinnvoll: Zwar erhöhen sich durch einen strengeren Lockdown kurzfristig die Wertschöpfungsverluste, aber zugleich verkürzt sich der Zeitraum, bis die Neuinfektionen so weit gesunken sind, dass Lockerungen möglich werden. Sinnvoll ist es dabei, eine Reproduktionszahl im Bereich 0,7-0,8 anzustreben. Ohne verschärften Lockdown in der Weihnachtspause besteht die Gefahr, dass der aktuelle Teil-Lockdown mit seinen Beschränkungen für Monate aufrechterhalten werden muss. Dies würde neben ausfallender Wertschöpfung auch zu hoher Belastung der öffentlichen Haushalte führen, weil die geschlossenen Unternehmen Überbrückungshilfen benötigen.

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Auf die Art und Weise kann man auch zu Ausdruck bringen, dass Rücksichtnahme auf die Gesundheit der Bevölkerung sich nicht mit den Notwendigkeiten der Wirtschaft verträgt und die Pandemiebekämpfung immer eine Schadensabwägung zwischen in Kauf zu nehmenden Kranken, Toten und Schäden der Wirtschaft darstellt.

Mit ihrem Vorschlag wollen die Wissenschaftler allen Seiten Rechnung getragen haben: der Pandemiebekämpfung, dem Interesse der Wirtschaft und dem öffentlichen Haushalt. Dass den Nöten der Wirtschaft immer Rechnung zu tragen ist mit staatlicher Unterstützung gilt als Selbstverständlichkeit, für den normalen Bürger gilt dies nicht. Ob dessen Nöte ihre Berechtigung auf eine Unterstützung besteht, ist bis in den letzten Cent ausgerechnet und muss sich erst auch immer verdient werden. So sind Sozialleistungen immer verknüpft mit Ansprüchen, die erfüllt sein müssen, der einfache Verweis auf eine Notlage reicht dort nicht aus.

Die Nationale Akademie der Wissenschaften

Die Vertreter der Nationalen Akademie der Wissenschaften machen mit ihrer Ad-hoc-Stellungnahme deutlich, was es heißt, nationaler Wissenschaftsvertreter zu sein. Da ist man oder frau nicht einfach Virologe und untersucht Viren und ihre Verbreitung, sondern stellt seine Kenntnisse gleich in den nationalen Dienst.

Das bedeutet eben auch, dass es zum Beispiel bei der Pandemiebekämpfung immer auch darum geht, die Bedingungen, unter denen diese stattfindet, mit zu berücksichtigen. Dann ist es eben selbstverständlich, dass in einer Pandemie nicht einfach alle Kontakte bis auf die Versorgungsleistungen für die Bevölkerung eingeschränkt werden können, sondern dann gilt es, bei der Pandemiebekämpfung auch immer wieder die Notwendigkeiten des Geschäftslebens mit zu berücksichtigen. Diese tauchen dann auch nicht als ein Hindernis in der Pandemiebeschränkung auf, sondern als ein ebenso berechtigtes Anliegen wie das der Gesundheit. So gilt in diesen Abwägungen ein Menschenleben gleich viel wie das Interesse an der Vermehrung des Vermögens durch wirtschaftliche Betätigung.

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