Medien: Agenda Setting auf Kosten der Ärmsten
Seite 2: Sport wichtiger als der Globale Süden
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Eine Langzeitstudie mit dem Titel "Vergessene Welten und blinde Flecken" hat über 5.500 Sendungen der Hauptausgabe der Tagesschau aus den Jahren 1996 und 2007 bis 2021 sowie Berichte verschiedener in- und ausländischer Medien untersucht.
Die Ergebnisse sind sehr ernüchternd: Der größte Teil des Globalen Südens spielt in der Berichterstattung fast gar keine Rolle.
Berichte über den globalen Hunger und die kritische Nahrungsmittelversorgung rangieren offensichtlich weit hinten auf den Prioritätenlisten der Redaktionen. In der ersten Jahreshälfte 2022 beschäftigte sich die Tagesschau in etwa 1.030 Minuten mit dem Ukraine-Krieg und seinen Folgen, in circa 287 Minuten mit der Corona-Pandemie und in nur etwa 13 Minuten mit dem globalen Hunger.
Dass in der wichtigsten deutschsprachigen Nachrichtensendung im gleichen Zeitraum dem Sport mehr als 13 Mal (!) so viel Zeit eingeräumt wurde wie dem Hungerthema, gibt zu denken.
In der Tat waren die Berichte über den Sport sogar etwas umfangreicher als über alle Staaten des Globalen Südens zusammen. Obwohl 85 Prozent der Menschen auf der Welt in diesen Ländern leben, entfielen auf sie lediglich etwa sechs Prozent der Gesamtsendezeit.
Selbst über die britischen "Royals" wurde in der Tagesschau in der ersten Jahreshälfte, also noch vor dem Tod von Königin Elisabeth II., mehr berichtet als über den globalen Hunger. Es erscheint besorgniserregend, wenn die Mitteilung, dass mindestens zehn Millionen Kinder durch eine schwere Dürre am Horn von Afrika vom Hungertod bedroht sind (so Unicef am 25. April 2022), es nicht nur nicht in die Topmeldung des Tages, sondern erst gar nicht in die Sendung schafft.
Die randständige Behandlung des Themas durch die Tagesschau ist innerhalb der deutschen sogenannten Leitmedien keineswegs eine Ausnahme, sondern der Regelfall. Auch in den Jahresrückblicken Ende 2022 fand der Hunger, wie eine Ergänzungsanalyse gezeigt hat, keine Berücksichtigung.
Es bleibt zu hoffen, dass die Medien auf die aktuellen dramatischen Zahlen und Entwicklungen gemäß ihres eigentlichen Nachrichtenwertes mit konsequentem Interesse und Top-Schlagzeilen reagieren und die Appelle der humanitären Organisationen medial nicht ungehört verhallen.
Wie es besser geht: Klimawandel
Das Beispiel Klimawandel hat gezeigt, dass signifikante Maßnahmen von politischen Entscheidungsträgern manchmal erst als ultimativ notwendig wahrgenommen werden, nachdem auch die Medien das Thema immer wieder in den öffentlichen Diskurs tragen.
Eine Verantwortung für die Lösung der Problematik tragen daher auch die Medien. Ihnen obliegt die Aufgabe, mit nicht durch Wiederholung erlahmender Konsequenz und mit "Alltagsresistenz", auf dieses gewaltige globale Thema aufmerksam zu machen und dadurch auch soziopolitische Entscheidungsprozesse in Gang zu setzen.
Wie lange könnte sich die Politik der Lösung "des größten lösbaren Problems" verweigern, wenn die führenden Medien den globalen Hunger zu ihrem Topthema machen würden?
Die entscheidende Frage lautet daher nicht nur, wie viel Geld uns eine Welt ohne Hunger wert ist, sondern auch wie viel mediale Zeit und Aufmerksamkeit.
Die vollständige Studie "Vergessene Welten und blinde Flecken" über die mediale Vernachlässigung des Globalen Südens, eine Videozusammenfassung, eine Unterschriftenpetition sowie Informationen zu einer auf der Untersuchung beruhenden Poster-Wanderausstellung können kostenlos eingesehen, beziehungsweise heruntergeladen werden unter: www.ivr-heidelberg.de.