Milia 97

Newsflash mit französischem Telefonstecker.

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<FONT SIZE=-1 COLOR=grey>Cannes, 21:30, 10.02.97

"We think this changes everything." Dies stellte John Beyer, Vice President Europe von Progressive Networks vor wenigen Stunden auf der Milia in Cannes trocken fest. Er präsentierte im großen Stil zusammen mit George Michael im Carlton Hotel seine neue Video-Streaming-Technologie für das Internet. Die beiden Herren waren gut am Podium sichtbar, die kleinen, unscharfen Video-Fenster auf der Projektionsleinwand dagegen weniger. Die Zuschauer fühlten sich in das letzte Jahrhundert zurückversetzt; eine staunende Menge, die dem langsamen Vorwärtskriechen der ersten Lokomotive über eine Strecke von nur ein paar Metern applaudiert.

Es waren dieses Jahr die Internet-Software-Entwickler, die auf der Milia im Rampenlicht standen. Eigentlich gilt die Milia als die wichtigste Messe für multimediale Inhalte-Anbieter und Verlage in Europa und ist somit stark CD- ROM zentriert. Inhalte verkaufen sich aber lange nicht so gut wie Technologie. Und die meisten Innovationen haben heute etwas mit dem Internet zu tun. Der Konsument, die Verlage, wie auch der Venture Capitalist greifen für Technologie tief in die Tasche. Mit Inhalten läßt sich dagegen immer weniger Geld verdienen, wie man den Konferenzbeiträgen pessimistischer Beobachter entnehmen kann.

Selbst auf der Milia, die nun wirklich keine Computermesse ist, fand daher Technologie die meiste Beachtung. Hier sind vor allem drei Neuvorstellungen zu melden, deren Vertreter allesamt ohne viel Bescheidenheit einen Paradigmawechsel im Internet versprachen. Diese waren neben RealVideo von Progressive Networks, BackWeb von BRM Technologies und WebTV von WebTV Networks. RealVideo ermöglicht das Abspielen von Live-Videosignalen auf 28 kbps Verbindungen, BackWeb das automatische Einblenden von Objekten aus dem Internet und WebTV das Anzeigen von Internet-Seiten auf dem Fernseher durch eine Set-top Box.

Diese Produkte erhöhen die Vielfältigkeit der Useransprache im Internet und stellen zweifellos zusammen betrachtet eine Tendenz von pull zum push dar. Das Internet wird damit nicht gleich seinen Charakter eines unendlichen Informationskiosks verlieren; es war diese Eigenschaft, die das Medium überhaupt erst stark gemacht hat. Es wird aber auf dem Dach unseres Kiosks eine Sendeantenne angebracht.

Interessant ist, daß alle drei Technologien nach wie vor absolut von Inhalten abhängig sind. RealVideo benötigt George Michael, Spike Lee und die BBC, um Videosendungen durch das Internet weltweit auszustrahlen. Die Kunden von BackWeb sind Anbieter aktueller Wetterkarten, Horoskope oder die Personalabteilungen multinationaler Unternehmen. Die Oma wird mit WebTV nur im Internet surfen, wenn es auch für sie dort ein interessantes Angebot findet.

Wer nach einem schweren Tag auf der Milia keine Lust mehr hat über Abhängigkeitsverhältnisse zwischen Technologie- und Inhalte-Anbieter nachzudenken und nicht mal mehr Kraft hat, in den Gassen von Cannes einen Rotwein zu trinken, der kann wenigstens den französischen Telefonstecker im Hotelzimmer bewundern. Dieser ist größer als ein ausgewachsener Daumen und hat sechs gewaltige Metallkontakte, die so aussehen, als könnte man sie direkt in ein französisches Kernkraftwerk stecken.

Niko Waesche