Medien: Versteckte Meinungsäußerungen in Nachrichtentexten

Collage zeigt einen sitzenden Mann vor einem Bildschirm. Von dort wird ihm etwas in den Kopf gekippt.

Bild: Anton Vierietin /Shutterstock

Dramatik als Faktum: Wortwahl in der Berichterstattung – Wie unpersönliche Meinungsäußerungen als Tatsachen präsentiert werden. Eine Analyse.

Die Trennung von Fakten und Meinungen gilt im Journalismus immer noch als Tugend. Kein Lehrbuch kommt ohne entsprechenden Hinweis aus und unterscheidet die verschiedenen Darstellungsformen unter anderem anhand ihres Meinungsgehalts.

Wobei es selbstverständlich nur um die Meinungen der Autoren bzw. Berichterstatter geht. Denn von anderen vertretene Positionen und Bewertungen sind, unparteilich überbracht, als solche selbst wieder Nachrichten: Dass jemand sich so oder so geäußert hat, ist eine Tatsache.

Eindeutig auf den Autor personalisierte Kommentierungen findet man in Nachrichtentexten nicht - selbst bei der taz sind die Zeiten lange vorbei, dass Texterfasser ihre "Säzzer"-Kommentare in die Zeitung tippen durften.

"Dramatische Folgen der Wahl"

Gar nicht so selten zu finden sind allerdings nicht-personalisierte Meinungsäußerungen. Weil sie niemandem zugeordnet sind, erscheinen sie dann wie Tatsachen.

Am vergangenen Sonntag moderierte Mitri Sirin den ersten Beitrag der heute-Nachrichten zu den französischen Parlamentswahlen mit folgenden Worten an:

Innenpolitisch, aber auch auf europäischer Ebene, könnten die Wahlen dramatische Folgen haben.

ZDF heute, 30. Juni 2024

Ganz unabhängig vom Sprecher stellt sich die grundsätzliche Frage, wie Wahlen "dramatische Folgen" haben können?

Wenn es einigermaßen demokratisch läuft, können die Folgen doch nur die von den Wählern gewollten sein. Dass diese den Anhängern unterlegener Parteien und Bündnisse nicht passen, liegt in der Natur der Sache und trifft daher immer zu.

Vermutlich hielt Sirin den prognostizierten Wahlausgang für unschön, so wie auch seine Kollegin Anne Arend im folgenden Korrespondentenbericht aus Paris. Doch keiner von beiden sagte: "Ich halte einen Wahlsieg von Marine Le Pen's Rassemblement National für dramatisch."

Stattdessen wird, kurz vor Schließung der Wahllokale, Dramatik als (mögliches) Faktum gesetzt und damit das Ereignis geframt, in einen Wertungsrahmen gesetzt.

Unauffällige Meinungsäußerung in fünf Buchstaben

Solche Meinungs-Frames kommen oft sehr unauffällig daher – aus einer umfangreichen Fallsammlung zum Corona-Journalismus hier ein Beispiel der Nachrichtenagentur dpa. Sie schrieb in einer Meldung:

Trotz steigender Infektionszahlen hatten Tausende Menschen gegen die staatlichen Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie protestiert.

Die Meinung hat hier nur fünf Buchstaben: trotz. Und weil wieder niemand erkennbar ist, der seine persönliche Ansicht kund tut, kommt sie als unumstößliche Tatsache daher. Gemeint ist: Wie kann man nur?

Ganz anders läse sich der Satz mit "wegen": Wegen steigender Infektionszahlen wurde demonstriert.

Ausweislich der Transparente und Parolen wäre dies einer sachlich korrekten Beschreibung wohl nähergekommen. Denn wer die damaligen Infektionsschutzmaßnahmen für überflüssig, übergriffig oder gar kontraproduktiv hielt, demonstrierte nicht trotz, sondern gerade wegen dieser Infektionszahlen.

Persönliche Außenwarte

Das "Trotz" kam jedenfalls von einer persönlichen Außenwarte. Zur Einordnung kann dies als eine von mehreren Meinungen hilfreich sein. Doch dazu braucht es immer Menschen, die diese Meinungen vertreten, sie begründen und dafür einstehen. Einer Meinung kann man immer widersprechen - Tatsachen hingegen nicht.

Das gilt auch für die Wahlen in Frankreich. Jubelnde und Empörte können in der Berichterstattung ihren Platz finden, es sollten allerdings auch die nicht fehlen, denen das alles irgendwie egal ist. Ob oder wie dramatisch das Ergebnis dann ist, kann jeder nur für sich selbst entscheiden.

Und zumindest für die französische Innenpolitik sollte dabei die Sichtweise deutscher Kommentatoren nicht allzu bedeutend sein.