Loslabern, loslegen, los jetzt!
Literatur als Immediacy: Die deutschen Medien feiern den Punk und den 70. Geburtstag des Romantikers Rainald Goetz. Zu Recht.
Je weniger die Welt so ist, wie von der Theorie vorhergesagt, umso sicherer sind sich die Polittheoretiker, daß ihre Theorie stimmt, die Welt in Wirklichkeit doch so ist, wie sie sagen, spätestens in der Zukunft so sein wird; Unbeirrbarkeit, Hochmut, logeleihafte Beweise. Wie ich das schöne blaue Buch von Peter Hacks sehe, Zur Romantik.
Rainald Goetz, "Journal 2019"
Das Schreiben von Rainald Goetz ist ein Schreiben gegen das 'Verschwinden. Seit seinem ersten Roman "Irre", der 1983 erschien, seit frühen Theaterstücken wie "Katarakt" ist der Sound von Goetz so unverwechselbar wie vorläufig, wie zeitgebunden, gegenwartsabhängig. Darum sie die Tagesprodukte der Medienmaschinerie für diesen Autor wichtiger als für die meisten anderen.
Jetzt, zum heutigen 70. Geburtstag des Autors schlägt die Gegenwart, präzise gesagt: Das deutsche Feuilleton zurück, und zwar so, wie Goetz ihr begegnet: Mit überraschender Liebe.
Der interessanteste, weil distanzierteste Beitrag stammt von Paul Jandl in der NZZ
Den Zuhörern am Berliner Wissenschaftskolleg hat Goetz geschildert, wie ihm bei der Lektüre der deutschen Feuilletons im Frühjahr 2022 der Weltzustand klar wurde:
"Endlich konnte ich den historischen Moment vom August 1914 wirklich nachempfinden, die kollektive Bereitschaft zum Krieg, so hatten die Leute das damals also erlebt, so sind sie hineingerannt in ganz Europa in diesen Großen Krieg, aus einer solchen Stimmung heraus, wie sie jetzt andeutungsweise wieder herrschte."
Wirklich? 2022 hat eine kollektive Bereitschaft zum Krieg geherrscht?
Paul, Jandl, NZZ
Die NZZ möchte es nicht wahrhaben müssen. Aber im Arbeitsjournal des Jahres 2019, das im Mai-Heft 2024 der auch nicht mehr bellizistischen Zeitschrift Merkur veröffentlicht wurde, schreibt Goetz:
Das ist so schwer auszuhalten am Krieg: dass er für die, die ihn überleben, vielleicht sogar in ihm triumphieren, eine herrliche, großartige Sache ist, inhärent jugendlich; von denen aber, die in ihm umkommen, an ihm leiden, als Ältere, Angehörige, Randbeteiligte ihm ausgesetzt und unterworfen sind, als etwas absolut Furchtbares erfahren wird, elend und verbrecherisch.
Goetz brütet über neuen Weltzugriffen. Dietmar Dath in der FAZ schreibt dagegen nicht über Goetz, sondern nutzt diesem Vorwand, um lieber sich zu meinen:
Ausdruck der Idee absoluter Ungleichzeitigkeit von Literatur und Tagespublizistik. Am medienaktuellen Wort stirbt Wahrheit schneller ab als an gesuchteren Wortsorten.
Dietmar Dath, FAZ
In der SZ ist Jens-Christian Rabe gönnerhafter:
Es könnten sehr gute Jahre für ihn kommen. Gerade jetzt. In der Antrittsvorlesung zu einer Dozentur an der Freien Universität Berlin schrieb er 2012 zur Wiedergeburt der "alltäglichen Praxis des Schreibens" im Zeitalter der elektronischen Medien:
"Was da ununterbrochen von allen geschrieben wird, an Mails, SMS, in Foren, Blogs, für Twitter und auf Facebook, hat aber auch zugleich die Standardisierung, das Formelhafte, die Sprüche und Spruchhaftigkeit extrem befördert, so daß es für praktisch keinen Gedanken, für keine Erfahrung, für keine Lebenssekunde einen Hiatus von Sprachlosigkeit noch gäbe."
Der Siegeszug des Audiovisuellen hat die Formelhaftigkeit unserer Äußerungen eher noch verstärkt. Die eindrücklichste Erinnerung daran, dass man sich diesem Schicksal nicht einfach so ergeben muss, ist Rainald Goetz' Kunst, immer neu loszulegen wie neu.
Jens-Christian Rabe, SZ
Schließlich Die Zeit:
Das Aufgestachelte, Vibrierende, das JETZT, das aus jedem Goetz-Satz herausbricht – es gibt keinen anderen deutschen Schriftsteller, der es so sehr verkörpert. ... Goetz' Lebensarbeit findet innen wie außen statt. Innen: in der Anstrengung, das Denken zu verschriftlichen. Außen: im Ehrgeiz, den Weltmitschreiber auch zu verkörpern. Er ist zugleich Darsteller und Skulptur seiner selbst.
Peter Kümmel, Zeit
1983 erschien der Roman "Irre". Erstmals atmete ein Buch das Wissen, dass Literatur nicht mehr literarisch ist und deswegen Schreiben nicht mehr so schön sein kann, wie es früher einmal war. Seit diesem Buch driftet Goetz durch die Zeiten.
Er hat einen Doppeldoktor als Arzt und Historiker und längst die Roman-Form verabschiedet zugunsten von Chroniken, die er "Tagebücher" nennt, die aber eher den Augenblicksprotokollen eines Alexander Kluge ähneln.
Dass er sich damals beim Bachmann-Wettbewerb vor laufenden Kameras in die Stirn schnitt, war ein Beglaubigungsritual, das die andere Seite des Punks Goetz zeigt: Er ist ein Romantiker. Blut muss fließen, und zwar das eigene.
Kluge und Kleist also und dann Bohrer. Karl Heinz Bohrer, der Theoretiker des Augenblicks und der Kunst als Mittel zum Selbstverlust wie zur Selbstbehauptung im Jetzt.
Heute wird Rainald Goetz 70 Jahre alt. Man kann die nächsten Texte kaum erwarten.
Rainald Goetz: wrong. Textaktionen; Suhrkamp, Berlin 2024
Rainald Goetz: Lapidarium. Stücke; Suhrkamp, Berlin 2024
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