Mehr Zensur wagen zum Schutz der Demokratie?
Um tatsächliche oder vermeintliche Fake-News zu stoppen, soll eine "Rating-Agentur" künftig Medien nach Faktentreue bewerten
Wie viele Meinungen kann eine Demokratie vertragen und welche Vielfalt sollte ein Staat zulassen? Das sind Fragen, die nicht erst seit der Corona-Pandemie diskutiert werden. Doch mit dem Aufkommen von "alternativen Medien" und dem Bedeutungsverlust der klassischen Medien, mit den polarisierenden PR-Kampagnen in den sozialen Netzwerken wird Meinungspluralismus zunehmend als Bedrohung wahrgenommen.
Die westlichen Demokratien stünden seit mehreren Jahren unter "digitalem Beschuss", heißt es in einem aktuellen Strategiepapier der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP). Inländische und ausländische Akteure versuchten die öffentliche Meinungsbildung zu ihren Gunsten zu beeinflussen und die Institutionen zu schwächen. Vor allem die Presse gerate "aufgrund der Online-Angebote großer digitaler Anbieter immer mehr unter Druck" und könne ihrem klassischen Auftrag immer weniger gerecht werden.
Verweis auf geringe Medienkompetenz
Namentlich genannt werden in dem Papier die Angebote von Russia Today oder von Sputnik; aber auch die vielen "alternativen, onlinebasierten" Medienangebote sind gemeint, die über Facebook, Youtube oder auf anderen Kanälen Bekanntheit und Reichweite erlangen. Bereits mehr als ein Drittel der Bürger beziehen demnach ihre politischen Informationen aus den sozialen Netzwerken und sie könnten Fake-News oft nur schwer von seriösen Nachrichten unterscheiden, nicht nur, weil die Formate teilweise gut gemacht seien, sondern auch, weil die Medienkompetenz vieler Nutzer bislang eher gering sei.
Als Ausweg empfiehlt die DGAP, der Staat solle die freie Presse stärken sowie den öffentlich-rechtlichen Rundfunk neu ausrichten. Künftig sollte "ein noch stärkerer Fokus auf der Bereitstellung faktengeprüfter Inhalte liegen". Darüber hinaus solle die nächste Bundesregierung darüber nachdenken, einen Europäischen Öffentlichen Rundfunk aufzubauen.
In dem Papier wird allerdings nicht reflektiert, ob es neben den zahlreichen Angeboten im Internet noch andere Gründe geben könnte, mit der Presse und ihrer Berichterstattung unzufrieden zu sein. Die Journalistin Charlotte Wiedemann hatte schon vor fast zehn Jahren in ihrem Buch "Vom Versuch, nicht weiß zu schreiben" von den Umbrüchen in der Branche berichtet. Sie schrieb vom Herdenverhalten unter Journalisten, von der Beeinflussung durch Geheimdienste oder durch die eigene kulturelle Prägung. In dramatischer Weise könne das in Auslandsberichten wahrgenommen werden:
Bei jenen Print- und Fernsehmagazinen, die heute überhaupt noch Auslandsaufträge vergeben, ist das Entstehen neuer, überraschender Erkenntnis schon im Ablauf kaum mehr vorgesehen. Für eine Arte-Dokumentation muss ein freier Filmemacher ein detailliertes Drehbuch vorlegen, um den Auftrag zu bekommen. Später besteht die Kunst darin, die Realität so zu filmen, dass sie das Drehbuch erfüllt. Bei Print-Magazinen wird ein Thema manchmal auf so vielen Konferenzen vordiskutiert, dass nachher der Eindruck aufkommen kann, die Recherche vor Ort solle nur die Farbe liefern: für das kindliche Buntschraffieren der vorgegebenen Umrisse.
Wie dieser Trend geändert und eine qualitativ hochwertige Berichterstattung gefördert werden kann, dazu schweigt das DGAP-Papier. Um das Vertrauen der Bürger in die Presse zu stärken, empfiehlt es stattdessen, eine Rating-Agentur zu schaffen, die Medien nach ihrer Faktentreue bewertet. "Eine solche Agentur müsste freilich staatsfern und unabhängig ausgestaltet sein und der Kontrolle durch Gerichte unterliegen, um den Eindruck eines ‚Wahrheitsministeriums‘ zu vermeiden", heißt es in dem Papier.
Doch die Erfahrungen mit den Faktencheckern in den sozialen Netzwerken lässt nichts Gutes erahnen. So hatte zum Beispiel eine Journalistin Anfang September auf Facebook auf eine Studie der Berliner Charité verwiesen. In dieser Studie belegten die Wissenschaftler, dass frühere Erkältungen die Immunreaktion auf SARS-CoV-2 verbessern. Für den Verweis auf diese Studie wurde die Journalistin für 30 Tage gesperrt.
Eine Sperre für vermeintliche Falschaussagen soll die Rating-Agentur nicht aussprechen. "Denkbar wäre ein Zertifizierungsverfahren, durch das sich Anbieter von Online-Nachrichten die Einhaltung und Beachtung journalistischer Standards nach dem Pressekodex bestätigen lassen könnten", empfiehlt die DGAP. Medien könnten dann wie Online-Shops eine Art Gütesiegel auf ihrer Internetseite einbinden.
"Damit das Vertrauen der Bürger in die Demokratie nicht durch Desinformation und Propaganda erschüttert wird", schlägt die DGAP zudem vor, die "bislang selbstverständliche Anonymität im Internet" abzuschaffen. Es solle darüber nachgedacht werden, zu ermöglichen, dass im Internet die Identität wie im analogen Leben festgestellt werden könne. Jeder Person könnte eine "Cyber-Identität" zugeordnet werden, so dass jeder für sein Handeln im Internet zur Verantwortung gezogen werden könne.
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