Marinus van der Lubbe - der Heilige der Negativität
Eine moderne Theorielegende
In diesem neuen Essay beschäftigen sich Agentur Bilwet mit dem Leben und Tod von Marinus van der Lubbe. Ironischerweise sagt der Name van der Lubbe in Deutschland kaum jemandem etwas, obwohl er doch so entscheidend in die deutsche Geschichte eingegriffen hat. Van der Lubbe hat 1933 den Deutschen Reichstag in Brand gesetzt und damit indirekt die Weimarer Republik beendet. In den Niederlanden allerdings ist dieses Jahr Marinus-van-der-Lubbe-Jahr, mit Theaterstücken, einem Film und neu entstandenen Fanclubs. In Leipzig, wo van der Lubbe angeblich anonym begraben liegt, wurde dieses Jahr ein Denkmal enthüllt. Dennoch hat dies in Deutschland bislang noch zu keiner größeren Resonanz geführt. Die folgende "Theorielegende" von Agentur Bilwet könnte da vielleicht Abhilfe schaffen.
Jesus hat nie existiert. Damit kann man Rinus also nicht vergleichen.
Koos Vink
Einem Erzählstrang von Hermann Broch folgend, kann sich ein kleiner Verdruß beim Einsteigen in eine volle Stadtbahn am Montag morgen bereits vor der nächsten Haltestelle zu einer Weltverschwörung an der Schwelle zum Ausbruch auswachsen. Man wird auf dem Bahnsteig angerempelt, und ehe man sich's versieht, plant man, den Zug in die Luft zu sprengen, was dann wie ein Funke überspringt und in einer Kettenreaktion zu nichts geringerem als der Explosion des Weltgeschehens führt. Dem wird das Merkmal der berechtigten Wut zugeschrieben. Hat man einmal den angestauten Demütigungen nachgegeben, bricht die Raserei aus, die Kontinente zum Auseinanderdriften bringt. Ist sie ihres Stachels beraubt, folgt eine pyrotechnische Glanzleistung. Das muß nicht immer der Reichstag sein. Sie kann auch im brennenden Mülleimer stecken bleiben, ein flame war auf dem Internet, eine Granate unter dem BMW eines Künstlers, ein schlechter Trip, der im Höllenfeuer endet, Irritationen im Beziehungsumfeld, die zum Abfackeln der Einfamilienwohnung führen, das Feuerzeug, das vergeblich den Bezug der Bussitze abtastet. Es kann auch mit einer in Schutt und Asche gelegten Bibliothek enden, die schwelende Zigarette, die schließlich die Matratze erreichen will, die umgefallene Kerze, welche die Arbeit von zehn Jahren mit einem Schlag verkohlt. All diese Wut scheint selten zu etwas zu führen. Doch diese ökonomische Kritik von Kosten und Nutzen vertut sich letztlich. Hat man den Schwellenwert des Zorns überschritten, macht auch die Legitimierungspflicht keinen Sinn mehr. Die Frage "wofür ist das denn nötig?" gehört in die Welt, auf die man böse ist, und kann daher nicht beantwortet, nur bestraft werden.
"Ich dachte, herumlaufen, essen und schlafen ist doch keine aktive Teilnahme."
Das Wort hat Marinus van der Lubbe, der Auskunft über den Grund seiner Aktion am Platz der Republik am 27. Februar 1933 gibt.
"Meiner Meinung nach mußte unbedingt etwas geschehen, um gegen dieses System zu protestieren. Da die Arbeiter damals nichts unternehmen wollten, wollte ich einfach etwas tun. Einen Brand legen hielt ich für ein passendes Mittel."
Früher wurde diese Mentalität als blinder Aktionismus abgetan, nur hatte der Aktionsdrang in diesem Fall eine gründliche Auswirkung. Rinus van der Lubbe ist die Ausnahme von der Regel, die behauptet, daß Geschichte nicht gemacht, nur durch den Einzelnen erfahren werden kann. Doch ist es ihm gelungen, alleine die Weimarer Republik zu beenden, und er widerlegte damit die herrschende Vorstellung jener Zeit, daß dieser Hanswurst von Hitler nach ein paar Monaten von selbst wieder verschwinden würde, - mit allen ihren Folgen. Rinus steht oben auf der Liste der hundert historischen Figuren, die diesem Jahrhundert seinen typischen Charakter zu geben wußten. Bis vor kurzem wurde er noch nicht als Genie, Künstler, Weltautor, politischer Philosoph oder Staatsmann erkannt, aber jetzt wissen wir es besser. Durch Forschung in den geöffneten DDR-Archiven ist erst kürzlich die Wahrheit ans Licht gekommen, und in unserer Zeit der Medienästhetik wurde Marinus sogleich zu einer Figur transformiert, an der man sich messen kann. Man beschäftige sich einmal mit Leben und Arbeit dieses Internationalisten.
Der einsame Zorn ist der Kern des Werkes von Marinus van der Lubbe:
"Ich bin selbst links orientiert, und bis 1929 war ich Mitglied der kommunistischen Partei in Holland. Es gefiel mir nicht, daß die Partei die Führungsrolle unter den Arbeitern spielen und die Führung nicht den Arbeitern selbst überlassen wollte. Ich sympathisiere mit dem Proletariat, das den Klassenkampf führt. Seine Führer müssen an der Spitze stehen. Die Masse muß selbst entscheiden, was sie tun oder lassen muß."
Wut und Ideologie stehen auf gespanntem Fuß. Erhabener Zorn setzt sich ab gegen die Denkvorschriften, die bestimmen, was richtig und vor allem was falsch ist. Selbst die freizügigste Variante des Anarchismus der Tat ist zu restriktiv für den Begriff dieses postideologischen avant la lettre. Es erwies sich als die dubiose Aufgabe der Pannekoek-Anhänger (der niederländische Rätekommunist Pannekoek war in den zwanziger Jahren Professor der Astronomie), den Namen "Van der Lubbe" durch die zweite Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts mitzuführen - nun jedoch stehen wir am Vorabend der großen Van der Lubbe-Renaissance, mit allem elektronischen Merchandizing, das dazu gehört, via vanderlubbe.com (mit den Van der Lubbe-T-Shirts und -Kappen und authentischen Remakes seines "Kohlenanzünders" - "der mit der roten Flamme"). Besucht die virtual gallery mit den Van der Lubbe-Bildern und -Objekten, den Fotos, den MP3-files mit vorgelesenen Van der Lubbe-Gedichten. Oder spielt Cyberhammer!, wo ihr durch einen virtuellen Reichstag rennt, mit dem Ziel so viele Brandherde wie möglich zu legen, verfolgt von Göring und Dimitrov. So erhält man ein ordentliches Bild von Marinus in den Neunzigern.
Weniger bekannt ist das nomadische Leben, welches Van der Lubbe führte. Unser Früh-Deleuzianer unternahm 1931 eine Reise zu Fuß nach China, um sich der Roten Armee Maos anzuschließen. Anfänglich war es mühevoll, per Anhalter durch Deutschland zu kommen, weil die Reichsautobahnen fehlten. In Berchtesgaden saß er vier Tage in Haft wegen Landstreicherei. Diese Reise, über Klagenfurt, Vukovar und Belgrad, findet schließlich an der bulgarischen Grenze ihr Ende. Ein Jahr später endet seine Sport- und Studienreise in die Sowjetunion wiederum, diesmal in einem polnischen Gefängnis. In dieser Hinsicht ähnelt er deutlich seinem Zeitgenossen Franz Jung, der als literarischer Loser sein Werk ebenso in Zellen, Garküchen und Männerheimen schrieb. Wie Anne Frank hinterließ Marinus nur ein (Reise)Tagebuch; ein reichhaltiges Dokument, für viele Hollywood-Adaptionen geeignet. Nach dem Anne Frank-Haus in der Prinsengracht in Amsterdam besucht das Lenin-Haus in der Uiterste Gracht 56 in Leiden, wo bald ein Besucherzentrum eröffnet wird, und macht euch danach auf den Weg... Ihr seid revolutionär und wollt etwas. Die Wut hat enorme Energie hervorgerufen, die zu groß ist für die existierende politische und kulturelle Kanalisierung gesellschaftlicher Unzufriedenheit. Ihr wollt dort sein, wo es geschieht. In China, Rußland, Berlin anno 1933. Es ist nie genug. Marinus will noch weiter, er will das Festland hinter sich lassen und meldet sich zur Teilname an einer Schwimmtour durch den Ärmelkanal. Das Herumziehen macht aus Marinus einen Nichtbenennbaren, dessen Unbestimmtheit der Journaille, den Parteiideologen, Ärzten, Sympathisanten, der Gesetzesmacht unbegreiflich bleibt, bis hin zu den heutigen Kunstkritikern. Marinus hatte entdeckt, daß man seinen eigenen Provinzialismus nur dadurch bekämpfen kann, daß man Konfrontation mit dem Provinzialismus der anderen sucht. Groß sein in einer kleinen Zeit erfordert eine Strategie des Meta-Gehens, welche durch den Überblick über verschiedenen Mikro-Politiken das Festlegen einer eigenen Mega-Linie erlaubt. Das bleibt nicht auf einen mentalen Prozeß bzw. eine ästhetische Erfahrung beschränkt. Marinus war sich bewußt, daß er auch wirklich etwas tun mußte, um das Wunder geschehen zu lassen, welches die Welt endgültig verändern sollte. Als er im Februar Ž33 Berlin besucht, um sich ein Bild der revolutionären Situation vor Ort zu machen, ist er so enttäuscht, daß er die Stadt wieder verläßt, Richtung Heimat. Aber nach zwanzig Kilometern beschließt er, daß, wenn niemand sich getraut, etwas zu tun, er selbst eine Tat vollbringen muß. Er kehrt um und der Rest ist Geschichte.
Wenn es nichts aufzubauen gibt, fragt man sich: "Gibt es nichts abzureißen?" Dieses existentiell-politische Moment ist im heutigen neoliberalen PC-Zeitalter der guten Absichten im Tabubereich gelandet. Noch extremer als in vorausgehenden Jahrzehnten wird dieser Wille zum Vernichtenden Kommentar ("der Konsum der Annehmlichkeiten") von vornherein in einer kriminellen Umgebung plaziert. Gangsta Rap ist dann wieder eine ästhetische Verarbeitung der allgemeinen Kriminalisierung des gesunden Drangs, ab und zu kotzen zu müssen. Für die Vorkriegs-Generation war Gewalt noch eine soziale Frage. Für die Generation der Ž68er wurde sie sehr schnell zu einem moralischen Dilemma. Heute ist Gewalt keine inhärente Abweichung von der Normalität mehr, sondern ein bösartiger Einbruch von außerhalb. Sie kommt vom Anderen, dem Alien, dem Muslim, dem Extremisten, dem Fundamentalisten: all denjenigen, denen nicht mehr geholfen werden kann, sondern die nur noch ausgeschaltet werden müssen. Unter dem Diktat des Museums lebend, darf nichts mehr abgerissen werden. Die Vorstellung, daß es Dinge um uns gibt, die dringend abgeschafft werden müssen, ist hinter den Horizont verbannt. Die Sucht nach Therapie nimmt einen solch großen Bereich ein, daß die Dinge nur noch von innen heraus renoviert werden können. Niemals wird der Therapeut sagen: nimm die Pistole! Natürlich kann alles an der Wirtschaft oder am öffentlichen Transportsystem verbessert werden - aber wer getraut sich noch, für die Schließung des Effektenhandels oder der Umgehungsstraßen zu plädieren? Es ist das tragische Schicksal der Deleuzianer, daß die Gruppe, welche am besten begreift, von was Mille Plateaux handelt, die zeitgenössischen Börsenanalysten sind. Keine einzige Theorie oder Praxis, wie radikal sie sich auch präsentiert, kann sich gegen die Übernahme durch den Mainstream verwehren.
Gibt es noch Hoffnung für die Negativität, wenn jede Kritik, jede Ablehnung zu einer eigenen market opportunity umgedeutet werden kann? Und hier ist Marinus van der Lubbe erneut ein gutes Beispiel. Es existieren zwei Archetypen von Marinus. Der erste ist der eines jungen Arbeiters in zerknittertem Arbeitsanzug, der mit einer Kappe auf dem Kopf oder Streichhölzern in der Hand die Sache schon in Brand stecken wird. Das zweite Bild ist von Marinus während seines Gerichtsverfahrens von April bis Dezember 1933, in dessen Verlauf er seine Richter niemals anschaute, sondern stets seinen Kopf gesenkt hielt - so konsequent sogar, daß, als er am 17. November doch einmal aufschaute, auf den ersten Seiten der Tageszeitungen darüber berichtet wurde. Van der Lubbe war bis in den März stolz auf seine Tat und legte der Polizei auch eine ausführliche Erklärung ab, wie und warum er den Reichstag in Brand gesteckt hatte. Das war sein Heldenstadium. Als ihm Mitte März allerdings klar wurde, daß Faschisten und Kommunisten, die ihn beide als Werkzeug einer Verschwörung der Gegenpartei bezeichneten, sich seine Tat aneigneten, und er zerrieben wurde zwischen den Mühlsteinen des Nationalsozialismus (Göring, der den Prozeß beherrschte) und des Stalinismus (Dimitrov, der als Kommunist verhaftet wurde, weil er angeblich Van der Lubbe zu seinen Taten angestiftet habe) - nahm er seine gebeugte Haltung ein. Auch von Che Guevara kennen wir zwei Bilder: das stolze Haupt mit dem schwarzen Barett mit rotem Stern und die halb entblößte Leiche, deren willenloses Haupt nach oben gezerrt wurde. Van der Lubbe nahm intuitiv die Haltung des unterworfenen, gebrochenen Arbeiters an, der mit seiner Unterdrückung kollidiert ist, wie zum Beispiel auch zu sehen bei den unglücklichen Arbeitern der unterirdischen Stadt in den Eröffnungsszenen von Fritz Langs Metropolis. Er wurde dadurch mehr als ein Antiheld, er drückte mit seiner vornüber gebeugten Haltung nicht nur aus, daß er sich dem Rechtsverfahren unterwarf, das ihm seine Heldentat entäußerte, es ging noch einige Ebenen tiefer - das ganze Geschehen interessiert ihn einen feuchten Dreck. Van der Lubbes gebeugte Haltung drückt ein Unglück aus, welches das Unglück weit hinter sich läßt, bodenlos geworden ist, so bodenlos, daß Van der Lubbe die ganze Zeit nach unten schaut, um zu sehen, wo der Grund unter seinen Füßen geblieben ist. Zugleich spricht aus seiner tristen Haltung auch eine ungeheure Kraft - denn die totale Ablehnung ist das einzige Mittel, das Marinus noch in den eigenen Händen hat. Seine Haltung drückt den Sieg des Negativen aus, des negativen Denkens, das ausschließlich ablehnt, ohne die eine oder andere konstruktive Alternative zu bieten (die doch stets in einer Katastrophe endet - siehe Kommunismus und Kapitalismus). Rinus van der Lubbe ist der Heilige der Negativität, Darsteller des vollkommenen, perfekt gewordenen Unwillens. Einmal gab er allem Zorn nach, der in ihm kochte, aber dann war er stärker als seine ausgebrochene Raserei, und das erreichte er dadurch, daß er schwächer war als das allerschwächste Lamm, das zur Schlachtbank geführt wurde. Es ist keine Zufall, daß die Nazis ihn köpften, denn der gesenkte Kopf war der größte Stein des Anstoßes, ein stärkeres Symbol des Widerstandes als der Reichstagsbrand, den er ganz allein zu stiften vermocht hatte. Der gesenkte Kopf war ein Symbol, das wirklich ihre Wut auslöste (Dimitrov betrachteten sie als ihresgleichen und der wurde dann auch freigesprochen). Als das Fallbeil auf seinen Hals niederging, schlug es auch sein Kinn ab, denn selbst unter der Guillotine hielt Rinus seinen Kopf gesenkt. Marinus van der Lubbe - das ist der Triumph des Unwillens.
Siehe auch das Textarchiv von Agentur Bilwet.
Übersetzung: Petra Ilyes