Mit Lichtgeschwindigkeit in den harten Lockdown

Bild: David Dibert/Pexels

Deutschland sollte seinen Status ändern, von Corona-Musterknabe zu Corona-Langsam-Checker. Kommentar

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Hinterher ist man immer schlauer. So haben nun die Verantwortlichen des am 2. November gestarteten Lockdowns für sich die Erkenntnis mitgenommen, dass der Lockdown zu milde wirke, weil er zu "sanft" (Markus Söder) sei. Eine Maßnahme, die die Schließung des gesamten Kultur- und Gastronomiebetriebs bewirkt, als sanft zu bezeichnen, ist zynisch. Doch um solche Feinheiten geht es schon lange nicht mehr.

Eigentlich hätte man sich denken können, dass die Schließung von Stätten mit funktionierenden Hygienekonzepten nur sehr bedingt Infektionszahlen drückt - die Stimmung dafür umso deutlicher. Deshalb soll nun der Maßnahmenhammer kommen. Offenbar hat man nicht gelernt, wie es anders geht. Zeit dafür wäre gewesen.

Ja, nach dem Lockdown ist vor dem Lockdown und wer hätte das schon geahnt, dass es so kommen würde. Hinterher ist man immer schlauer. Aber manche waren vorher schon schlau, es wurde nur nicht auf sie gehört. Hendrik Streeck zum Beispiel, der Ende Oktober in einem Positionspapier vor einer Abfolge von Lockdowns als Langzeitstrategie gewarnt hat, gemeinsam mit Jonas Schmidt-Chanasit und der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) (Lockdown 2.0 und das Versagen der Politik).

In dem Papier wurde u.a. ein besserer Schutz der Risikogruppen gefordert. Nun wird Streeck wegen seiner Kritik der aktuellen Strategie von vielen Seiten diffamiert wie ein Krimineller. Unter #SterbenmitStreeck wird ihm vorgeworfen, Corona-Tote hinzunehmen. Fakt ist jedoch, dass es nicht Streeck ist, der die deutschen Corona-Toten auf dem Gewissen hat, ganz im Gegenteil: Hätte man auf ihn gehört und die Risikogruppen besser geschützt, sähen die Zahlen heute vielleicht anders aus.

In einem Interview mit dem Spiegel forderte Streeck Mitte November einen besseren Schutz der Pflegeeinrichtungen und besondere Angebote für Risikogruppen.

Besucher sollten nur mit negativem Antigen-Schnelltest Zutritt bekommen. Auch das Personal muss regelmäßig getestet werden. Zudem sollten möglichst alle - also Besucher und Personal - FFP2-Masken bekommen….

Denkbar wären kommunal organisierte Nachbarschaftshilfen, von der Krankenkasse bezahlte FFP2-Masken, organisierte Fahrten, um öffentliche Verkehrsmittel zu vermeiden, eine bevorzugte Testung von Kontaktpersonen, um Besuche möglichst risikoarm zu ermöglichen.

Hendrik Streeck

Am Beispiel Tübingen zeigt sich, wie so etwas umgesetzt werden kann. In einem Gastbeitrag für Die Welt und einem Interview mit dem Tagesspiegel schildert Tübingens Oberbürgermeister und Mitglied der Grünen, Boris Palmer, den Erfolg seines Sonderwegs.

Wir haben uns zum Ziel gesetzt, die Älteren besonders zu schützen, weil für sie die Gefahr durch Corona mit Abstand am höchsten ist. Deswegen haben wir im September damit begonnen, das Personal in den Altenheimen regelmäßig zu testen. Im Oktober haben wir Schnelltests gekauft, seither werden Besucher und Bewohner regelmäßig getestet.

So ist es uns gelungen, das Eindringen des Virus in die Alten- und Pflegeheime in unserer Stadt bisher vollständig zu verhindern. Wir haben insgesamt eine niedrige Sieben-Tage-Inzidenz, die letzten drei Wochen lag die um die 100 Fälle pro 100.000 Einwohner. Bei den über 75-Jährigen haben wir zuletzt überhaupt keine Fälle mehr gehabt. Deshalb hat auch unsere Uni-Klinik nur sehr wenige Corona-Patienten.

Boris Palmer, Tagesspiegel

Schon seit April gibt es in Tübingen ein Seniorentaxi, das zum Bustarif fährt und alle über 60-Jährigen alleine zur Arztpraxis oder zum Supermarkt bringt. Im November haben wir dazu aufgerufen, das Zeitfenster von neun bis elf Uhr den Angehörigen der Risikogruppe zum Einkaufen zu überlassen….Die Strategie der Kanzlerin und ihrer Berater hat also für die Gesamtbevölkerung keinen sichtbaren Nutzen erbracht, weil die Zahlen nicht gesenkt werden konnten. Für diejenigen, die unseres Schutzes am meisten bedürfen, ist sie sogar gescheitert, denn gerade hier sind die Zahlen drastisch gestiegen….Die viel beschworene Achtung vor dem Leben und der Respekt vor den Älteren findet sich in den Tübinger Daten eher als in denen des Bundes.

Boris Palmer, Die Welt

Immerhin: Gestern hat Jens Spahn Masken Coupons für kostenlose FFP-2-Masken für Risikogruppen angekündigt. Die Bundesregierung muss ihren Status ändern: von Corona-Musterknabe zu Corona-Langsam-Checker.

Was die Kompetenz und vor allem Verlässlichkeit in der öffentlichen Kommunikation angeht, ging es von "Masken sind nicht wirksam" bis zu "Masken sind so wirksam wie eine Impfung" (Quelle für beides: Robert Koch Institut). Es ging von "Schulschließungen und Lockdowns unbedingt vermeiden" bis zu "Schulschließungen und Lockdowns sind unumgänglich" (Quelle für beides: "Gesundheitsexperte" Karl Lauterbach).

Die fehlende Digitalisierung, die fehlende Ausstattung der Gesundheitsämter, die fehlende Demut, Wissenslücken zuzugeben, der fehlende Mut, diese Lücken schnell zu schließen, kamen hinzu. Von fehlender Priorisierung ganz zu schweigen, siehe die Staatskrise wegen eines knappen Euros Gebührengeld in einem stark betroffenen Bundesland.

Tagesspiegel

In einer emotionalen Rede hat Angela Merkel heute einen harten Lockdown gefordert. Sie hat Glühweinstände als potenzielle Todesbringer identifiziert. Und sie hat den Geist der Aufklärung angerufen. "Man kann vieles außer Kraft setzen, aber die Schwerkraft und die Lichtgeschwindigkeit nicht." Im Sinne dieses Geistes wäre ein wenig mehr Aufklärung darüber, wie welche Maßnahmen wann wirken wünschenswert. Das würde deren Akzeptanz sicherlich erhöhen.