Aiwanger-Flugblatt und Sylt-Video: Skandalisierungen mit Mängeln

Zeitungskiosk

Zeitungen im Verkauf. Foto: JunkerPet, CC BY-SA 3.0

Zwei Medienskandale: Aiwangers Flugblatt und das Sylt-Video. Sie werfen Fragen zum journalistischen Vorgehen auf. Steckt mehr dahinter als nur schlechte Recherche?

Eines der Skandal-Themen im Jahr 2023 war "Aiwangers Flugblatt". Am 26. August 2023 begann in der Süddeutschen Zeitung (SZ) unter dem Titel "Das Auschwitz-Pamphlet" ein regelrechter Schreibmaschinen-Marathon, um Hubert Aiwanger, Landesvorsitzender der Freien Wähler und zugleich bayerischer Wirtschaftsminister sowie Stellvertreter von Markus Söder, Rechtsextremismus und Antisemitismus nachzuweisen.

Der Vorfall, um den es dabei ging, lag allerdings schon 35 Jahre zurück. Aiwanger wurde vorgeworfen, im Jahr 1987 als Schüler ein Flugblatt verfasst zu haben, in dem zu einem "Bundeswettbewerb - Wer ist der größte Vaterlandsverräter?" aufgerufen wurde. Bewerber sollten sich "im Konzentrationslager Dachau zu einem Vorstellungsgespräch" melden. Als Preis für den ersten Platz wurde "ein Freiflug durch den Schornstein von Auschwitz" angegeben.

Das Flugblatt wurde damals in Hubert Aiwangers Schultasche gefunden (zu den Details gab es bei der SZ zunächst keine Informationen). Als Sanktion wurde ihm aufgegeben, ein Referat zu halten. In einer Pressemitteilung nach der SZ-Veröffentlichung schrieb Aiwanger dazu: "Dies ging ich unter Druck ein. Damit war die Sache für die Schule erledigt."

Die SZ hatte keinen Beweis

Problem an der Geschichte: Die SZ hatte keinen Beweis, dass Hubert Aiwanger tatsächlich der Urheber des ‒ unbestritten existenten ‒ Flugblatts war. Im Laufe der Folgeberichterstattung mit zum Teil dutzenden Beiträgen pro Tag in den Print- und Online-Ressorts lieferte die SZ dann nach: Ein Schriftgutachten habe ergeben, dass das Flugblatt von Aiwangers Schreibmaschine stamme.

Kurz darauf bekannte sich der Bruder, Helmut Aiwanger, der wahre Verfasser gewesen zu sein.

Dies wurde allerdings von vielen Medien als Schutzbehauptung interpretiert. Zu diesem Zeitpunkt war die öffentliche Erregung allerdings schon auf ihrem Siedepunkt; immerhin stand in Bayern die Landtagswahl an. Am Ende blieb die Koalition aus CSU und Freien Wählern bestehen.

Die Sache war inzwischen einigermaßen vergessen, da landete sie letzte Woche erneut in den Medien. Denn die SZ wurde just für diese ‒ bis heute unvollendete ‒ Investigation mit dem Stern-Preis (ehemals: Henri-Nannen-Preis) ausgezeichnet; und zwar in der Kategorie "Geschichte des Jahres".

Wunderliche Auszeichnung

Aufgrund des inzwischen entstandenen Zeitabstands wunderten sich darüber nun fast mehr Journalisten als zuvor über die Story selbst. Denn die hatte zahlreiche Qualitätsmängel.

Stefan Niggemeier (Medienmagazin Übermedien) bekam auf seine Frage nach einer detaillierten Begründung für die Preisvergabe zunächst keine Antwort. Marvin Schade vom Branchenmagazin Medieninsider fragte: "Wer soll das noch verstehen?"

Weil die Kritik an der SZ-Berichterstattung auch für viele andere Skandalisierungen zutrifft, sei das Wesentliche in Stichpunkten zusammengefasst:

  1. Der erste SZ-Print-Text und insbesondere die am Vorabend veröffentliche kürzere Online-Fassung hatten für eine reine Verdachtsberichterstattung keinen Mindestbestand an Beweistatsachen, die für den Wahrheitsgehalt der Information sprachen. Aber nur diese hätten ihr Öffentlichkeitswert verliehen, wie es sowohl die Rechtsprechung als auch journalistisches Selbstverständnis fordern.
  2. Kein einziger Zeuge wurde namentlich benannt. (Das wäre sowohl für eine potenzielle Überprüfung der aufgestellten Behauptungen, gerade durch die vielen kolportierenden Medien, als auch für die Einschätzung der SZ-Leser hilfreich gewesen.)
  3. Unterschiede in den Zeugenaussagen wurden nicht kenntlich gemacht, obwohl es sie ganz offenkundig gegeben haben muss.
  4. Die Interessenlagen der anonymen Informanten wurde nicht dargelegt (Stichwort: Transparenz).
  5. Es wurde kein Tatzeitpunkt benannt (sodass man mutmaßen musste, die SZ kenne ihn selbst nicht und bleibe deshalb im Ungefähren).
  6. Die Recherche verlief ausweislich der ersten Veröffentlichungen nicht ergebnisoffen ‒ also objektiv. Der Vorwurf des "Framings" (wenn nicht gar der "Kampagne") lag auf der Hand.
  7. Meinungen wurden zu Tatsachen erklärt (und geisterten seitdem durch alle Medien). Darauf baute vor allem die gesamte Behauptung der Relevanz (die ab dem Zeitpunkt der Veröffentlichung von anderen Medien nicht mehr infrage gestellt wurde. Denn nun gab es ja ein echtes Ereignis, nämlich den SZ-Bericht). Dies kritisierte, der als Chefredakteur des Spiegel einem Blatt vorsteht, das selbst die Grenzen zwischen Tatsachen und Imaginationen stets neu auslotet:
  8. Selbst explizite Meinungen wurden keinen Meinungsträgern zugeordnet.
  9. Es erfolgte keinerlei Einordnung durch Externe ("Experten").
  10. Es gab zahlreiche Andeutungen (sonst gerne "Geraune" genannt), zu denen keine Ausführungen folgten. Beispiel aus der SZ: "Manche reden von 'Jugendsünden', manche sogar, noch bevor man das Flugblatt erwähnt hat." Welche "Jugendsünden" waren das denn, an die sich die anonymen Zeugen bei Aiwanger erinnern? Die SZ benannte keine einzige.
  11. Die "Unschuldsvermutung" des Pressekodex (Ziffer 13, die allerdings nicht zu den journalistischen Qualitätskriterien gehören kann) wurde mannigfach verletzt. Beispiel aus der SZ: "Damals, am Gymnasium, soll Hubert Aiwanger eher glimpflich davongekommen sein." Wie kann jemand "eher glimpflich" davonkommen, wenn er unschuldig sein sollte?

Soweit die Auszeichnung "Geschichte des Jahres" losgelöst von journalistischer Qualität stattfindet, könnte man den Beitrag dafür in Betracht ziehen. So allerdings wirft die Krönung der SZ-Story weitere Fragen zu den selbstregulierenden Kräften im Journalismus auf.

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