Mega-Streikwelle in Großbritannien

Im Vergleich zur Thatcher-Ära ist das Klassenbewusstsein der Lohnabhängigen gestiegen. Symbolbild: Gerd Altmann auf Pixabay (Public Domain)

Am ersten Februar streikten eine halbe Million Menschen. Die größten Ausstände seit Jahrzehnten gehen weiter. Regierung Sunak reagiert mit ohnmächtiger Härte und leugnet die Probleme.

Hundert Tage ist Rishi Sunak nun im Amt des Premierministers. Die Apostrophierung "erfolgreich" fehlt in allen Analysen. Eher wirkt Sunak wie eine jener Comicfiguren, die den Brand in einer Holzhütte zu löschen versucht und nicht merkt, dass ihr eigener Schweif in Flammen steht.

Was Sunak auch anfasst, es beginnt zumindest zu kokeln. Sein Kabinett ist skandalerschüttert – Justizminister Dominik Raab ist wegen Belästigung hochumstritten, Nadhim Zahawi ist als Minister ohne Geschäftsbereich bereits wegen hinterzogener Steuern zurückgetreten, ebenso Gavin Williamson als Bildungsminister wegen Mobbing.

Auch Sunaks Wirtschaftspolitik ist in der Sackgasse. Die "Brexiteers" zwingen ihn, gefährliche Symbolpolitik zu betreiben, wie etwa die vollständige Streichung der früheren EU-Gesetze. Als wäre Chaos und Unsicherheit im Land nicht schon groß genug.

Sunaks Rolle als Parteiretter ist längst dahin. Befragungen der oppositionellen Labour ergaben, dass sich die Bevölkerung in den wahlentscheidenden Wahlkreisen über den Premier lustig macht, weil der ganz offensichtlich "out of touch" ist. Die Abgehobenheit Sunaks geht so weit, dass viele in der Partei bereits davon ausgehen, es sei ein Fehler gewesen, seinen Amtsvorgänger Boris Johnson auszutauschen. So verrückt dies klingen mag, Johnson war einfach die beste Option im Feld der Konservativen

Eisern gegen die Streiks?

Und nun auch noch die Streiks. Im Umfang müsste eigentlich von Generalstreik gesprochen werden. Der ist aber in Großbritannien verboten, denn im Mutterland des Kapitalismus darf man – ebenso wie in Deutschland – nur für sich selbst streiken. Weil nur im eigenen Interesse und nicht aus Solidarität zu anderen Gruppen gestreikt werden kann, koordinieren sich die Gruppen nun. Im Zentrum steht jeweils die eigene Lohnforderung, zugleich hat man für den Monat Februar einen gemeinsamen Streikkalender eingerichtet, der nur wenige weiße Flecken hat.

Traditionell läuft bei Streikdrohung britischen Konservativen das Wasser im Mund zusammen. Auch Sunak sah hier wohl seine Chance gekommen. Das hat etwas mit dem Erfolg von Premierministerin Maggie Thatcher in den 1980er-Jahren zu tun. Damals führte die unerbittliche Härte der "eisernen Lady" gegenüber Gewerkschaftsbossen zum angeblichen Erfolg.

Thatcher wird bekanntermaßen von Konservativen gerne beschworen und als Leitfigur gehandelt. Dabei übersieht man gerne gewisse, bedeutende Details. Thatchers damaliger Kampf gegen die Gewerkschaften unterscheidet sich vom Thatcher-Imitator Sunak in einem nicht unbedeutenden Punkt: Thatcher hatte die öffentliche Meinung auf ihrer Seite.

"Militante Kommunisten", die nichts anderes im Sinn hätten als zu streiken, war Thatchers Kurzbeschreibung für Gewerkschaften. Das war Anfang der 1980er-Jahren weitgehend Common Sense. Ob die Analyse richtig war, wäre eine längere Diskussion, nur, sie wurde von gesellschaftlichen Mehrheiten geteilt.

Thatcher griff durch. Streikende durften entlassen werden und wer als Arbeitgeber Gewerkschaften verbot, konnte trotzdem staatliche Aufträge erhalten. Thatcher wusste, dass selbst Gewerkschaftsmitglieder den Kampf gegen mache Gewerkschaftsbosse richtig fanden, weil die in deren Wahrnehmung zu mächtig geworden waren und nicht die Interessen der Arbeitnehmer vertraten.

Sunak findet keine vergleichbare Situation wie Thatcher in den 80er-Jahren vor. Die Menschen in Großbritannien fürchten sich nicht vor Gewerkschaftsbossen, sie sehen viel mehr Streikende, die viel arbeiten müssen für kümmerlichen Lohn. Der Premier steckt die letzten Fetzen Sympathie, die er noch genießt, in Brand, wenn er nun, statt auf die Sorgen der Streikenden zu hören, versucht deren Streikrecht einzuschränken.

Mit der im Januar durchs Unterhaus durchgepeitschten Erweiterung des Gesetzes zur Erhaltung der Mindestleistungen im Streikfall, soll den Gewerkschaften verunmöglicht werden, das öffentliche Leben zu gefährden oder gar lahmzulegen. Worin ja bekanntlich der Sinn einer Streikhandlung liegt.

Ob die zweite Kammer der Lords, in der die Konservativen keine ausreichende Mehrheit haben, dies Gesetz passieren lässt ist fraglich, es ist im Detail auch sehr unausgegoren. Es kann beispielsweise nicht beantworten, wie Mitarbeiter zur Arbeit gezwungen werden können, die es nicht gibt.

Einer der Gründe der Streiks liegt ja gerade in der Unterbesetzung der Krankenhäuser und Schulen. Eine klare Mehrheit der Briten (57 Prozent) sieht deshalb die Gründe für die Streiks in den Fehlern der Regierung. Sorry Rishi, das sind einfach nicht mehr die Achtziger.

Die Not der öffentlichen Angestellten

Sunak, der trotz allem versucht, mit der Härte Thatchers aufzutrumpfen, versteht auch nicht, dass er die falschen Leute vor sich hat. Das ökonomische Totschlagsargument gegen die "gierigen" Gewerkschaften war stets, dass die geforderten höheren Löhne zu höheren Preisen führen und damit die ohnehin im Moment schon sehr hohe Inflation anheizen könnte.

Nur streiken ja Beschäftigten aus dem öffentlichen Sektor. Von den Krankenpflegern bis zu den Busfahrern. Deren Löhnen stehen in keinem Zusammenhang zu Produktionskosten und dadurch steigenden Preisen.

Mehr noch, der britische Ökonom Paul Johnson rechnete der Regierung vor, wie gering die Gehaltserhöhungen gesamtwirtschaftlich ins Gewicht fallen würden. Allein die Aufhebung der zeitweiligen Herabsetzung der Mineralölsteuer würde ausreichen, um Lehrern und Krankenhauspersonal eine Lohnerhöhung im Rahmen des Inflationsausgleichs zu geben.

Aber Sunak kann nicht anders. Er muss den Hardliner spielen, der niemals verhandelt und streng den eigenen Weg in die wirtschaftliche Erholung geht, den außer ihm selbst niemand mehr erkennt. Mittlerweile ist das Vereinigte Königreich das einzige G7-Land dessen Wirtschaft schrumpft. Für die Menschen im Land ist dies alles sehr bitter.

Aktuell läuft der größte Streik des Pflegepersonals in der Geschichte des staatlichen Gesundheitsdienstes NHS. Die meisten Streikenden wirken sehr authentisch. Ihren Sorgen sind sicherlich nicht selbstbezogen. Die Mitarbeiter des Pflegepersonals stehen in aller Früh auf und beginnen die Schicht um 6 Uhr. Bis zum Abend wird durchgearbeitet.

Nach über zwölf Stunden Arbeitszeit fehlt dann meist die Kraft um noch ein eigenes, soziales Leben aufrechtzuerhalten. Menschen die ihre Arbeit viele Jahre mit großer Leidenschaft betrieben haben, kämpfen jetzt mit der "inneren Kündigung". Schlimmer noch, sie müssen sehen, dass ihre Abteilungen in einer Weise unterbesetzt sind, dass sich der Regelbetrieb einfach nicht mehr aufrechterhalten lässt.

Das ist dann nicht selten eine Frage über Leben und Tod. Die Not der personellen Unterbelegung hat im NHS das Fass zum Überlaufen gebracht. Viele der Pflegekräfte streiken zum ersten Mal und waren immer gegen Streiks. Jetzt sehen sie, dass trotz aller Lippenbekenntnisse die Tories das Gesundheitssystem ruinieren. Das Pflegepersonal streikt somit auch für seine Patienten.

Empörend ist das seit Jahrzehnten zur Anwendung gebrachte Kalkül der Politik. Menschen die ganz offensichtlich einen Beruf ergreifen, um anderen Menschen zu helfen, fühlen sich diesen gegenüber verpflichtet. Die Bereitschaft für die Mitmenschen bis zum Umfallen zu arbeiten, wurde immer frech miteinkalkuliert.

Corona hat diese Ungerechtigkeit auf die Spitze getrieben. Die Pflegenden, die ihren sterbenden Patienten in der isolierten Covid-Station bis zum Ende die Hand gehalten haben, sehen keinen Cent Lohnerhöhung, können ihre eigene Miete und Energiekosten (weil stark gestiegen) nicht mehr zahlen und müssen sich ihr Essen bei den Food Banks besorgen.

Dem gegenüber ist es Rishi Sunak etwas unangenehm im Fernsehen verklausuliert eingestehen zu müssen, dass er, als der reichste Premier aller Zeiten, selbstverständlich privatversichert ist.

Aber die Solidarisierung untereinander ist groß. Die Lehrer sammeln für die Krankenschwestern und die vorbeifahrenden Autos hupen den Streikposten aufmunternd zu. Man spürt, dass man einen gemeinsamen Kampf führt. Die Fahrer von Krankenwagen, Postangestellte, Zollbedienstete, Zugpersonal, Busfahrer, selbst die Fahrprüfer machen mit. Sie alle können aufgrund der Teuerung die eigenen Rechnungen und Hypotheken nicht mehr zahlen.

Wenn es stimmt, dass nichts so erfüllend ist wie die Arbeit für die Öffentlichkeit, weil die Gemeinschaft ein besseres Gefühl gibt als die Jagd nach dem eigenen Interesse, dann sollte das jetzt endlich mal jemand Rishi Sunak erzählen. Die streikenden Lehrer dürfen zumindest auf einen beachtlichen Erfolg verweisen: Ihre Schüler streiken mit, denn die wollen den Niedergang ihrer Schulen auch nicht mehr mitansehen.