Aiwanger-Flugblatt und Sylt-Video: Skandalisierungen mit Mängeln

Seite 2: Das Sylt-Video

Zu den medienjournalistisch relevanten Nachwehen der letzten Woche gehörte auch eine Entscheidung des Landgerichts München I (26 O 6325/24) zur unverpixelten Wiedergabe des "Sylt-Videos" ‒ konkret erhandelt allerdings nur am Fall der Bild-Zeitung.

Darin war zu sehen und zu hören, wie eine Handvoll Leute im Außenbereich einer Sylter Bar auf das Lied "L’amour toujours" statt des Original-Textes "Deutschland den Deutschen, Ausländer raus" grölen.

Relevanz und die Repräsentativität des Einzelfalls prüfen

Die weitere Verbreitung dieses Videos hat das Gericht dem Axel-Springer-Verlag nun per Einstweiliger Verfügung untersagt, weil es die Persönlichkeitsrechte der klagenden und darin abgebildeten Person verletzte. Auch ihr Vorname dürfe nicht mehr genannt werden (ausführlich dazu Legal Tribune Online).

Auch zu der Sylt-Story in Schlagworten über den Einzelfall hinausweisende Feststellungen:

  1. Die rechtliche Zulässigkeit oder Nicht-Zulässigkeit von Berichterstattung ist grundsätzlich keine Qualität (= Eigenschaft) des beurteilten Beitrags. Denn die Rechtmäßigkeit kann jederzeit vom Gesetzgeber geändert werden und wird von Gerichten regelmäßig unterschiedlich gesehen (siehe Instanzenweg). Die Eigenschaft journalistischer Beiträge ist etwas anderes als ihre Bewertung durch wen auch immer.
  2. Bei der Veröffentlichung von Artikeln, Filmen oder Audios, die Persönlichkeitsrechte verletzen, kommt die Rechtsprechung immer zu spät. Längst hat jeder, den es interessiert, das Video gesehen (und ggf. privat archiviert). Die Meinungsbildung "über Sylt" ist abgeschlossen. Ein Ausweg aus dem Dilemma ist jedoch schwierig. Denn kein Demokrat kann eine staatliche Zensur wollen. Abschreckende Wirkung entfalten solche Gerichtsentscheidungen ganz unterschiedlich, u.a. abhängig vom finanziellen Vermögen.
  3. Durch den "Kolportage-Journalismus", der nacherzählt, was andere Medien bereits veröffentlicht haben, ist eine effektive Durchsetzung des Rechts praktisch unmöglich: Betroffene müssen zivilrechtlich gegen jede einzelne Publikation vorgehen.
  4. Kritik sollte sich daher ggf. an die Medien selbst und insbesondere ihr Ressort Medienjournalismus richten. Denn eine zeitnahe öffentliche Diskussion kann zwar auch im konkreten Fall nichts mehr viel richten, aber für die Zukunft vielleicht doch am ehesten die Sensibilität erhöhen. Im Fall des "Sylt-Videos" ging es dabei journalistisch vor allem um die Relevanz und die Repräsentativität des Einzelfalls.
  5. Die Diskussion über Persönlichkeitsrechte weniger Einzelpersonen verdeckt das Problem, dass Millionen Menschen mit etwas behelligt werden und sich dazu eine Meinung bilden, obwohl die Faktenlage diese Thematisierung vielleicht gar nicht begründen kann. Gleichzeitig werden grundlegende Fragen, die durchaus in dem jeweiligen Einzelfall schlummern können, nicht erörtert.

Fazit: Die Berichterstattung um "Aiwangers Flugblatt" und das "Sylt-Video" verbindet eine mediale Skandalisierung, die zu wenig Erkenntnisgewinn führt ‒ und die die Eigeninteressen der Medien bei diesen Vorgängen weitgehend auslässt.

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