Mein Reich komme: 25 Jahre Tafeln in Deutschland
Seite 2: Das größte Geschenk: Hartz IV
Wenn McKinsey den Anschub besorgte, dann war die Agenda 2010 ein wirkungsvoller Katalysator. Die neue Sozialgesetzgebung war für mich besser, als ich mir wünschen konnte. Mit diesem Reformprogramm wurde endlich ein neuer Typ Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik nach anglo-amerikanischem Vorbild in Deutschland eingeführt. Auch wenn das durchaus kurios begann.
Ich erinnere mich: Die Agenda 2010 war die Idee eines vorbestraften Managers. Peter Hartz wurde zeitgleich zur Einführung der neuen "Instrumente sozialer Demontage" im Rahmen der "VW-Schmiergeldaffäre" wegen Bestechung des Betriebsrates des gleichnamigen Automobilkonzerns verurteilt. Dennoch sind die Gesetze Hartz I bis Hartz IV nach ihm benannt. Für mich spielen solche Randereignisse eigentlich keine große Rolle, ich erwähne es nur der Vollständigkeit halber.
Im Oktober 2004 billigte der Bundestag den Umbau der Bundesanstalt für Arbeit (Hartz III) und die Zusammenlegung der Arbeitslosen- und Sozialhilfe (Hartz IV). Meiner Meinung nach hat keine andere Reform nach dem Zweiten Weltkrieg Deutschland stärker verändert. Der DUDEN, das maßgebliche Lexikon der deutschen Sprache, weist sogar eine entsprechende Verbform aus: hartzen. Seitdem sind Empfänger der neuen Form von Arbeitslosengeld "Hartzer".
"Hartzer" stehen beispielhaft für Menschen, die zu faul sind, einer Tätigkeit nachzugehen. Es stimmt schon: Schlimmer kann ein Generalverdacht nicht sein. Aber mir erleichterte es die Arbeit und brachte mir die lang ersehnte "Kundschaft" ein. Auch wenn die Agenda 2010 bis heute umstritten ist.
Glauben wir Ex-Bundeskanzler Gerhard Schröder, demzufolge es sich um eine "weitreichende Strukturreform" handelte, die dazu beitragen sollte, Deutschland "bis zum Ende des Jahrzehnts wieder an die Spitze bringen"? Oder denen, die davon direkt betroffen sind? Das Land wurde gespalten. Mir ist das egal, denn Hartz IV bewirkte vor allem, dass ich nun endlich gebraucht wurde. Man rief nach mir, man schaute sich in allen Städten nach mir um. Die Tafelgründungen im ganzen Land nahmen immer mehr zu.
Schlagzeile: "Die Münchner Tafel wächst und wächst. Sie kann eine eindrucksvolle Bilanz der Hilfe vorweisen. Jetzt eröffnet der Verein die 26. Verteilstelle"
Stolz konnte ich in der Folgezeit - Jahr für Jahr - Grafiken präsentieren, die scheinbar zeigten, wie sehr ich in diesem Land gebraucht wurde. Genau das war meine Absicht. Je mehr sich dieser Blick einbürgerte, desto seltener schaute irgend jemand genau hin. Was mir natürlich recht war. Sonst hätte man vielleicht entdeckt, dass es weniger die Nachfrage nach den Tafeln war, der diesen Prozess in Gang setzte, sondern vielmehr mein Wille, gebraucht zu werden.
Ich wollte mich selbst ins Spiel bringen und dafür war mir beinahe jedes Mittel recht. Undenkbar für mich wäre es, ernsthaft dazu beizutragen, Armut zu bekämpfen. Dann würde ich mich ja tatsächlich überflüssig machen. Sollen das doch die anderen tun. So lernte ich mit der Zeit, auf einem schmalen Grat zu balancieren. Nicht zu viel Kritik und gerade genug Hilfe, damit alles so läuft, wie bisher. Und das heißt vor allem: gut für mich.
Wir helfen einerseits, Armut zu lindern. Aber wir verändern nichts, wir bekämpfen Armut damit nicht nachhaltig. Die Aktivitäten haben etwas von Pflasterkleben: Das Pflaster ist nötig, aber die Wunde darunter wird niemals heilen. Das Ziel, die Wunde zu heilen, wird verfehlt. Wer sich in der Hartz-IV-Ökonomie engagiert, muss diese zwiespältigen Wirkungen sehen.
Philipp Büttner vom Kirchlichen Dienst in der Arbeitswelt München
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