Mehr aggressive Geopolitik wagen: Hardliner drängen auf EU-Militarisierung
Ukraine-Krieg hat Wechsel von zivil auf militärisch verschärft. Das geopolitische Europa will global mitreden. Über Aufrüstung, Eingreiftruppen und Strategiepläne.
Nach der Invasion Russlands in die Ukraine im Februar 2022 hat die Nato eine Aufwertung in Europa erfahren. Gefordert wird von verschiedenen Seiten, die Militärallianz zu stärken und auszubauen. Schweden und Finnland, vormals neutral, sind der Nato beigetreten.
Neuerfindung der EU als geopolitische Großmacht
Gleichzeitig ist die Europäische Union dabei, sich als eine Großmacht neu zu erfinden, die geopolitisch und bei Kriegen stärker mitreden möchte, worauf Colin Gannon in Jacobin hinweist.
Das sieht man allein an den Ausgaben für das Militär in den EU-Mitgliedsstaaten. Im letzten Jahr waren es insgesamt 270 Milliarden Euro, so viel wie seit dem Ende des Kalten Kriegs nicht mehr, während die EU viele Milliarden an Militärhilfe an die Ukraine bereitstellte.
Die EU hat auch vor Kurzem die erste "Defense Industrial Strategy" ("Industriestrategie für den Verteidigungsbereich") vorgelegt. Während man den Green Deal herunterstufte und den Europäischen Souveränitätsfonds – eine Antwort auf Konjunkturprogramm IRA der Biden-Regierung in den USA – von zehn auf 1,5 Milliarden Euro kürzte, wird der Schwerpunkt von klima- auf verteidigungsbezogene Projekte verlagert.
Rüstung boomt, Grenzschutz militarisiert sich
Diese Schwerpunktverlagerung findet vor dem Hintergrund einer Verschärfung der Sparpolitik statt. Insbesondere Deutschland fordert strengere fiskalische Regeln. Das könnte die EU-Mitgliedstaaten dazu zwingen, ihre ohnehin schon knappen Haushaltsmittel im nächsten Jahr gemeinsam um mehr als 100 Milliarden Euro zu kürzen.
Währenddessen berichtet die Financial Times, dass "Europas Rüstungsindustrie boomt" – was den Trend hin zu Kriegswirtschaft unterstreicht. Der EU-Außenamtschef Josep Borrell zitiert derweil den lateinischen Spruch "Si vis pacem, para bellum", "Wenn man Frieden will, muss man sich auf den Krieg vorbereiten."
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Vor dem EU-Parlament verkündete die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, dass man die "Verteidigungskapazitäten" mit einem Turbolader versehen müsse und "operative Fähigkeiten, mit denen Schlachten gewonnen werden können", entwickeln müsse. Außerdem schreitet die Militarisierung der EU-Außengrenzen und der "Krieg gegen Flüchtlingen", auch außerhalb der eigenen Jurisdiktion, voran.
Die wuchernde EU-Grenzschutzagentur Frontex wurde kürzlich mit einem Budget von 5,6 Milliarden Euro ausgestattet, dem höchsten aller EU-Agenturen. Frontex operiert mehr und mehr auch außerhalb der EU, vor allem in Afrika.
Globale Strategie
Die neue geopolitische Rolle kommt nicht aus dem Nichts. Sicherlich hat der Ukraine-Krieg den Militarisierungstrend verstärkt. Doch schon das Auseinanderbrechen von Jugoslawien und die europäische Reaktion darauf führte zu einem Fokus auf Sicherheit. In darauffolgenden Verträgen und Programmen kommt das dann auch zum Ausdruck.
Es entstanden Strategiepapiere wie "European Security Strategy", "Global Strategy" oder "Climate and Defense". Nun hieß es nicht mehr: Sicherheit durch Entwicklung, sondern erst Sicherheit, dann Entwicklung. Mit der "European Peace Facility" (EPF) unterstützte man ausländische Militärs mit Ausbildung und Waffen.
Nach außen wurden die Hilfen als Anti-Terror- oder Anti-Migrationsoperationen verkauft. Doch gegenüber dem britischen Guardian gab ein EU-Offizieller zu, die Maßnahmen seien ihrem Wesen nach rein geopolitisch.
Schnelle Eingreiftruppe
Zugleich wurde immer wieder die Idee von europäischen Streitkräften zirkuliert. Im Mai 2022, kurz nach Ausbruch des Ukraine-Kriegs, einigten sich die EU und die Mitgliedsstaaten formell auf den sogenannten "Strategic Compass".
Neben detaillierten strategischen Ausführungen, der Auflistungen von Bedrohungen, verpflichtet man sich in dem Papier darauf, eine "Rapid Deployment Capacity", eine schnelle EU-Eingreiftruppe mit 5.000 Streitkräften für die Bewältigung von diversen Krisen aufzustellen.
Geopolitisch konzentriert man sich dabei auf Afrika ("von strategischer Bedeutung für die EU") und den Indo-Pazifik, wo die regelbasierte Ordnung und Lieferketten bedroht seien. Ein Hinweis auf die Dominanz Chinas in der Region.
Die Wende vom "zivil" ausgerichteten Europa zu einer geopolitisch-militärisch operierenden EU bricht dabei mit der "klassisch interdependenten und liberalen Vision der Welt", auf der die EU ihre Politik aufbaut, wie Zaki Laïdi, ein Berater von Josep Borrell, den Wechsel auf den Punkt brachte.
Ist Militarisierung das letzte Wort der EU?
Sicherlich kann man einwenden, dass die EU bisher eher einen Papiertiger darstellt, militärisch betrachtet. Aber der Staatenblock tritt zunehmend als Großmacht auf und forciert dabei die Agenda, Grenzen zu militarisieren und Gelder umzuleiten von sozialen und ökologischen Aufgaben, die den Bürger:innen der EU zugutekommen sollten, hin zu Militärausgaben.
Die Rüstungsindustrie betreibt im Hintergrund zugleich Lobbyarbeit und profitiert von der Neuorientierung. Im Zuge des Ukraine-Kriegs, der Konfrontation mit Russland – unter der Führung der USA und begleitet von einem weitreichenden Sanktionsregime – sowie des Wirtschaftskriegs mit China haben die Hardliner in Europa Oberwasser erhalten – sowohl auf EU-Ebene, in den Mitgliedsstaaten und in der öffentlichen Debatte. Sie treiben den Wechsel immer weiter voran.
Ob dabei die anvisierte "strategische Autonomie" von den USA erreicht wird oder man weiter an der transatlantischen Freundesseite Washingtons agiert, letztlich dienend und untergeordnet, ist am Ende nicht so entscheidend. Wichtiger ist, ob die Militarisierung das letzte Wort der EU ist, womit Europa und die Europäer keineswegs sicherer, sondern unsicherer gemacht werden.